Donnerstag, 17. Juni 2010

"Herdenfutter": Wie es weitergeht

Liebe Gemeinde Marburg, liebe Leserinnen und Leser der Predigten und Bibelstudien,
weil mein Gemeindepastorendienst in Marburg nun zu Ende geht, werde ich von nun an nicht mehr regelmäßig sonntags predigen. Diese Seite wird also nur noch selten neue Beiträge bekommen.
Aber ich höre ja nicht auf, Bibel zu lesen und nach Gottes Reich zu fragen. Was mich dabei bewegt, notiere ich ab und zu in meinem „Wetter-Bericht“. Hier finden „Herdenfutter“-Leser Neues - ab August regelmäßiger.
Wenn ich einen neuen Beitrag bei „Herdenfutter“ einstelle, werde ich darauf auch im „Wetter-Bericht“ hinweisen.
Nun hoffe ich, dass die bisherigen Predigten in Ihrem Leben Resonanz gefunden haben. Wie war das bei Ihnen? Haben Sie Gott beim Lesen in den letzten Monaten reden gehört? Hat sich in Ihrem Leben etwas geändert?

Montag, 14. Juni 2010

Predigt: „Einander abgeben“

Predigt über Apg 20,32
Liebe Gemeinde,
ich habe viele Wegbegleiter. In den letzten acht Jahren hier in Marburg gab es sie, aber natürlich auch solche, die mich schon länger begleiten. Einer dieser ganz langen Wegbegleiter ist die Apostelgeschichte aus der Bibel. Es hat mich nicht überrascht, dass ich hier etwas gefunden habe, das meine Gedanken und Gefühle ausdrückt, wenn ich ans Abschiednehmen denke. Es gibt dort den Bericht über einen Prediger, der Abschied nimmt von denen, die er bisher begleitet hat. Ihre gemeinsame Zeit ist zu Ende gegangen. Der Prediger sucht ein letztes Mal den Kontakt, er spricht zu den Gemeindeverantwortlichen und er macht dabei etwas, das ich sehr passend und wichtig finde: Er gibt die ihm bisher anvertrauten Menschen an Gott ab. Und sie, so nehme ich an, geben ihn auch an Gott ab. Das ist eine sehr tiefe und schöne Form des Abschiednehmens.
Einen Satz aus den Abschiedsworten dieses Predigers – es ist Paulus – möchte ich heute aufgreifen.

Und nun vertraue ich euch Gott und dem Wort seiner Gnade an, das die Kraft hat, aufzubauen und das Erbe in der Gemeinschaft der Geheiligten zu verleihen. Apg 20,32

Paulus hat die Gemeindeältesten aus Ephesus zu sich gerufen. Das war eine Gemeinde, wo er einige Jahre sehr intensiv gelebt und gearbeitet hatte. Er hat viel an Lehre hinterlassen und auch manchen Kampf zusammen mit der Gemeinde für das Evangelium auszufechten gehabt. Nun geht es weiter. Aber wie geht es weiter? Paulus kennt sein nächstes Reiseziel. Wie aber wir es ihm dort ergehen? Und wie geht es mit der Gemeinde Ephesus weiter? Keiner weiß es. Deshalb ist die Art, wie Paulus Abschied nimmt, so passend, so sachgemäß. Er gibt sie an Gott ab. „Und nun vertraue ich euch Gott und dem Wort seiner Gnade an.“ Er kann loslassen, weil Gott weiter festhalten wird. Wenn Christen einander an Gott abgeben, dann gehen sie also nicht einfach auseinander. Sie lassen den jeweils anderen nicht einfach los und der wäre dann mit sich selbst allein. Christen wissen, wohin sie einander abgeben und in wessen Namen sie einander verabschieden und sie wissen auch, wer darüber wacht, was der gemeinsame Weg an Ertrag gebracht haben mag.
Ich möchte diesen Abschiedssatz von Paulus noch etwas genauer mit euch anschauen und möchte auf vier Dinge aufmerksam machen.

1. Gottes Wort hat bleibende Kraft
„Ich vertraue euch Gott an und dem Wort seiner Gnade, das die Kraft hat.“ Gott ist mächtig und auch Gottes Wort steckt voller Kraft. Gottes Wort ist ganz nah an Gott selber. Gott ist größer als sein Wort. Der unendlich mächtige und grenzenlos liebende Gott spricht nicht alle seine Geheimnisse aus. Er ist größer und passt schon gar nicht zwischen zwei Buchdeckel. Aber dennoch ist sein Wort – das, was er sagt – ganz nahe an seinem Wesen dran. Er hat viel Herzblut in sein Wort gelegt. Gott und sein Wort stehen sogar so nahe zusammen, dass man gar nicht genau weiß, wie man den Satz von Paulus richtig verstehen soll. Entweder meint Paulus: Gott hat die Kraft, euch aufzubauen. Oder er will sagen: Gottes Wort hat die Kraft, euch aufzubauen. Ja wer denn nun – Gott oder sein Wort? Es hat vielleicht seinen tieferen Sinn, dass man den Satz auf beiderlei Weise übersetzen kann. Gottes Wort nimmt Teil an Gottes Kraft! Gott handelt oft gerade durch sein Wort. Gott schafft Neues, indem er spricht. Gottes Wort nimmt Teil an Gottes Kraft.

Wir haben also allen Anlass, uns viel von Gottes Wort zu versprechen. Denn das ist ja die bleibende Kraft, wenn Wege auseinandergehen. Paulus macht es später noch konkreter. Er sagt, er habe sein Leben geführt „in der Erinnerung an die Worte Jesu“. Das gibt er nun auch seiner Gemeinde mit. Erinnert euch an die Worte von Jesus. Geht damit um, was Jesus gesagt hat. Wir finden das in der Bibel. Also steckt zwischen diesen zwei Buchdeckeln doch sehr viel Energie! Wann immer ihr zusammen seid und euch mit wichtigen Fragern befasst:“Wie soll ich mich entscheiden, wenn ich auf meine Kinder reagieren muss? Wie teile ich mir mein Geld ein? Wie komme ich klar, wenn Sorgen mich überfluten?“ – wann immer ihr zusammen seid und euch mit solchen Fragen befasst: Bringt Gottes Wort ins Gespräch! Erinnert euch daran, was Jesus gesagt hat. Hat er denn nicht auch dazu etwas gesagt? Hm, was hat er denn gesagt? Mal nachlesen. Mal suchen und entdecken, wie seine Worte in meine Frage passen. Erinnert euch und kramt nach, was er denn wirklich gesagt hat. Mein Tipp dabei wäre: Verlasst euch dabei nicht zu sehr auf die Erinnerung, nicht zu sehr aufs Gedächtnis. Denn in der Erinnerung verändert sich mit der Zeit viel, auch die Worte Jesu. Besser ist nachlesen. Denn in der Bibel steht Gottes Wort und das ist voller Kraft.
Vor ca. 20 Jahren hat der Bibelausleger Adolf Pohl einen Ausdruck geprägt, der seitdem immer wieder zitiert wurde. Er sprach von einer „mutwilligem Bibelunkenntnis“. Damit meinte er nicht die Gesellschaft, sondern unsere Gemeinden! Im Laufe der 20 Jahre seitdem ist die Sache sicher nicht besser geworden. Liebe Gemeinde, meine dringende Bitte ist: Unterschätzt die Bibel nicht! Geratet nicht in die Versuchung zu meinen: „Das haben wir doch schon tausendmal gehört und wir wissen ja ungefähr, was drinsteht. Gehen wir lieber den nächsten Schritt, der Worte sind genug gewechselt, jetzt wollten wir Taten sehen.“ Nein, ungefähr ahnen, was in der Bibel drinsteht, reicht oft nicht. Unser Gedächtnis spielt uns oft einen Streich. Bitte lest wieder und wieder nach – und dann bringt die Bibel ins Gespräch. Scheut euch nicht zu fragen: Was hat Jesus denn zu unserem heutigen Mittagstisch-Thema gesagt?
Paulus vertraut seine Gemeindemitarbeiter Gottes Wort an, an Gottes Wort gibt er sie ab. Warum? Weil darin Kraft liegt.

Paulus gibt uns noch eine genauere Beschreibung, wie er Gottes Wort sieht. Was er darin zu finden erwartet.

2. Das Wort der Gnade
Wenn Gott redet, dann spricht er Erbarmen aus. Gottes Wort ist das Wort der Gnade. Der Begnadigung. Barmherzigkeit. Compassion.

Worte der Gnade höre ich manchmal auch, z. B. wenn ich nach Hause komme. „Schön, dass du da bist.“ Oder: „Wie war dein Tag?“ Das ist eigentlich der Normalfall. Ich höre aber beim Nachhausekommen nicht immer Worte der Gnade. Manchmal kommt als erstes die Nachricht: Die Waschmaschine ist ausgelaufen. Oder: Bring mal gleich die Einkäufe mit rein. Oder ich platze in ein Wortgefecht, das gerade stattfindet. Oder ich höre – und zwar zu Recht und weil ich’s mal wieder vergeigt habe: „Na, wo bleibst du denn? Du wolltest doch eher da sein.“ Meine Leute zu Hause sind weit entfernt davon, unbarmherzig zu sein. Ich weiß fest, wie lieb sie mich haben, aber wie das Leben so spielt, ist nicht jedes Mal die Zeit für Worte der Gnade ...
Bei Gott muss niemand erst mal schnuppern, wie grad die Stimmung ist. Wenn Gott uns anspricht, dann zuverlässig aus tiefer Barmherzigkeit.

Und alles, was wir als Christen einzeln und miteinander erleben und zu gestalten versuchen, ist doch eine Verbindung mit Gottes Erbarmen. Wenn wir einen Kranken besuchen, möchten wir ihn in Kontakt mit Gottes Barmherzigkeit bringen. Wenn wir einander Fahrdienste geben, einer holt den anderen ab, dann passiert das, um Gottes Barmherzigkeit weiterzugeben. Wenn wir für jemanden beten oder wenn wir Gottes Wort ausgelegt bekommen oder was auch immer noch in unserem Gemeindeleben stattfindet – eigentlich hat jede Regung das Ziel: Gottes Gnade soll sich entfalten. Wir als Gemeinde leben in dieser Stadt, um für das Evangelium zu stehen – für Gottes Barmherzigkeit. Gemeinde ist der Umschlaghafen für Gottes Gnade.
Wenn wir aber dazu da sind, Gottes Wort weiterzugeben, das Wort der Gnade, dann können wir das ja nur auf eine Weise tun, die selbst von Gnade geprägt ist. Gottes Güte nach außen tragen geht nur, wenn wir auch innen miteinander gütig sind. Der Lungenchirurg ist unglaubwürdig, der selbst 30 Zigaretten am Tag raucht. Es taugt keiner zum Eheberater, der selbst nach Feierabend heimlich ins Pornokino geht statt nach Hause zur Frau. Genauso absurd wäre es, wenn wir als Gemeinde von Gottes Gnade reden wollen, aber dabei unbarmherzig miteinander sind.

Wenn Gott redet, atmet das Erbarmen. Ebenso soll es unter uns sein. Unser Umgang soll Erbarmen atmen – sonst haben wir mit dem Evangelium nicht mehr viel zu tun.
Gibt es denn wirklich unverzeihliche Fehler unter uns? Sollte bei uns etwas unverzeihlich sein, wenn Gott uns doch vergeben hat und noch und noch vergibt?
Bei Kindern können wir manchmal beobachten, wie sie niesen müssen und das strahlend einem direkt ins Gesicht tun. (Bei Erwachsenen kann das auch vorkommen, aber seltener ...) Wir rennen dann schreiend weg – Krankheit steckt an. Bazillen verbreiten sich rapide. Leider ist das mit der Gesundheit nicht so. Ansteckende Gesundheit gibt es nicht. Aber ansteckende Barmherzigkeit? Funktioniert das Ansteckungsprinzip bei der Barmherzigkeit vielleicht doch? Ich möchte euch anstiften, das einfach auszuprobieren! Niest einander mal eure Barmherzigkeit ins Gesicht. Oder besser: Strahlt einander eure Barmherzigkeit ins Gesicht. Testet, was dann passiert. Ob sich diese Antikrankheit nicht doch ausbreitet. Versucht es mal mit ansteckender Güte. Und warum nicht am nächsten Sonntag hier berichten, ob es geklappt hat? Wenn Gott redet, spricht er Barmherzigkeit aus. Worte der Gnade. Das könnten wir ihm doch ein wenig nachmachen!

Paulus vertraut seine Gemeinde dem Wort von Gottes Gnade an. Dieses Wort möge sie packen und durchdringen. Dieses Wort soll sein Werk in der Gemeinde tun. Das Wort der Barmherzigkeit ist für jeden Meter des Weges der Gemeinde wichtig, für jeden einzelnen Meter. Aber am Abschied ist es besonders wichtig. Was gäbe es besseres, als zum Schluss sich gegenseitig in Gottes Gnade zu entlassen?

Das Wort der Gnade hat Kraft. Es ist energiegeladen. Welche Kraft ist das? Was bewirkt diese Kraft?
„Und nun vertraue ich euch Gott und dem Wort seiner Gnade an, das die Kraft hat, aufzubauen.“ Gottes Wort baut auf.

3. Gottes Wort baut auf.
Am Anfang dieses Gottesdienstes haben wir gehört und gefeiert, dass Gott uns aufrichtet. Die Armen, die Elenden, jeden von uns, der das braucht. Gott zieht uns hoch, er baut uns auf.
Und wieder nimmt Gottes Wort Teil an Gottes Werk. Auch Gottes Wort baut auf. Paulus verwendet hier ein Wort, das eigentlich Hausbau bedeutet. Gottes Wort baut ein Haus. Es baut uns als Gemeinde auf – wie ein Haus. Gott ist der Konstrukteur und sein Wort ist konstruktiv.

In der Bibel stehen diese beiden Ausdrücke oft zusammen: Gemeinde und aufbauen. Gemeinde lebt geradezu, indem sie sich aufbaut. Und die Sprache der Bibel ist da bemerkenswert. Sie redet wirklich so, dass Gemeinde sich selbst aufbaut durch Gottes Energie. Gemeinde wird nicht aufgebaut, es sind nicht einzelne Menschen, die bauen, und denen stünde eine Gemeinde gegenüber, die von den Wenigen aufgebaut wird. Die Aktiven bauen und die anderen lassen das an sich geschehen – nein, so gerade nicht. Paulus kann an einer Stelle geradezu vom „Selbstaufbau der Gemeinde in Liebe“ sprechen (Eph 4,16).
Jetzt, beim Abschiednehmen, sagt Paulus den Gemeindeältesten Ähnliches. „Ich vertraue euch Gott und dem Wort seiner Gnade an, das die Kraft hat, aufzubauen.“ Oder Gott an, der die Kraft hat aufzubauen. Das ist also zunächst den Verantwortlichen gesagt. Gott baut euch auf, indem er mit euch spricht. Ihr Mitarbeiter, Gott ist an der Architektur eures Lebens gelegen, dass sie stabil und tragfähig ist.
Aber dann geht der Aufbau ja weiter in die Gemeinde hinein. Wie sieht das dann aus? Die Ältesten, die Gott aufgebaut hat, die bauen dann die Gemeinde auf? Vom Sprachgebrauch des Paulus her kommt das nicht in Frage. Sondern die Gemeinde selbst erlebt Aufbau. Wenn Gottes Lebensenergie in ihr wirkt, dann baut sie sich in Gottes Kraft selbst auf (vgl. auch Apg 9,31, LÜ).

Wir müssen in der Gemeinde also die richtigen Fragen stellen. Die richtige Frage ist nicht: „Wer baut uns denn auf?“ Es ist sehr gut, dass es einzelne Verantwortungsträger gibt, die sich reinhängen und konstruktiv, d.h. ja aufbauend sind. Deshalb noch einmal ein dankbares Willkommen hier heute morgen, G. H.! Und was E. G. leistet gerade auch in der Übergangszeit, ist ... ich möchte fast sagen: unersetzlich. Das hat ausdrücklich meine große Wertschätzung und ja nicht nur meine. Aber ... die richtige Frage in der Gemeinde ist trotzdem nicht: „Wer baut uns auf?“ Sondern diese: „Wie bauen wir uns auf?“ Und wie bin ich einzelner daran beteiligt?
Natürlich macht jeder was anderes und auch jeder unterschiedlich viel Viele Betagte haben ihre Beiträge längst früher geleistet und jetzt haben sie nicht mehr die Aufgabe, die Ärmel aufzukrempeln, sondern nur noch die, ansteckende Barmherzigkeit auszustrahlen. Jeder macht verscheiden viel. Aber Gemeinde ist nicht die, die von einzelnen hochgezogen wird. Sondern Gottes Kraft befähigt die Gemeinde, dass sie sich in Liebe selbst auferbaut.

In unserem Alltag gibt finden wir Gebäude, das sich selbst aufbaut. Das müssen schon die Bauarbeiter machen. Aber unser Körper ist ein Beispiel. Der wächst selbst, der baut sich selbst auf. Und zwar hat er ja verschiedene Wachstumsphasen. Nach der Geburt wächst so ungefähr alles, aber die Muskel wachsen schneller als der Rest. Und die Haare! Viele Babys sind glatzköpfig, aber bald wachsen die Haare. Später kommen andere Wachstumsphasen. Die Schädelplatten wachsen zusammen. Das Gehirn verschaltet sich. In der Pubertät bilden sich die Merkmale eines Erwachsenen aus. Und der ganze Körper wächst in die Länge. In vorgerücktem Alter dann wachsen vor allen die Speckringe um den Bauch. Auch diese Wachstumsphase kann länger anhalten. Noch später wachsen die Kalkablagerungen in den Gelenken .... Also: Der Körper baut sich auf, aber nicht alle Zellen wachsen zu jeder Zeit gleichmäßig. Jeder Wachstumsbereich hat seine Zeit und seinen Platz.
Du und deine Gemeinde: An welchem Ort, zu welcher Zeit bist du eine Wachstumszelle? An welcher Stelle macht dein Wachstumsbeitrag die Gemeinde stark? Bist du eher bei den Sinnesorganen dabei oder den Muskeln? Eine Hirnzelle? Schützende Haut? Ein inneres Organ? Irgendwann jedenfalls ist auch deine Zeit gekommen und die Wachstumsphase, die dann dran ist, baut auch auf dir auf.
Ohne Bild gesagt: Die Gemeinde wird nicht von einzelnen gebaut, sondern baut sich in Gottes Kraft selbst auf. Also stellt bitte die richtige Frage. Nicht: Wer baut uns denn jetzt auf? Sondern: Wie bauen wir uns jetzt auf?

Gott und sein Wort haben diese konstruktive Kraft. Aufbau. Und ein Letztes bewirkt Gott noch durch sein Wort und seine Kraft. Paulus fügt diesen Hinweis an.
„Ich vertraue euch Gott und dem Wort seiner Gnade an, das die Kraft hat, das Erbe in der Gemeinschaft der Geheiligten zu verleihen.“
Gott gibt am Ende das große Erbe.

4. Gott gibt am Ende alles.
Das Erbe in der Gemeinschaft der Geheiligten. Da wüsste man gerne, was das ist und wie das aussieht. Paulus gibt keine weiteren Einblicke. Aber eins ist klar: Das Erbe kommt am Ende. Das große Ganze kommt zum Schluss. Und das heißt: jetzt noch nicht. Jetzt ist alles, was wir sehen und glauben, alles was wir tun und versuchen – jetzt ist alles unvollständig. Es kann auch gar nicht anders sein. Denn nicht wir machen alles neu. Gott macht alles neu. Wir leben nicht im Letzten, sondern im Vorletzten. Das ist kein Betriebsunfall in Gottes Heilsgeschichte, sondern das ist gerade sein Plan. Die vorletzte Zeit ist unsere Platzanweisung.
Diese Platzanweisung ist total wichtig für uns. Für unseren Umgang miteinander. Unser Umgang miteinander ist ja sehr davon geprägt, was wir voneinander erwarten. Von meiner Frau erwarte ich lebenslange Treue. Also gehe ich auch entsprechend mit ihr um. Und wäre dementsprechend enttäuscht und verletzt, wenn sie nicht treu wäre. Von meinem Paketboten erwarte ich keine lebenslange Treue. Da darf gern auch mal ein anderer Zusteller kommen. Und ich bin auch nicht enttäuscht und schon gar nicht verletzt, wenn das passiert. Zu einem anderen Boten bin ich dann auch freundlich. – Unser Umgang miteinander ist davon geprägt, was wir voneinander erwarten.
Wir müssen in der Gemeinde das Richtige voneinander erwarten. Und da ist es eben wichtig, dass wir im Vorletzten leben und nicht im Letzten. Das große Ganze kommt erst noch. Wir dürfen es nicht schon jetzt voneinander erwarten. Jetzt werden wir unvollkommen bleiben. Wir machen Fehler aneinander und werden das auch weiterhin tun. Wir werden schuldig aneinander. Wir werden immer wieder etwas versäumen. Wir können einander das letzte Glück nicht geben. Im Leben unserer Gemeinde werden wir immer wieder nur halbe Sachen fertigbekommen, selbst dann, wenn wir mit ganzem Herzen rangehen.
Es wäre verkehrt, dann enttäuscht zu sein. Dann hätten wir zu viel erwartet: Vollendung erwartet, die jetzt noch nicht versprochen ist. Je tiefer wir unsre Platzanweisung begreifen – wir leben im Vorletzten und nicht im Letzten – je tiefer wir das begreifen, desto barmherziger werden wir miteinander sein können. Desto eher werden wir hinnehmen, wenn jemand nicht perfekt ist oder perfekt arbeitet. Je klarer wir unseren Platz hier sehen, desto eher werden wir bereit zum Vergeben sein. Denn in dieser Zeit, bevor das große Ganze von Gott gekommen ist, kommen wir ohne Vergebung nicht aus. Paulus erinnert an das Erbe, das erst noch kommt, gerade in seiner Abschiedssituation. Gerade wenn Wege auseinandergehen, ist Barmherzigkeit und Vergebung lebenswichtig. Dass wir einander zugestehen: Wir sind unvollkommen. Wir haben manchmal nur Halbes zustande gekriegt. Aber wenn dieses Halbe aus aufrichtigem Herzen kam und manchmal sogar aus ganzer Hingabe, dann war dieses Halbe genug. Genug zumindest im Vergleich zur Ewigkeit. Das große Ganze kommt erst noch, und wenn es kommt, dann bestimmt nicht von uns. In diesem Abschiedswort von Paulus an seine Gemeindemitarbeiter von Ephesus ist der Same der Barmherzigkeit gesät.

„Und nun vertraue ich euch Gott und dem Wort seiner Gnade an, das die Kraft hat, aufzubauen und das Erbe in der Gemeinschaft der Geheiligten zu verleihen.“ Vier Dinge haben wir heute über dieses Abschiedwort gehört:
Gottes Wort hat bleibende Kraft. Um die anzuzapfen, muss man es lesen. Und mutig ins Gespräch bringen.
Gottes Wort ist das Wort der Gnade. Gottes Wesen atmet Barmherzigkeit. Das soll ihm einer mal nachmachen! Jawohl, das können wir ihm nachmachen. Der Versuch allein zählt schon. Testen wir es!
Das Wort baut auf. So dass die Gemeinde sich aufbaut. Sich selbst aufbaut, alle sind beteiligt.
Gott gibt am Ende alles. Dann erst. Jetzt bleibt vieles bruchstückhaft. Schenken wir uns doch gegenseitig die Barmherzigkeit, das anzuerkennen.

Paulus nimmt Abschied. Er zeigt uns die beste Weise, Abschied zu nehmen, die es gibt: sich gegenseitig Gott anvertrauen und seinem Wort. Sich gegenseitig in Gottes Barmherzigkeit zu entlassen. Sich auch im Abschied miteinander Gott auszusetzen, wie er mit uns redet. Und was er redet, ist klar angesagt: Worte der Gnade.
Amen.

Donnerstag, 10. Juni 2010

Predigt: „Erlösung aus der negativen Gedankenspirale“

Predigt über Psalm 73
Liebe Gemeinde,
die Welt ist ungerecht – ist es nicht so?
In der Öffentlichkeit darf man nicht mehr rauchen, auf keinem Bahnsteig mehr, und Raucher sterben durchschnittlich früher. So ist das. Aber der frühere Bundeskanzler Helmut Schmidt ist über 90, raucht wie ein Schlot und darf das auch noch in der Öffentlichkeit, sogar im Fernsehen! Zweierlei Maß ist das doch. Niemand wünscht ihm was Schlechtes, aber wieso wird ein Kettenraucher 90?
Und es gibt noch schlimmere Beispiele. Der Diktator von Simbabwe, Robert Mugabe (man kann ihn gar nicht in einem Atemzug mit Helmut Schmidt nennen!), hat sein Land in den Ruin getrieben, es völlig abgewirtschaftet, lässt Gegner brutal ermorden, vertrieb Hunderttausende Bewohner aus ihren Hütten; 2008 kostete ein Ei zehn Millionen Simbabwe-Dollar. Und als er sich wiederwählen lassen wollte, sagte er doch: „Nur Gott, der mich ernannt hat, wird mich abwählen können.“ Da hat er buchstäblich sein Maul in den Himmel gehängt! Als ich diesen Satz von ihm in der Zeitung las, muss ich sagen, da dachte ich: „So, Gott, die Herausforderung hast du gehört – jetzt raffe ihn auch schleunigst dahin!“ Hat Gott aber nicht gemacht. Mugabe ist immer noch da.
Die Welt ist nicht gerecht und Gott, selbst wenn man ihn ins Gesicht herausfordert, schafft auch nicht immer sofort Gerechtigkeit. Das erleben wir im Großen wie auch im eigenen Leben. Wer hätte nicht schon geseufzt über andere, denen es so unverschämt gut geht?

Was passiert mit uns, wenn man uns ungerecht behandelt? Wenn andere auf unsere Kosten Vorteile einheimsen? Mir geht es dann so, dass ich in innere Gerichtsverhandlungen eintrete. Ich formuliere Argumente, ich klage andere an und rechtfertige mich – alles in Gedanken. Der Gerichtshof spielt sich in meinem Kopf ab. Kennt ihr das auch?
Und was ändert sich dadurch? Viel ändert sich. Ich bin angestrengt. Ich wende enorm viel Energie auf für meine Gedanken. Es ist geradezu ein Spiralnebel an Gedanken und sie saugen mich auf. Ich werde unzufrieden und blockiert. Das alles ändert sich. Bloß die äußeren Umstände, die ändern sich nicht. Nicht so.
Ich bin neulich einem Psalm begegnet, der mich geradezu mitgenommen hat auf einen Weg – ein Weg raus aus der Spirale. Derjenige, der diesen Psalm gebetet und aufgeschrieben hat, der war völlig fassungslos und aufgewühlt, weil es ihm schlecht ging und denen gut, die Gott nicht kennen. Der Beter hat sich aufgerieben daran. Bis er die Lösung, die Erlösung gefunden hat. Hören wir auf den 73. Psalm:

Lesen Sie den Psalm hier.

1. Das innere Gespräch
Es fing damit an, dass der Beter sich die anderen angesehen hat. Die, die nicht an Gott glauben – die sich jedenfalls nicht um ihn kümmern. Und er hat gesehen: Wie vielen von denen geht es gut! Sie schwimmen im Wohlstand. Sie strotzen vor Gesundheit. Sie haben keine Sorgen. So hat der Beter sie gesehen. War das wirklich mit allen Gottlosen so? Reihenweise, ohne Ausnahme, schweben sie im Glück? Dem Beter kam es jedenfalls so vor. Er hat ja keine Reportage geschrieben, keine Statistik geführt, sondern aus seiner Sicht die Welt betrachtet.
Das Schlimme daran war: Die Gottlosen waren auch noch stolz darauf. Lauthals riefen sie aus, dass Gott sich ja um nichts kümmert. Sie selbst haben sich an seine Stelle gesetzt. „Sie reißen ihr Maul auf bis an den Himmel, und ihre Zunge hat auf Erden freien Lauf.“ Da fällt einem wirklich Diktator Mugabe wieder ein. Und der Beter kann die Angeber ja nicht wiederlegen. Er kann ja gerade nicht sagen: Aber Gott legt euch doch mal das Handwerk. Denn Gott lässt sie gewähren. Nicht einmal am Lebensende kommt ein Ausgleich. „Sie leiden keine Qualen bis zu ihrem Tod.“ Sie haben ein schönes Sterben!
Ich glaube, die meisten von uns haben schon mal so gedacht. Haben die Welt schon mal so gesehen. Zu Recht: Es ist ja auch so. Wer an Gott glaubt, kann dennoch keine anderen Tatsachen ins Feld führen.

Der Beter sieht sich aber nicht nur die Welt drumherum an. Er blickt auch auf sich selbst. Und da wird er nur noch unzufriedener. „Ich leide jeden Tag Mühe“, muss er feststellen. „Ich habe auf mein Herz geachtet, dass es aufrichtig bleibt, rein – aber umsonst. Es hat nichts genützt.“ So sieht er sich und sein Leben. Um ein Haar wäre er sogar abgestürzt – hätte sich entschieden, ebenso zu leben und zu reden und zu denken wie die überheblichen Gottlosen. „Hätte ich gesagt: So will auch ich reden, dann ...“ Beinahe hätte er es gesagt. Der Beter stand kurz davor, zu ihrer Seite überzuwechseln.

Liebe Gemeinde, der halbe Psalm geht so – arbeitet sich mit diesen Gedanken ab. Der halbe Psalm lang! Und dabei ist eins auffällig: nicht das Thema – nicht dass ein Beter sich so lange mit dem Negativen beschäftigt. Das Negative ist nun mal um uns, wir können es nicht abschütteln, also braucht es auch Raum in unseren Gedanken. Aber auffällig ist dies: In all seinen Gedanken redet der Beter gar nicht Gott an. Er bleibt bei sich selbst. Er verhandelt es mit sich selbst. Den halben Psalm! Es ist wirklich wie so ein innerer Gerichtshof. Rund und rund gehen die Argumente: „Die da – aber ich habe doch – und die machen trotzdem – und es nützt nichts, dass ich ...“ Es ist fast ein Selbstgespräch. Das macht auf Dauer kaputt. Nicht das Thema. Nicht das Negative an sich. Aber dass man damit bei sich selbst bleibt. Ein Spiralnebel, der in sich kreist, der alles in sich zusammenzieht und dabei die Sicht mehr und mehr vernebelt. So wird man nicht frei.
Der Beter unseres Psalms aber wurde schließlich frei – er wurde erlöst aus seinem Spiralnebel. Sonst wäre sein Psalm womöglich gar nicht in der Bibel, wenn er nur aus dieser ersten Hälfte bestünde. Wie kam das? Wie wurde er frei?

2. Die Wende

Da sann ich nach, es zu verstehen,
Qual war es in meinen Augen,
bis ich zum Heiligtum Gottes kam ...


Bis ich zu Gott kam, in seine Gegenwart. Endlich! Endlich ist er raus aus der Spirale, ist geöffnet, ist nicht mehr bei sich allein. An den Tatsachen hat sich gar nichts geändert. Aber der Beter kommt wieder zu Luft. Jetzt erst betet er wirklich – redet mit Gott. Und ab diesem Satz ist sein Psalm eine Du-Anrede zu Gott hin. Vorher hieß es nur: Die da – und ich. Jetzt aber sagt der Beter „du“ zu Gott. Das ist der Umschwung: vom „Der-da“ zum „Du“. Endlich.
„Bis ich zum Heiligtum Gottes kam“ – das war für den Beter damals vermutlich der Tempel. Der Gottesdienst dort oder sein persönliches Gebet. Was ist heute für uns das Heiligtum Gottes? Was ist dein Heiligtum? Wie können wir solche Befreiung erleben, offen werden, erlöst aus dem Spiralnebel der negativen Gedanken?

Es ist nicht immer die Gemeinde, die hilft. Das kann zwar so sein – ich denke an meine Glaubensgeschwister und erinnere mich: Gott war treu zu denen – also wird er doch auch zu mir treu sein. Oder ich merke: Wenn ich Gott wirklich den Laufpass gäbe und abstürzen würde in die Denkweise der Gottlosen, dann würde ich viele aus der Gemeinde mit runterziehen. So hat es der Psalmbeter erlebt: „Hätte ich gesagt: So will auch ich reden, dann hätte ich die Generation deiner Söhne verraten.“ Er hätte der Gemeinde Gottes geschadet. Der Blick auf die Gemeinde kann also helfen, er kann vor Abstürzen bewahren. Wer in der Gemeinde lebt, hat links und rechts oft Leute, die ihn stützen.
Aber das allein hilft nur eine kurze Strecke. Das allein hatte damals den Umschwung noch nicht gebracht. Die Gemeinde allein besteht immer noch aus Menschen, und da kann es ja innerhalb der Gemeinde gerade diese Unterschiede geben, die dem Beter so Mühe machten: Den einen geht es gut, den andern nicht. Die einen leben hingegeben an Gott, andere halten es eher nachlässig. Nein, der Blick in die Gemeinde hilft nicht jedes Mal, der Blick auf die Geschwister kann auch gelegentlich verwirren. „Bis ich zum Heiligtum Gottes kam ...“ – die Gemeinde ist nicht automatisch schon Gottes Heiligtum.
Was aber dann? Kommt die Wende, wenn ich die Stille suche? Die Stille allein ist es auch noch nicht. Denn in der Stille können ja meine inneren Stimmen um so lauter werden und die innere Gerichtsverhandlung um so drastischer.

Ich persönlich erlebe Gottes Heiligtum, wenn ich offen und frei zu ihm bete. Also alles vor ihm ausschütte und nicht nur in mir selbst. Gottes offenes Ohr – das ist so eins seiner Heiligtümer. Gott ist mein Gegenüber und hört mir zu. Sein Ohr, mein Heiligtum. Mir helfen auch oft die Psalmen dabei. Psalmen, die ich nicht nur lese, sondern nachbete. Jede Zeile zumindest nachbete, die ich innerlich füllen kann. Der gebetete Psalm – auch der ist ein Heiligtum Gottes. Überhaupt gebetete Schriftworte, die gebetete Bibel: Heiligtum Gottes.
Noch eine andere Erfahrung kenne ich: Wenn ich mit glaubenden Weggefährten zusammen bete, mit einem oder zwei, vertraulich. Dann spüre ich sehr klar, dass ich eben nicht mehr allein bei mir bin. Sondern dass ich geöffnet bin. Gebet, das mich stärkt, höre ich von einem anderen. Gottes Wort muss ich mir nicht selbst sagen. Auch das ist für mich eine Heiligtums-Erfahrung. Und damit bin ich dann doch wieder bei der Gemeinde. Aber nicht bei der großen Masse, nicht beim Bad in der Menge, sondern es sind aufrichtige Begegnungen, in denen ich echt sein kann. Auch das also ein mögliches Heiligtum Gottes.

Auf der Suche nach Gottes Heiligtum heute muss ich aber über meine eigene Erfahrung hinausgehen. Denn die ist ja begrenzt. Wenn wir uns fragen, wo für uns Gottes Heiligtum ist, dann müssen wir unbedingt einen Namen nennen: den Namen Jesus Christus. Wenn irgendwo, dann ist er Gottes Heiligtum. Er am Kreuz. Er, auferstanden aus dem Grab. Heiliger als hier hat Gott sich nirgends erwiesen. Und zugänglicher für uns als hier ist Gott nirgends. Der gekreuzigte und auferstandene Jesus Christus ist Gottes Heiligtum für uns.
Wenn ich mich auf ihn verlasse, mich an ihn verliere, mich jeden Tag neu zu ihm bekehre, dann ist es, als wäre ich mit ihm am Kreuz. Mein ichzentriertes Leben stirbt ab. Und er schenkt es mir neu. Auferstehung – ich zusammen mit Christus. „Ich bin mit Christus gestorben“, hat ein anderer Glaubender der Bibel gesagt (Gal 2,19). Und auch: „Gott hat uns mit Christus auferweckt.“ (Eph 2,16) Wenn ich das erlebe, dann bin ich ganz bei Jesus Christus, ja ich bin in ihm. Und damit im heiligsten Heiligtum Gottes, das es gibt.
Heute ist Abendmahlsfeier. Wir setzen uns bewusst Jesus Christus aus, der für uns gestorben ist und der auferweckt wurde. Auch die Momente des Abendmahlfeierns können zum Heiligtum Gottes werden.

„Bis ich zum Heiligtum Gottes kam“ – das ist die Wende. Hier wird der Beter für Gott geöffnet und erlöst aus seinem Spiralnebel. Jetzt betet er wirklich, sagt „du“ zu Gott und wabert nicht bloß in seinen eigenen inneren Verhandlungen.
Schauen wir noch darauf, wie denn die Befreiung aussieht, nach dieser Wende.

3. Die Befreiung
Jetzt hat der Beter einen neuen Blick bekommen. Das, woran er sich bisher aufgerieben hat – all die Ungerechtigkeit, alle die, denen es so unverschämt besser ging als ihm – alles sieht jetzt anders aus.
Er sieht es nun vom Ende her. „Bis ich zum Heiligtum Gottes kam und achthatte auf ihr Ende.“ Das Ende – damit meint er nicht eine Auflösung nach der Melodie: Gott wird den Bösen schließlich Saures geben und den Frommen doch das Glück. Nein, irdisches Glück haben viele oberflächliche Menschen bis zum letzten Atemzug. Nicht einen letzten gerechten Ausgleich meint der Beter, wenn er auf das „Ende“ sieht.
Sondern er achtet darauf, wie jemand zu Gott steht. Ob er wirklich Gott zum Gegenüber hat oder nicht. Und da muss er feststellen: So wie ich in meinen Gedanken die ganzen Zeit bei mir selbst war, so sind die Gottlosen ihr ganzes Leben lang nur bei sich selbst. Ohne jemanden als Gegenüber. Und das ist schrecklich in allem äußeren Glück.

Sie verschwinden, nehmen ein Ende mit Schrecken.
Wie einen Traum nach dem Erwachen, Herr,
so verachtest du, wenn du aufwachst, ihr Bild.

Sie sind wie weggepustet – Gott hält sie nicht mehr fest. Eben das aber erfährt der Beter: Selbst wenn es mir nicht gut geht – ich habe wenigstens Gott als Gegenüber und er hält mich fest. Er ist ein viel besserer Halt als Gesundheit und Wohlstand es jemals sein könnten.

Nun aber bleibe ich stets bei dir,
du hältst mich an meiner rechten Hand.

Die anderen sind groß, meinetwegen. Aber ich bin gehalten. Das macht den Unterschied. Auf dem Gab des früheren Bundespräsidenten Johannes Rau steht sein Lebensmotto: „Teneo quia teneor“ – „Ich halte stand, weil ich gehalten werde.“ Wie der Psalm-73-Bbeter: „Du hältst mich an meiner rechten Hand.“
Beinahe hätte er Gottes Hand verloren – als er sich über die anderen ereifert hatte.

Als mein Herz verbittert war
und ich stechenden Schmerz im Innern spürte,
da war ich ein Narr und hatte keine Einsicht,
dumm wie ein Vieh war ich vor dir.

Er spürte sich selbst – in seinem Innern. Da also war er nur bei sich – und wer nur bei sich bleibt, verpasst das Leben, wie Gott es sich für die Menschen ausgedacht hat. „Wie ein Vieh!“ Als er loskam von sich selbst, in Gottes Heiligtum loskam, da wurde er erst wirklich ein Mensch.
Wer nur Glück sofort erlebt, der wird irgendwann mitsamt seinem Glück verwehen – das ist die Antwort, die unseren Psalmbeter ruhig gemacht hat.

Und die Gerechtigkeit? Wenn es doch auch am Schluss keinen Ausgleich gibt, wenn Gottlose sogar glücklich und zufrieden sterben können? Wo bleibt zum Schluss die Gerechtigkeit?
Nachdem der Beter in Gottes Heiligtum war, interessiert ihn die Gerechtigkeit gar nicht mehr. Er hatte sich vorher leer gefühlt, aber nun ist diese Leere gefüllt. Und zwar nicht mit Wohlergehen gefüllt und nicht mit gerechtem Ausgleich. Sondern sie ist gefüllt mit der Gemeinschaft mit Gott. Die wiegt schwerer als Glück. Vor dieser Gemeinschaft mit Gott verblasst jedes andere Glück.

Bin ich bei dir, so begehre ich nichts auf Erden.
Mögen mein Leib und mein Herz verschmachten,
der Fels meines Herzens und mein Teil ist Gott auf ewig.

Die Zufriedenheit des Beters geht bis in die Frage nach Krankheit und Gesundheit hinein. Selbst wenn er nicht gesund ist oder nicht gesund wird – er frisst sich nicht auf in der Sehnsucht nach Gesundheit. Sondern er ist angekommen in der Gemeinschaft mit Gott.

(Eine Unterscheidung ist hier sehr wichtig: Der Beter verzichtet auf Gerechtigkeit für sich selbst. Man kann diesen Verzicht nicht für andere aussprechen: Füge dich in dein Schicksal, als Glaubender brauchst du keine Gerechtigkeit. Sondern wenn andere Unrecht leiden, ruft Gott uns auf, dass wir für sie eintreten, den Mund für sie aufmachen. Aber für sich selbst kann es eine große Befreiung sein, wenn man dazu kommt: An meinem Recht hängt jetzt nicht alles für mich.)

Der 73. Psalm zeigt uns wie in einer Nacherzählung, wie der Beter dorthin gekommen ist. Er hat Gerechtigkeit gesucht und Gott gefunden. Als er seinen Psalm aufgeschrieben hat, da hat er einen Anfangssatz vorangestellt, und der fasst vorab schon alles zusammen:

„Tatsächlich ist Gott gut gegen Israel, gegen die, die reinen Herzens sind.“

Das ist der Schlüsselsatz. Alle Menschen suchen danach, dass es ihnen gut geht. Der Beter ebenso. Und als es ihm nicht gut ging, arbeitete er sich daran ab. Aber am Ende hat er etwas anders gefunden: Es kommt nicht darauf an, ob es mir gut geht. Sondern darauf, dass Gott mir gut ist. Damit wendet sich alles. Nicht weil es mir schließlich gut geht. Sondern weil Gott mir gut ist.

Liebe Gemeinde, mich hat es berührt, also ich vor ein paar Tagen diesen 73. Psalm wieder las. Er hat mich mit auf einen Weg genommen. Ich wünschte, er hat das heute morgen mit uns allen ebenso getan. Wir kennen sicherlich alle den Spiralnebel der Gedanken. Auch diese endlosen inneren Gerichtsverhandlungen, in denen wir glänzende Beweisketten aufstellen – nur für uns selber. Gottes Wort zeigt uns den Ausweg, die Erlösung:
Gehen wir in Gottes Heiligtum – dort, wo er sich finden lässt. Und lassen wir dann ihn an uns handeln. „Du hältst mich an meiner rechten Hand.“ Egal ob es mir gut geht oder nicht – er ist mir gut. Darin ist Freiheit – nur dort.
Amen.

Donnerstag, 3. Juni 2010

Predigt „... ein anderer Mensch werden ...“

Predigt über 1Sam 10,6
Liebe Gemeinde,
„der ändert sich ja doch nicht!“ – was ist das für ein Satz? Wie klingt es, wenn jemand das sagt? Ein Jubelruf? Bestimmt nicht. Es ist meist ein frustrierter Satz – der ändert sich ja doch nicht! Der müsste es, aber er tut es nicht. Wenn wir so reden, dann verraten wir ein Gespür dafür, dass es immer wieder nötig ist, sich zu ändern. Bertolt Brecht erzählte diese Geschichte:
Ein Mann, der Herrn K. lange nicht gesehen hatte, begrüßte ihn mit den Worten: „Sie haben sich gar nicht verändert.“ – „Oh,“ sagte Herr K. und erbleichte.
Das ist die eine Seite der Sache. Sich verändern ist nötig. Aber es gibt noch einen anderen Blickwinkel. Wenn im Fernsehen ein Politiker staatstragend ankündigt: „Große Veränderungen kommen auf uns zu und wir müssen uns auf sie einstellen“ – dann verheißt das nichts Gutes. Meist höhere Steuern oder so. Veränderungen machen Angst, weil das Kommende unbekannt ist. So sind wir Menschen nun mal: Gewohnheitstiere, beharrlich – und zugleich spüren wir doch, dass ohne Veränderungen das Leben abstirbt.

Heute feiern wir Pfingsten. Wir feiern, dass Gott seinen Geist gegeben hat und stets neu geben will. Gott bringt damit Gutes in unser Leben hinein – Heilsames. Heilung. Ich bin auf einen Bibelabschnitt gestoßen, der ganz überraschend von Gottes Geist spricht. Es ist der Ausschnitt aus einer alten Königsgeschichte aus dem ersten Teil der Bibel, aus dem Ersten Testament. Gott war auf den Wunsch seines Volkes eingegangen, das gern einen König haben wollte. Alle anderen Nationen hatten das – also wollte Israel nicht hintenanstehen. Gott ging darauf ein. Er suchte sich einen geeigneten, fähigen Mann aus, zeigte quasi mit dem Finger auf ihn – er tat das durch einen Propheten – und machte diesen Mann zum König. Saul. Der Prophet sagte dann folgendes über ihn:

(Lesen Sie hier 1Sam 10,6-9.)

„Der Geist des Herrn wird dich durchdringen ... und du wirst in einen anderen Menschen verwandelt werden.“ Wie aus heiterem Himmel trifft Saul diese Ankündigung. Und in der Tat – sein Leben geht fortan anders weiter. Er wird nicht mehr derselbe sein seitdem. Dieser Mann Saul, bis eben noch ein gewöhnlicher Bürger Israels, er hat nun sein Pfingsten erlebt. Gottes Geist kam zu ihm. Wer sich in der Bibel ein bisschen auskennt, der hat Saul eher als unglücklichen König kennen gelernt, als erfolglosen und gescheiterten Regenten. Stimmt, das kam später. Aber der Anfang, so wie Gott ihn gesetzt hat, ist klar und gerade: Gott nimmt einen Menschen in Beschlag und macht ihn anders.
Damals war es nur einer. Der kommende König. Der ist von uns heute weit entfernt. Wir folgen Jesus Christus nach, und von ihm her ist Gottes Geist jedem von uns gegeben. Nicht nur einigen wenigen, sondern uns allen. Was König Saul für sich erlebte, kann also ein Beispiel für jeden von uns sein.

„Der Geist des Herrn wird dich durchdringen ... und du wirst in einen anderen Menschen verwandelt werden.“ Hm, was passiert mit uns, wenn Gott zu uns so was sagt? Wird das Leben leichter? Erfolgreicher? Tragen wir unter unserer Kleidung nun ein Supermannkostüm? Fallen alle unsere schlechten Eigenschaften von uns ab wie Blätter im Herbst vom Baum? Oh, das wäre klasse – ich würde das meiner Frau von Herzen gönnen, dass das bei mir passierte. Aber ihr merkt schon an der Art, wie ich frage, dass dies nicht die Antwort ist. Wir können aber im biblischen Bericht erkennen, welche Folgen es hat, wenn der Heilige Geist jemanden packt. Kurz gesagt: Wer vom Heiligen Geist erfüllt wird, geht nach außen und nach innen. Er wirkt aktiv und kann warten. Er spuckt in die Hände – und er faltet die Hände.

1. Gottes Geist befähigt
„Dann wird der Geist des HERRN dich durchdringen, [...] und du wirst in einen anderen Menschen verwandelt werden. Und wenn diese Zeichen für dich eintreffen, tu, was sich dir anbietet, denn Gott ist mit dir.“ Tu, was dir vor die Hände kommt. Gott begleitet das. Gott heißt das gut, was du dir aussuchst, dass du es tun möchtest.
Gottes Geist rüstet mit Fähigkeiten aus und stellt dabei zugleich in eine große Freiheit. Zu wem Gottes Geist kommt, der wird etwas bewirken können, der zieht Spuren. Bei Saul war es so. Er konnte sich nun an die Spitze seines Volkes stellen, konnte Wege zeigen, Widerstände überwinden. Er war zu Dingen imstande, die er vorher so nie im Blick hatte. Das ist die eine Wirkung des Heiligen Geistes. „Du wirst in einen anderen Menschen verwandelt werden“ – Gott macht dich stark. Gott macht dann auch selbstbewusst. „Tu, was sich dir anbietet, denn Gott ist mit dir.“ Gott würdigt seine Kinder, dass sie selbst ermessen können, was jetzt dran ist. Mutlose Menschen werden munter. Müde Leute wachen auf. Wer bisher nicht wusste, wozu er gut war, der bekommt eine Ahnung davon. Gottes Geist bringt dich voran, so dass du wiederum andere voran bringen kannst.
Das ist das eine – die Bewegung nach außen. Das ist die eine Hälfte. Gottes Geist führt aber zugleich auch nach innen.

2. Gottes Geist lässt innehalten
Saul bekommt noch eine zweite Anweisung, und sie klingt wie das komplette Gegenteil zur ersten. „Sieben Tage sollst du warten, bis ich zu dir komme und dich wissen lasse, was du tun sollst.“ So sagt es der Prophet, der Saul all das ankündigte. Warte, und wenn es eine volle Woche sein muss, warte auf Gottes Wort. Erst dann leg los. Es gibt Situationen, da käme uns alles Mögliche vor die Hände, das wir tun könnten. Wir bräuchten nur zulangen. Aber dann ist es dran zu warten. Auf Gottes Wort zu warten. Der Heilige Geist verschafft uns nicht sofort nach 15 Minuten alle Antworten. Aber er tut etwas anderes – er hilft uns zu warten.

Was passiert mit uns, wenn wir plötzlich zum Nichtstun verurteilt sind? Wenn wir eine unwillkommene Wartezeit erleben? In der Schlange vor der Supermarktkasse oder im Stau oder plötzlich im Krankenbett, wo nichts mehr geht, oder wenn uns in irgend einer erhofften Angelegenheit der Zug vor der Nase weggefahren ist? Wir können dann nichts mehr aktiv machen, wir müssen warten – was passiert dann mit uns? Wir sind oft dann mit uns selbst allein. Uns selbst überlassen – und wir müssen es dann aushalten, dass wir allein uns selbst gegenüber stehen. Schonungslos, mit Licht und Schatten. Mit allen inneren Anklagen oder unangenehmen Regungen. Manchmal gehen wir mit anderen ins Gericht, manchmal mit uns selber. Wartezeiten wollen wir so kurz wie möglich halten. Aber manchmal ist es gerade die Wirkung des Heiligen Geistes, dass wir in die Warteschleife geschickt werden. Und wir sind dann eben doch nicht nur alleine uns selbst gegenüber gestellt. Sondern Gottes Geist ist dabei.
Wir müssen dann fähig sein, nach innen zu gehen. Lieber würden wir handeln, entscheiden, gestalten. Wenn nötig, wären wir zum Äußersten bereit. Aber gerade das ist dann nicht dran. Nicht zum Äußersten, sondern im Gegenteil zum Innersten müssen wir bereit sein. Gottes Geist gestaltet nicht nur die Welt um uns herum, nach außen. Sondern er gestaltet auch uns selbst, unseren Charakter – das zielt nach innen. Und auch auf diesem Weg werden wir „in einen anderen Menschen verwandelt“.
Wenn Gottes Geist also uns packt, dann aktiviert er uns – und mutet uns zu anderer Zeit zu, dass wir warten. Beides kommt von demselben Geist. Es lässt uns die Ärmel aufkrempeln und in die Hände spucken – und lässt uns ebenso die Hände falten.

Wir sind hier allesamt in sehr verschiedenen Lebenssituationen und sind vom Schöpfer auch mit sehr verschiedenen Charakteren ausgestattet. Einige sind eher zurückhaltend und lassen im Zweifelsfall dem anderen den Vortritt. Einige sind oft unsicher über das, was sie tun könnten, sie fühlen sich wohl, wenn der Spatz in der Hand sicher ist und verzichten gern auf die Taube, die jetzt noch auf dem Dach sitzt. Andere leben auf, wenn es rund geht, und haben kaum die Zeit, all ihren Ideen nachzukommen. Beides kann gut sein. Beides kann auch gelegentlich verkehrt sein. Herausfinden kann es jeder nur selbst, was Gottes Geist jetzt als nächstes mit ihm vorhat: aktivieren, ermuntern? Oder zur Ruhe bringen und Mut machen, eine Wartezeit auszuhalten? Führt Gottes Geist dich nach außen oder nach innen? Stellt er dir Möglichkeiten vor Augen und du solltest mutig zugreifen? Diese Fortbildung – jene Verantwortung? Oder stellt er dir deine Schattenseiten vor Augen und du solltest innehalten und dich denen stellen?
Beides ist Wirkung desselben Heiligen Geistes. Und beides sind Wege, verwandelt zu werden – „dann wird der Geist des HERRN dich durchdringen, [...] und du wirst in einen anderen Menschen verwandelt werden. Und wenn diese Zeichen für dich eintreffen, tu, was sich dir anbietet, denn Gott ist mit dir. Und du sollst [losgehen], und sieh, ich werde herabkommen zu dir [...]. Sieben Tage sollst du warten, bis ich zu dir komme und dich wissen lasse, was du tun sollst.“

Aktiv werden oder innehalten – Wege, durch Gottes Geist ein anderer Mensch zu werden. Eins ist bei diesen beiden Wegen gleich: Gott bringt dich jedes Mal in Verbindung mit seiner Königsherrschaft, mit seinem Reich. Er stellt dein Leben in einen größeren Rahmen, nämlich in den Rahmen des Reiches Gottes. Entweder sein Geist macht dich tatkräftig, stärkt deine Hände. So kannst du mitwirken für sein Reich, das sich ausbreitet. Oder aber Gottes Geist arbeitet innen dir, an deinem Charakter, er stärkt dein Herz. Auch das hat einen Zusammenhang zum Reich Gottes. Es will ja jeden Menschen erfassen, auch dich, von innen heraus. Gottes Reich wächst nach außen und nach innen, es stärkt deine Hände und dein Herz. „Hier sind Herz und Hände für die neue Welt“, singen wir manchmal. Und gerade so wirst du verwandelt und ein anderer Mensch: indem du nicht mehr bei dir bleibst, sondern in den größeren Rahmen des Reiches Gottes hinein kommst.

„Dann wird der Geist des HERRN dich durchdringen, [...] und du wirst in einen anderen Menschen verwandelt werden.“ Verlockende Aussicht? Die Tür ist aufgestoßen und ich muss nicht bleiben, wie ich bin? Oder beängstigende Aussicht? Hilfe, irgendwas ändert sich und wer weiß, worauf das hinausläuft?
Egal ob das Anderswerden uns fasziniert oder verschreckt – eins können wir an der Person sehen, die diese Verheißung bekam, an Saul: Wir können an ihm sehen, wie es zugeht, wenn diese Veränderungskraft des Heiligen Geistes fehlt. Wenn der Geist irgendwann einmal nicht mehr wirkt und wenn derjenige kein anderer Mensch mehr ist, sondern letztlich doch der alte bleibt.

3. Wenn Gottes Geist fehlt ...
Saul war von Gott als König berufen und er war für diese Aufgabe mit allem ausgerüstet, was er dazu brauchte. Er hatte gute natürliche Anlagen. „Er war jung und schön, und unter den Israeliten gab es keinen schöneren Mann als ihn, er überragte alles Volk um Kopfeslänge.“ (1Sam 9,2) Saul hatte außerdem eben die Gabe des Heiligen Geistes bekommen. Und er hatte den Propheten Samuel als Gegenüber, der ihm Gottes Wort sagte. Saul hatte auf diese Weise in der Kraft des Geistes einen guten Start. Aber schon bald begann er, all das zu verspielen. Er verließ sich nicht mehr allein auf Gott, sondern folgte seinen eigenen Ideen. Er nahm Rücksicht auf die Leute, was die wohl denken, und befolgte Gottes Weisungen nur noch zur Hälfte. Irgendwann hat Gott dann seine Beauftragung zurückgenommen – Saul sollte nicht mehr König sein. Seitdem verlief sein Leben total tragisch. Das Leben eines Menschen, der eben nicht mehr von Gottes Geist bestimmt wird. Ein Mensch, der gegen den Strom von Pfingsten lebt. Was für ein Bild ergibt sich da?

Es ist ein gehetzter Mann. Ein misstrauischer Mann. Überall wittert er Feinde, auf jedem Stuhl, hinter jedem Strauch. Andererseits möchte er es den Leuten Recht machen. Er klammert sich an die Macht. Er ist gewaltbereit. Und hinter all dem steht offenbar seine Angst. Angst, die Macht zu verlieren, Angst, das Gesicht zu verlieren. Wer nicht mehr von Gottes Geist durchdrungen ist, der ist der eigenen Angst preisgegeben.
Die biblische Erzählung zeigt uns für das Leben dieses Mannes, der von allen guten Geistern verlassen ist, immer wieder ein bestimmtes Bild. Fünfmal wird erzählt, die Saul da sitzt, auf dem Thron z. B., mit seinem Speer in der Hand. Das war seine Angewohnheit geworden: Wo er geht und steht und sitzt, den Speer in der Hand zu halten. Immer wieder benutzt er ihn auch in rasender Wut (meine Kinderbibel von Anne de Vries hatte das eindrücklich illustriert). Eine Erzählung zeigt Saul in seinem Zelt schlafend – und am Kopfende, griffbereit, steckt der Speer im Boden. Saul hat Gottes Geist verloren und ist dennoch nicht bereit, umzukehren. Also bleibt ihm nur eins, auf das er sich verlassen kann: sein Speer. Erschütterndes Bild eines angstgehetzten Menschen. Eigentlich zutiefst krank.
Liebe Gemeinde, nun sehen wir, wie lebensnotwendig es ist, „von Gottes Geist durchdrungen und in einen anderen Menschen verwandelt zu werden“: Wo das nicht passiert, muss man zu anderen Stützen greifen. Saul verließ sich auf seinen Speer. Er war innerlich kaputt und er machte andere kaputt. Bemitleidenswert und zugleich tragisch.

Nicht jeder heute hält seinen Speer in der Hand. Manche schon – manche teilen lieber vorsorglich nach allen Seiten aus. Von Angst getrieben. Andere haben es weniger mit dem Speer, aber sie halten ständig den Schild hoch. Distanzieren sich, lassen keinen zu nahe kommen, bleiben unnahbar. Letztlich ist Angst der Grund. Wieder andere schätzen statt Speer und Schild das Podest. Dort klettern sie drauf, versuchen zu beeindrucken, wollen stets andere überragen – und das darf für sie auch nicht anders sein. Aus Angst kommt das. Oder aber jemand hält sich nur noch in der Nähe eines Baumes auf, um sich notfalls dahinter zu verstecken. Wo Mut gefragt wäre oder mal eine Verantwortung zu übernehmen, da geht’s schnell hinter den Baum, bis es vorbei ist.
Egal ob Speer, wie Saul, oder Schutzschild, egal ob Podest oder Versteckbaum – eins ist bei allen Hilfsmitteln gleich: Wer sie nötig braucht, lebt nicht gesund. Es ist kein freies Leben. Es ist mehr oder weniger stark deformiert. Das sage ich, ohne mit dem Finger zu zeigen. Denn immer steht ja Angst dahinter und Angst ist eine zutiefst menschliche Regung. Das ist nicht zu verurteilen. Diese Angst führt zwar zu sündigen Reaktionen. Das Leben ist deformiert – Sünde deformiert. Aber ich möchte die Speernutzer und Schildträger und Podestbesteiger und Baumverstecker nicht verurteilen. Ich selber kenne diese Hilfsmittel doch auch zu gut.
Nicht anprangern also. Wohl aber den Weg zur Heilung zeigen. Und das ist der Heilige Geist. Saul mit seinem Speer war von allen guten Geistern verlassen. Vorher, als er vom Heiligen Geist durchdrungen war, da lebte er klar. Der Heilige Geist also formt dein Leben zurück in die Gestalt, die gesund ist und nicht mehr deformiert. Wie macht der Heilige Geist das? „Du wirst in einen anderen Menschen verwandelt werden.“ So macht er das. Entweder er aktiviert deine Hände, du erlebst, wie du Gottes Reich mit ausbreiten kannst. Oder er gibt Mut, dich deinem Charakter zu stellen, einschließlich deiner Schatten. Er stärkt dein Herz und du erlebst, wie Gottes Reich durch dich hindurchgeht. „Der Geist des HERRN wird dich durchdringen, und du wirst in einen anderen Menschen verwandelt werden.“ So wird dein Leben gesund. Saul kannte diese Erfahrung. Saul hat so begonnen.

Ich möchte schließen mit einer Einladung, und die klingt ganz schlicht:

4. Verlass dich auf den Heiligen Geist
Das wäre die Reaktion, wenn Gottes Geist dich durchdringen will. Er will das – der Geist. Und was willst du? Deine Reaktion kann die sein: Verlass dich auf ihn.
Diese schlichte Einladung meine ich ganz wörtlich und ganz bedeutungsstark. Verlass dich auf ihn – das beginnt so: Verlass dich. Verlasse dich, dein Leben mit seinen Speeren, Schilden, Podesten, Versteckbäumen. Verlass deine Angst, wenn sie dein heimliches Lebenszentrum geworden ist. Verlass dich, dein So-sein, sofern es ohne Geist ist. Verlass dich dann zu Gott hin, auf Gott hin. Verlass dich auf ihn.

Macht es da noch Angst, wenn man ein anderer Mensch werden soll? Muss man da noch denken: „Hilfe, Veränderung, ich weiß nicht, worauf das hinausläuft?“ Wer sich nicht verlässt, bleibt bei sich selbst. Bei sich als altem Menschen. Von allen guten Geistern im Stich gelassen. Den Speer in der Hand. Deformiert. Der einzige Weg zur Gesundung ist: sich verlassen. Verlass dich auf Gottes Geist. Keine Angst: Er nimmt dir das Leben nicht weg. Im Gegenteil: Er heilt dich.

Ich wiederhole noch mal, was Gottes Geist vorhat: Er befähigt. Stellt dich in den Rahmen von Gottes Reich – du spuckst in die Hände und darfst mitwirken. Oder Gottes Geist lässt dich innehalten. Du wartest, stellst dich deinen Schatten. Bekommst Kontakt zu Gottes Reich, das deinen Charakter prägt. Du faltest die Hände und hältst aus zu warten.
Wir feiern Pfingsten. Gottes Geist kam zu den Menschen und kommt immer neu. Über den Heiligen Geist sagt die Bibel: „Eifersüchtig sehnt Gott sich nach dem Geist, den er in uns wohnen ließ.“ (Jak 4,5) Gott sehnt sich nach seinem Geist in mir und in dir. Findet er ihn in uns wieder?
Lasst uns hingehen zu Gottes Geist. Verlass dich. Verlass dich auf den Heiligen Geist.
Amen.