Donnerstag, 17. Juni 2010

"Herdenfutter": Wie es weitergeht

Liebe Gemeinde Marburg, liebe Leserinnen und Leser der Predigten und Bibelstudien,
weil mein Gemeindepastorendienst in Marburg nun zu Ende geht, werde ich von nun an nicht mehr regelmäßig sonntags predigen. Diese Seite wird also nur noch selten neue Beiträge bekommen.
Aber ich höre ja nicht auf, Bibel zu lesen und nach Gottes Reich zu fragen. Was mich dabei bewegt, notiere ich ab und zu in meinem „Wetter-Bericht“. Hier finden „Herdenfutter“-Leser Neues - ab August regelmäßiger.
Wenn ich einen neuen Beitrag bei „Herdenfutter“ einstelle, werde ich darauf auch im „Wetter-Bericht“ hinweisen.
Nun hoffe ich, dass die bisherigen Predigten in Ihrem Leben Resonanz gefunden haben. Wie war das bei Ihnen? Haben Sie Gott beim Lesen in den letzten Monaten reden gehört? Hat sich in Ihrem Leben etwas geändert?

Montag, 14. Juni 2010

Predigt: „Einander abgeben“

Predigt über Apg 20,32
Liebe Gemeinde,
ich habe viele Wegbegleiter. In den letzten acht Jahren hier in Marburg gab es sie, aber natürlich auch solche, die mich schon länger begleiten. Einer dieser ganz langen Wegbegleiter ist die Apostelgeschichte aus der Bibel. Es hat mich nicht überrascht, dass ich hier etwas gefunden habe, das meine Gedanken und Gefühle ausdrückt, wenn ich ans Abschiednehmen denke. Es gibt dort den Bericht über einen Prediger, der Abschied nimmt von denen, die er bisher begleitet hat. Ihre gemeinsame Zeit ist zu Ende gegangen. Der Prediger sucht ein letztes Mal den Kontakt, er spricht zu den Gemeindeverantwortlichen und er macht dabei etwas, das ich sehr passend und wichtig finde: Er gibt die ihm bisher anvertrauten Menschen an Gott ab. Und sie, so nehme ich an, geben ihn auch an Gott ab. Das ist eine sehr tiefe und schöne Form des Abschiednehmens.
Einen Satz aus den Abschiedsworten dieses Predigers – es ist Paulus – möchte ich heute aufgreifen.

Und nun vertraue ich euch Gott und dem Wort seiner Gnade an, das die Kraft hat, aufzubauen und das Erbe in der Gemeinschaft der Geheiligten zu verleihen. Apg 20,32

Paulus hat die Gemeindeältesten aus Ephesus zu sich gerufen. Das war eine Gemeinde, wo er einige Jahre sehr intensiv gelebt und gearbeitet hatte. Er hat viel an Lehre hinterlassen und auch manchen Kampf zusammen mit der Gemeinde für das Evangelium auszufechten gehabt. Nun geht es weiter. Aber wie geht es weiter? Paulus kennt sein nächstes Reiseziel. Wie aber wir es ihm dort ergehen? Und wie geht es mit der Gemeinde Ephesus weiter? Keiner weiß es. Deshalb ist die Art, wie Paulus Abschied nimmt, so passend, so sachgemäß. Er gibt sie an Gott ab. „Und nun vertraue ich euch Gott und dem Wort seiner Gnade an.“ Er kann loslassen, weil Gott weiter festhalten wird. Wenn Christen einander an Gott abgeben, dann gehen sie also nicht einfach auseinander. Sie lassen den jeweils anderen nicht einfach los und der wäre dann mit sich selbst allein. Christen wissen, wohin sie einander abgeben und in wessen Namen sie einander verabschieden und sie wissen auch, wer darüber wacht, was der gemeinsame Weg an Ertrag gebracht haben mag.
Ich möchte diesen Abschiedssatz von Paulus noch etwas genauer mit euch anschauen und möchte auf vier Dinge aufmerksam machen.

1. Gottes Wort hat bleibende Kraft
„Ich vertraue euch Gott an und dem Wort seiner Gnade, das die Kraft hat.“ Gott ist mächtig und auch Gottes Wort steckt voller Kraft. Gottes Wort ist ganz nah an Gott selber. Gott ist größer als sein Wort. Der unendlich mächtige und grenzenlos liebende Gott spricht nicht alle seine Geheimnisse aus. Er ist größer und passt schon gar nicht zwischen zwei Buchdeckel. Aber dennoch ist sein Wort – das, was er sagt – ganz nahe an seinem Wesen dran. Er hat viel Herzblut in sein Wort gelegt. Gott und sein Wort stehen sogar so nahe zusammen, dass man gar nicht genau weiß, wie man den Satz von Paulus richtig verstehen soll. Entweder meint Paulus: Gott hat die Kraft, euch aufzubauen. Oder er will sagen: Gottes Wort hat die Kraft, euch aufzubauen. Ja wer denn nun – Gott oder sein Wort? Es hat vielleicht seinen tieferen Sinn, dass man den Satz auf beiderlei Weise übersetzen kann. Gottes Wort nimmt Teil an Gottes Kraft! Gott handelt oft gerade durch sein Wort. Gott schafft Neues, indem er spricht. Gottes Wort nimmt Teil an Gottes Kraft.

Wir haben also allen Anlass, uns viel von Gottes Wort zu versprechen. Denn das ist ja die bleibende Kraft, wenn Wege auseinandergehen. Paulus macht es später noch konkreter. Er sagt, er habe sein Leben geführt „in der Erinnerung an die Worte Jesu“. Das gibt er nun auch seiner Gemeinde mit. Erinnert euch an die Worte von Jesus. Geht damit um, was Jesus gesagt hat. Wir finden das in der Bibel. Also steckt zwischen diesen zwei Buchdeckeln doch sehr viel Energie! Wann immer ihr zusammen seid und euch mit wichtigen Fragern befasst:“Wie soll ich mich entscheiden, wenn ich auf meine Kinder reagieren muss? Wie teile ich mir mein Geld ein? Wie komme ich klar, wenn Sorgen mich überfluten?“ – wann immer ihr zusammen seid und euch mit solchen Fragen befasst: Bringt Gottes Wort ins Gespräch! Erinnert euch daran, was Jesus gesagt hat. Hat er denn nicht auch dazu etwas gesagt? Hm, was hat er denn gesagt? Mal nachlesen. Mal suchen und entdecken, wie seine Worte in meine Frage passen. Erinnert euch und kramt nach, was er denn wirklich gesagt hat. Mein Tipp dabei wäre: Verlasst euch dabei nicht zu sehr auf die Erinnerung, nicht zu sehr aufs Gedächtnis. Denn in der Erinnerung verändert sich mit der Zeit viel, auch die Worte Jesu. Besser ist nachlesen. Denn in der Bibel steht Gottes Wort und das ist voller Kraft.
Vor ca. 20 Jahren hat der Bibelausleger Adolf Pohl einen Ausdruck geprägt, der seitdem immer wieder zitiert wurde. Er sprach von einer „mutwilligem Bibelunkenntnis“. Damit meinte er nicht die Gesellschaft, sondern unsere Gemeinden! Im Laufe der 20 Jahre seitdem ist die Sache sicher nicht besser geworden. Liebe Gemeinde, meine dringende Bitte ist: Unterschätzt die Bibel nicht! Geratet nicht in die Versuchung zu meinen: „Das haben wir doch schon tausendmal gehört und wir wissen ja ungefähr, was drinsteht. Gehen wir lieber den nächsten Schritt, der Worte sind genug gewechselt, jetzt wollten wir Taten sehen.“ Nein, ungefähr ahnen, was in der Bibel drinsteht, reicht oft nicht. Unser Gedächtnis spielt uns oft einen Streich. Bitte lest wieder und wieder nach – und dann bringt die Bibel ins Gespräch. Scheut euch nicht zu fragen: Was hat Jesus denn zu unserem heutigen Mittagstisch-Thema gesagt?
Paulus vertraut seine Gemeindemitarbeiter Gottes Wort an, an Gottes Wort gibt er sie ab. Warum? Weil darin Kraft liegt.

Paulus gibt uns noch eine genauere Beschreibung, wie er Gottes Wort sieht. Was er darin zu finden erwartet.

2. Das Wort der Gnade
Wenn Gott redet, dann spricht er Erbarmen aus. Gottes Wort ist das Wort der Gnade. Der Begnadigung. Barmherzigkeit. Compassion.

Worte der Gnade höre ich manchmal auch, z. B. wenn ich nach Hause komme. „Schön, dass du da bist.“ Oder: „Wie war dein Tag?“ Das ist eigentlich der Normalfall. Ich höre aber beim Nachhausekommen nicht immer Worte der Gnade. Manchmal kommt als erstes die Nachricht: Die Waschmaschine ist ausgelaufen. Oder: Bring mal gleich die Einkäufe mit rein. Oder ich platze in ein Wortgefecht, das gerade stattfindet. Oder ich höre – und zwar zu Recht und weil ich’s mal wieder vergeigt habe: „Na, wo bleibst du denn? Du wolltest doch eher da sein.“ Meine Leute zu Hause sind weit entfernt davon, unbarmherzig zu sein. Ich weiß fest, wie lieb sie mich haben, aber wie das Leben so spielt, ist nicht jedes Mal die Zeit für Worte der Gnade ...
Bei Gott muss niemand erst mal schnuppern, wie grad die Stimmung ist. Wenn Gott uns anspricht, dann zuverlässig aus tiefer Barmherzigkeit.

Und alles, was wir als Christen einzeln und miteinander erleben und zu gestalten versuchen, ist doch eine Verbindung mit Gottes Erbarmen. Wenn wir einen Kranken besuchen, möchten wir ihn in Kontakt mit Gottes Barmherzigkeit bringen. Wenn wir einander Fahrdienste geben, einer holt den anderen ab, dann passiert das, um Gottes Barmherzigkeit weiterzugeben. Wenn wir für jemanden beten oder wenn wir Gottes Wort ausgelegt bekommen oder was auch immer noch in unserem Gemeindeleben stattfindet – eigentlich hat jede Regung das Ziel: Gottes Gnade soll sich entfalten. Wir als Gemeinde leben in dieser Stadt, um für das Evangelium zu stehen – für Gottes Barmherzigkeit. Gemeinde ist der Umschlaghafen für Gottes Gnade.
Wenn wir aber dazu da sind, Gottes Wort weiterzugeben, das Wort der Gnade, dann können wir das ja nur auf eine Weise tun, die selbst von Gnade geprägt ist. Gottes Güte nach außen tragen geht nur, wenn wir auch innen miteinander gütig sind. Der Lungenchirurg ist unglaubwürdig, der selbst 30 Zigaretten am Tag raucht. Es taugt keiner zum Eheberater, der selbst nach Feierabend heimlich ins Pornokino geht statt nach Hause zur Frau. Genauso absurd wäre es, wenn wir als Gemeinde von Gottes Gnade reden wollen, aber dabei unbarmherzig miteinander sind.

Wenn Gott redet, atmet das Erbarmen. Ebenso soll es unter uns sein. Unser Umgang soll Erbarmen atmen – sonst haben wir mit dem Evangelium nicht mehr viel zu tun.
Gibt es denn wirklich unverzeihliche Fehler unter uns? Sollte bei uns etwas unverzeihlich sein, wenn Gott uns doch vergeben hat und noch und noch vergibt?
Bei Kindern können wir manchmal beobachten, wie sie niesen müssen und das strahlend einem direkt ins Gesicht tun. (Bei Erwachsenen kann das auch vorkommen, aber seltener ...) Wir rennen dann schreiend weg – Krankheit steckt an. Bazillen verbreiten sich rapide. Leider ist das mit der Gesundheit nicht so. Ansteckende Gesundheit gibt es nicht. Aber ansteckende Barmherzigkeit? Funktioniert das Ansteckungsprinzip bei der Barmherzigkeit vielleicht doch? Ich möchte euch anstiften, das einfach auszuprobieren! Niest einander mal eure Barmherzigkeit ins Gesicht. Oder besser: Strahlt einander eure Barmherzigkeit ins Gesicht. Testet, was dann passiert. Ob sich diese Antikrankheit nicht doch ausbreitet. Versucht es mal mit ansteckender Güte. Und warum nicht am nächsten Sonntag hier berichten, ob es geklappt hat? Wenn Gott redet, spricht er Barmherzigkeit aus. Worte der Gnade. Das könnten wir ihm doch ein wenig nachmachen!

Paulus vertraut seine Gemeinde dem Wort von Gottes Gnade an. Dieses Wort möge sie packen und durchdringen. Dieses Wort soll sein Werk in der Gemeinde tun. Das Wort der Barmherzigkeit ist für jeden Meter des Weges der Gemeinde wichtig, für jeden einzelnen Meter. Aber am Abschied ist es besonders wichtig. Was gäbe es besseres, als zum Schluss sich gegenseitig in Gottes Gnade zu entlassen?

Das Wort der Gnade hat Kraft. Es ist energiegeladen. Welche Kraft ist das? Was bewirkt diese Kraft?
„Und nun vertraue ich euch Gott und dem Wort seiner Gnade an, das die Kraft hat, aufzubauen.“ Gottes Wort baut auf.

3. Gottes Wort baut auf.
Am Anfang dieses Gottesdienstes haben wir gehört und gefeiert, dass Gott uns aufrichtet. Die Armen, die Elenden, jeden von uns, der das braucht. Gott zieht uns hoch, er baut uns auf.
Und wieder nimmt Gottes Wort Teil an Gottes Werk. Auch Gottes Wort baut auf. Paulus verwendet hier ein Wort, das eigentlich Hausbau bedeutet. Gottes Wort baut ein Haus. Es baut uns als Gemeinde auf – wie ein Haus. Gott ist der Konstrukteur und sein Wort ist konstruktiv.

In der Bibel stehen diese beiden Ausdrücke oft zusammen: Gemeinde und aufbauen. Gemeinde lebt geradezu, indem sie sich aufbaut. Und die Sprache der Bibel ist da bemerkenswert. Sie redet wirklich so, dass Gemeinde sich selbst aufbaut durch Gottes Energie. Gemeinde wird nicht aufgebaut, es sind nicht einzelne Menschen, die bauen, und denen stünde eine Gemeinde gegenüber, die von den Wenigen aufgebaut wird. Die Aktiven bauen und die anderen lassen das an sich geschehen – nein, so gerade nicht. Paulus kann an einer Stelle geradezu vom „Selbstaufbau der Gemeinde in Liebe“ sprechen (Eph 4,16).
Jetzt, beim Abschiednehmen, sagt Paulus den Gemeindeältesten Ähnliches. „Ich vertraue euch Gott und dem Wort seiner Gnade an, das die Kraft hat, aufzubauen.“ Oder Gott an, der die Kraft hat aufzubauen. Das ist also zunächst den Verantwortlichen gesagt. Gott baut euch auf, indem er mit euch spricht. Ihr Mitarbeiter, Gott ist an der Architektur eures Lebens gelegen, dass sie stabil und tragfähig ist.
Aber dann geht der Aufbau ja weiter in die Gemeinde hinein. Wie sieht das dann aus? Die Ältesten, die Gott aufgebaut hat, die bauen dann die Gemeinde auf? Vom Sprachgebrauch des Paulus her kommt das nicht in Frage. Sondern die Gemeinde selbst erlebt Aufbau. Wenn Gottes Lebensenergie in ihr wirkt, dann baut sie sich in Gottes Kraft selbst auf (vgl. auch Apg 9,31, LÜ).

Wir müssen in der Gemeinde also die richtigen Fragen stellen. Die richtige Frage ist nicht: „Wer baut uns denn auf?“ Es ist sehr gut, dass es einzelne Verantwortungsträger gibt, die sich reinhängen und konstruktiv, d.h. ja aufbauend sind. Deshalb noch einmal ein dankbares Willkommen hier heute morgen, G. H.! Und was E. G. leistet gerade auch in der Übergangszeit, ist ... ich möchte fast sagen: unersetzlich. Das hat ausdrücklich meine große Wertschätzung und ja nicht nur meine. Aber ... die richtige Frage in der Gemeinde ist trotzdem nicht: „Wer baut uns auf?“ Sondern diese: „Wie bauen wir uns auf?“ Und wie bin ich einzelner daran beteiligt?
Natürlich macht jeder was anderes und auch jeder unterschiedlich viel Viele Betagte haben ihre Beiträge längst früher geleistet und jetzt haben sie nicht mehr die Aufgabe, die Ärmel aufzukrempeln, sondern nur noch die, ansteckende Barmherzigkeit auszustrahlen. Jeder macht verscheiden viel. Aber Gemeinde ist nicht die, die von einzelnen hochgezogen wird. Sondern Gottes Kraft befähigt die Gemeinde, dass sie sich in Liebe selbst auferbaut.

In unserem Alltag gibt finden wir Gebäude, das sich selbst aufbaut. Das müssen schon die Bauarbeiter machen. Aber unser Körper ist ein Beispiel. Der wächst selbst, der baut sich selbst auf. Und zwar hat er ja verschiedene Wachstumsphasen. Nach der Geburt wächst so ungefähr alles, aber die Muskel wachsen schneller als der Rest. Und die Haare! Viele Babys sind glatzköpfig, aber bald wachsen die Haare. Später kommen andere Wachstumsphasen. Die Schädelplatten wachsen zusammen. Das Gehirn verschaltet sich. In der Pubertät bilden sich die Merkmale eines Erwachsenen aus. Und der ganze Körper wächst in die Länge. In vorgerücktem Alter dann wachsen vor allen die Speckringe um den Bauch. Auch diese Wachstumsphase kann länger anhalten. Noch später wachsen die Kalkablagerungen in den Gelenken .... Also: Der Körper baut sich auf, aber nicht alle Zellen wachsen zu jeder Zeit gleichmäßig. Jeder Wachstumsbereich hat seine Zeit und seinen Platz.
Du und deine Gemeinde: An welchem Ort, zu welcher Zeit bist du eine Wachstumszelle? An welcher Stelle macht dein Wachstumsbeitrag die Gemeinde stark? Bist du eher bei den Sinnesorganen dabei oder den Muskeln? Eine Hirnzelle? Schützende Haut? Ein inneres Organ? Irgendwann jedenfalls ist auch deine Zeit gekommen und die Wachstumsphase, die dann dran ist, baut auch auf dir auf.
Ohne Bild gesagt: Die Gemeinde wird nicht von einzelnen gebaut, sondern baut sich in Gottes Kraft selbst auf. Also stellt bitte die richtige Frage. Nicht: Wer baut uns denn jetzt auf? Sondern: Wie bauen wir uns jetzt auf?

Gott und sein Wort haben diese konstruktive Kraft. Aufbau. Und ein Letztes bewirkt Gott noch durch sein Wort und seine Kraft. Paulus fügt diesen Hinweis an.
„Ich vertraue euch Gott und dem Wort seiner Gnade an, das die Kraft hat, das Erbe in der Gemeinschaft der Geheiligten zu verleihen.“
Gott gibt am Ende das große Erbe.

4. Gott gibt am Ende alles.
Das Erbe in der Gemeinschaft der Geheiligten. Da wüsste man gerne, was das ist und wie das aussieht. Paulus gibt keine weiteren Einblicke. Aber eins ist klar: Das Erbe kommt am Ende. Das große Ganze kommt zum Schluss. Und das heißt: jetzt noch nicht. Jetzt ist alles, was wir sehen und glauben, alles was wir tun und versuchen – jetzt ist alles unvollständig. Es kann auch gar nicht anders sein. Denn nicht wir machen alles neu. Gott macht alles neu. Wir leben nicht im Letzten, sondern im Vorletzten. Das ist kein Betriebsunfall in Gottes Heilsgeschichte, sondern das ist gerade sein Plan. Die vorletzte Zeit ist unsere Platzanweisung.
Diese Platzanweisung ist total wichtig für uns. Für unseren Umgang miteinander. Unser Umgang miteinander ist ja sehr davon geprägt, was wir voneinander erwarten. Von meiner Frau erwarte ich lebenslange Treue. Also gehe ich auch entsprechend mit ihr um. Und wäre dementsprechend enttäuscht und verletzt, wenn sie nicht treu wäre. Von meinem Paketboten erwarte ich keine lebenslange Treue. Da darf gern auch mal ein anderer Zusteller kommen. Und ich bin auch nicht enttäuscht und schon gar nicht verletzt, wenn das passiert. Zu einem anderen Boten bin ich dann auch freundlich. – Unser Umgang miteinander ist davon geprägt, was wir voneinander erwarten.
Wir müssen in der Gemeinde das Richtige voneinander erwarten. Und da ist es eben wichtig, dass wir im Vorletzten leben und nicht im Letzten. Das große Ganze kommt erst noch. Wir dürfen es nicht schon jetzt voneinander erwarten. Jetzt werden wir unvollkommen bleiben. Wir machen Fehler aneinander und werden das auch weiterhin tun. Wir werden schuldig aneinander. Wir werden immer wieder etwas versäumen. Wir können einander das letzte Glück nicht geben. Im Leben unserer Gemeinde werden wir immer wieder nur halbe Sachen fertigbekommen, selbst dann, wenn wir mit ganzem Herzen rangehen.
Es wäre verkehrt, dann enttäuscht zu sein. Dann hätten wir zu viel erwartet: Vollendung erwartet, die jetzt noch nicht versprochen ist. Je tiefer wir unsre Platzanweisung begreifen – wir leben im Vorletzten und nicht im Letzten – je tiefer wir das begreifen, desto barmherziger werden wir miteinander sein können. Desto eher werden wir hinnehmen, wenn jemand nicht perfekt ist oder perfekt arbeitet. Je klarer wir unseren Platz hier sehen, desto eher werden wir bereit zum Vergeben sein. Denn in dieser Zeit, bevor das große Ganze von Gott gekommen ist, kommen wir ohne Vergebung nicht aus. Paulus erinnert an das Erbe, das erst noch kommt, gerade in seiner Abschiedssituation. Gerade wenn Wege auseinandergehen, ist Barmherzigkeit und Vergebung lebenswichtig. Dass wir einander zugestehen: Wir sind unvollkommen. Wir haben manchmal nur Halbes zustande gekriegt. Aber wenn dieses Halbe aus aufrichtigem Herzen kam und manchmal sogar aus ganzer Hingabe, dann war dieses Halbe genug. Genug zumindest im Vergleich zur Ewigkeit. Das große Ganze kommt erst noch, und wenn es kommt, dann bestimmt nicht von uns. In diesem Abschiedswort von Paulus an seine Gemeindemitarbeiter von Ephesus ist der Same der Barmherzigkeit gesät.

„Und nun vertraue ich euch Gott und dem Wort seiner Gnade an, das die Kraft hat, aufzubauen und das Erbe in der Gemeinschaft der Geheiligten zu verleihen.“ Vier Dinge haben wir heute über dieses Abschiedwort gehört:
Gottes Wort hat bleibende Kraft. Um die anzuzapfen, muss man es lesen. Und mutig ins Gespräch bringen.
Gottes Wort ist das Wort der Gnade. Gottes Wesen atmet Barmherzigkeit. Das soll ihm einer mal nachmachen! Jawohl, das können wir ihm nachmachen. Der Versuch allein zählt schon. Testen wir es!
Das Wort baut auf. So dass die Gemeinde sich aufbaut. Sich selbst aufbaut, alle sind beteiligt.
Gott gibt am Ende alles. Dann erst. Jetzt bleibt vieles bruchstückhaft. Schenken wir uns doch gegenseitig die Barmherzigkeit, das anzuerkennen.

Paulus nimmt Abschied. Er zeigt uns die beste Weise, Abschied zu nehmen, die es gibt: sich gegenseitig Gott anvertrauen und seinem Wort. Sich gegenseitig in Gottes Barmherzigkeit zu entlassen. Sich auch im Abschied miteinander Gott auszusetzen, wie er mit uns redet. Und was er redet, ist klar angesagt: Worte der Gnade.
Amen.

Donnerstag, 10. Juni 2010

Predigt: „Erlösung aus der negativen Gedankenspirale“

Predigt über Psalm 73
Liebe Gemeinde,
die Welt ist ungerecht – ist es nicht so?
In der Öffentlichkeit darf man nicht mehr rauchen, auf keinem Bahnsteig mehr, und Raucher sterben durchschnittlich früher. So ist das. Aber der frühere Bundeskanzler Helmut Schmidt ist über 90, raucht wie ein Schlot und darf das auch noch in der Öffentlichkeit, sogar im Fernsehen! Zweierlei Maß ist das doch. Niemand wünscht ihm was Schlechtes, aber wieso wird ein Kettenraucher 90?
Und es gibt noch schlimmere Beispiele. Der Diktator von Simbabwe, Robert Mugabe (man kann ihn gar nicht in einem Atemzug mit Helmut Schmidt nennen!), hat sein Land in den Ruin getrieben, es völlig abgewirtschaftet, lässt Gegner brutal ermorden, vertrieb Hunderttausende Bewohner aus ihren Hütten; 2008 kostete ein Ei zehn Millionen Simbabwe-Dollar. Und als er sich wiederwählen lassen wollte, sagte er doch: „Nur Gott, der mich ernannt hat, wird mich abwählen können.“ Da hat er buchstäblich sein Maul in den Himmel gehängt! Als ich diesen Satz von ihm in der Zeitung las, muss ich sagen, da dachte ich: „So, Gott, die Herausforderung hast du gehört – jetzt raffe ihn auch schleunigst dahin!“ Hat Gott aber nicht gemacht. Mugabe ist immer noch da.
Die Welt ist nicht gerecht und Gott, selbst wenn man ihn ins Gesicht herausfordert, schafft auch nicht immer sofort Gerechtigkeit. Das erleben wir im Großen wie auch im eigenen Leben. Wer hätte nicht schon geseufzt über andere, denen es so unverschämt gut geht?

Was passiert mit uns, wenn man uns ungerecht behandelt? Wenn andere auf unsere Kosten Vorteile einheimsen? Mir geht es dann so, dass ich in innere Gerichtsverhandlungen eintrete. Ich formuliere Argumente, ich klage andere an und rechtfertige mich – alles in Gedanken. Der Gerichtshof spielt sich in meinem Kopf ab. Kennt ihr das auch?
Und was ändert sich dadurch? Viel ändert sich. Ich bin angestrengt. Ich wende enorm viel Energie auf für meine Gedanken. Es ist geradezu ein Spiralnebel an Gedanken und sie saugen mich auf. Ich werde unzufrieden und blockiert. Das alles ändert sich. Bloß die äußeren Umstände, die ändern sich nicht. Nicht so.
Ich bin neulich einem Psalm begegnet, der mich geradezu mitgenommen hat auf einen Weg – ein Weg raus aus der Spirale. Derjenige, der diesen Psalm gebetet und aufgeschrieben hat, der war völlig fassungslos und aufgewühlt, weil es ihm schlecht ging und denen gut, die Gott nicht kennen. Der Beter hat sich aufgerieben daran. Bis er die Lösung, die Erlösung gefunden hat. Hören wir auf den 73. Psalm:

Lesen Sie den Psalm hier.

1. Das innere Gespräch
Es fing damit an, dass der Beter sich die anderen angesehen hat. Die, die nicht an Gott glauben – die sich jedenfalls nicht um ihn kümmern. Und er hat gesehen: Wie vielen von denen geht es gut! Sie schwimmen im Wohlstand. Sie strotzen vor Gesundheit. Sie haben keine Sorgen. So hat der Beter sie gesehen. War das wirklich mit allen Gottlosen so? Reihenweise, ohne Ausnahme, schweben sie im Glück? Dem Beter kam es jedenfalls so vor. Er hat ja keine Reportage geschrieben, keine Statistik geführt, sondern aus seiner Sicht die Welt betrachtet.
Das Schlimme daran war: Die Gottlosen waren auch noch stolz darauf. Lauthals riefen sie aus, dass Gott sich ja um nichts kümmert. Sie selbst haben sich an seine Stelle gesetzt. „Sie reißen ihr Maul auf bis an den Himmel, und ihre Zunge hat auf Erden freien Lauf.“ Da fällt einem wirklich Diktator Mugabe wieder ein. Und der Beter kann die Angeber ja nicht wiederlegen. Er kann ja gerade nicht sagen: Aber Gott legt euch doch mal das Handwerk. Denn Gott lässt sie gewähren. Nicht einmal am Lebensende kommt ein Ausgleich. „Sie leiden keine Qualen bis zu ihrem Tod.“ Sie haben ein schönes Sterben!
Ich glaube, die meisten von uns haben schon mal so gedacht. Haben die Welt schon mal so gesehen. Zu Recht: Es ist ja auch so. Wer an Gott glaubt, kann dennoch keine anderen Tatsachen ins Feld führen.

Der Beter sieht sich aber nicht nur die Welt drumherum an. Er blickt auch auf sich selbst. Und da wird er nur noch unzufriedener. „Ich leide jeden Tag Mühe“, muss er feststellen. „Ich habe auf mein Herz geachtet, dass es aufrichtig bleibt, rein – aber umsonst. Es hat nichts genützt.“ So sieht er sich und sein Leben. Um ein Haar wäre er sogar abgestürzt – hätte sich entschieden, ebenso zu leben und zu reden und zu denken wie die überheblichen Gottlosen. „Hätte ich gesagt: So will auch ich reden, dann ...“ Beinahe hätte er es gesagt. Der Beter stand kurz davor, zu ihrer Seite überzuwechseln.

Liebe Gemeinde, der halbe Psalm geht so – arbeitet sich mit diesen Gedanken ab. Der halbe Psalm lang! Und dabei ist eins auffällig: nicht das Thema – nicht dass ein Beter sich so lange mit dem Negativen beschäftigt. Das Negative ist nun mal um uns, wir können es nicht abschütteln, also braucht es auch Raum in unseren Gedanken. Aber auffällig ist dies: In all seinen Gedanken redet der Beter gar nicht Gott an. Er bleibt bei sich selbst. Er verhandelt es mit sich selbst. Den halben Psalm! Es ist wirklich wie so ein innerer Gerichtshof. Rund und rund gehen die Argumente: „Die da – aber ich habe doch – und die machen trotzdem – und es nützt nichts, dass ich ...“ Es ist fast ein Selbstgespräch. Das macht auf Dauer kaputt. Nicht das Thema. Nicht das Negative an sich. Aber dass man damit bei sich selbst bleibt. Ein Spiralnebel, der in sich kreist, der alles in sich zusammenzieht und dabei die Sicht mehr und mehr vernebelt. So wird man nicht frei.
Der Beter unseres Psalms aber wurde schließlich frei – er wurde erlöst aus seinem Spiralnebel. Sonst wäre sein Psalm womöglich gar nicht in der Bibel, wenn er nur aus dieser ersten Hälfte bestünde. Wie kam das? Wie wurde er frei?

2. Die Wende

Da sann ich nach, es zu verstehen,
Qual war es in meinen Augen,
bis ich zum Heiligtum Gottes kam ...


Bis ich zu Gott kam, in seine Gegenwart. Endlich! Endlich ist er raus aus der Spirale, ist geöffnet, ist nicht mehr bei sich allein. An den Tatsachen hat sich gar nichts geändert. Aber der Beter kommt wieder zu Luft. Jetzt erst betet er wirklich – redet mit Gott. Und ab diesem Satz ist sein Psalm eine Du-Anrede zu Gott hin. Vorher hieß es nur: Die da – und ich. Jetzt aber sagt der Beter „du“ zu Gott. Das ist der Umschwung: vom „Der-da“ zum „Du“. Endlich.
„Bis ich zum Heiligtum Gottes kam“ – das war für den Beter damals vermutlich der Tempel. Der Gottesdienst dort oder sein persönliches Gebet. Was ist heute für uns das Heiligtum Gottes? Was ist dein Heiligtum? Wie können wir solche Befreiung erleben, offen werden, erlöst aus dem Spiralnebel der negativen Gedanken?

Es ist nicht immer die Gemeinde, die hilft. Das kann zwar so sein – ich denke an meine Glaubensgeschwister und erinnere mich: Gott war treu zu denen – also wird er doch auch zu mir treu sein. Oder ich merke: Wenn ich Gott wirklich den Laufpass gäbe und abstürzen würde in die Denkweise der Gottlosen, dann würde ich viele aus der Gemeinde mit runterziehen. So hat es der Psalmbeter erlebt: „Hätte ich gesagt: So will auch ich reden, dann hätte ich die Generation deiner Söhne verraten.“ Er hätte der Gemeinde Gottes geschadet. Der Blick auf die Gemeinde kann also helfen, er kann vor Abstürzen bewahren. Wer in der Gemeinde lebt, hat links und rechts oft Leute, die ihn stützen.
Aber das allein hilft nur eine kurze Strecke. Das allein hatte damals den Umschwung noch nicht gebracht. Die Gemeinde allein besteht immer noch aus Menschen, und da kann es ja innerhalb der Gemeinde gerade diese Unterschiede geben, die dem Beter so Mühe machten: Den einen geht es gut, den andern nicht. Die einen leben hingegeben an Gott, andere halten es eher nachlässig. Nein, der Blick in die Gemeinde hilft nicht jedes Mal, der Blick auf die Geschwister kann auch gelegentlich verwirren. „Bis ich zum Heiligtum Gottes kam ...“ – die Gemeinde ist nicht automatisch schon Gottes Heiligtum.
Was aber dann? Kommt die Wende, wenn ich die Stille suche? Die Stille allein ist es auch noch nicht. Denn in der Stille können ja meine inneren Stimmen um so lauter werden und die innere Gerichtsverhandlung um so drastischer.

Ich persönlich erlebe Gottes Heiligtum, wenn ich offen und frei zu ihm bete. Also alles vor ihm ausschütte und nicht nur in mir selbst. Gottes offenes Ohr – das ist so eins seiner Heiligtümer. Gott ist mein Gegenüber und hört mir zu. Sein Ohr, mein Heiligtum. Mir helfen auch oft die Psalmen dabei. Psalmen, die ich nicht nur lese, sondern nachbete. Jede Zeile zumindest nachbete, die ich innerlich füllen kann. Der gebetete Psalm – auch der ist ein Heiligtum Gottes. Überhaupt gebetete Schriftworte, die gebetete Bibel: Heiligtum Gottes.
Noch eine andere Erfahrung kenne ich: Wenn ich mit glaubenden Weggefährten zusammen bete, mit einem oder zwei, vertraulich. Dann spüre ich sehr klar, dass ich eben nicht mehr allein bei mir bin. Sondern dass ich geöffnet bin. Gebet, das mich stärkt, höre ich von einem anderen. Gottes Wort muss ich mir nicht selbst sagen. Auch das ist für mich eine Heiligtums-Erfahrung. Und damit bin ich dann doch wieder bei der Gemeinde. Aber nicht bei der großen Masse, nicht beim Bad in der Menge, sondern es sind aufrichtige Begegnungen, in denen ich echt sein kann. Auch das also ein mögliches Heiligtum Gottes.

Auf der Suche nach Gottes Heiligtum heute muss ich aber über meine eigene Erfahrung hinausgehen. Denn die ist ja begrenzt. Wenn wir uns fragen, wo für uns Gottes Heiligtum ist, dann müssen wir unbedingt einen Namen nennen: den Namen Jesus Christus. Wenn irgendwo, dann ist er Gottes Heiligtum. Er am Kreuz. Er, auferstanden aus dem Grab. Heiliger als hier hat Gott sich nirgends erwiesen. Und zugänglicher für uns als hier ist Gott nirgends. Der gekreuzigte und auferstandene Jesus Christus ist Gottes Heiligtum für uns.
Wenn ich mich auf ihn verlasse, mich an ihn verliere, mich jeden Tag neu zu ihm bekehre, dann ist es, als wäre ich mit ihm am Kreuz. Mein ichzentriertes Leben stirbt ab. Und er schenkt es mir neu. Auferstehung – ich zusammen mit Christus. „Ich bin mit Christus gestorben“, hat ein anderer Glaubender der Bibel gesagt (Gal 2,19). Und auch: „Gott hat uns mit Christus auferweckt.“ (Eph 2,16) Wenn ich das erlebe, dann bin ich ganz bei Jesus Christus, ja ich bin in ihm. Und damit im heiligsten Heiligtum Gottes, das es gibt.
Heute ist Abendmahlsfeier. Wir setzen uns bewusst Jesus Christus aus, der für uns gestorben ist und der auferweckt wurde. Auch die Momente des Abendmahlfeierns können zum Heiligtum Gottes werden.

„Bis ich zum Heiligtum Gottes kam“ – das ist die Wende. Hier wird der Beter für Gott geöffnet und erlöst aus seinem Spiralnebel. Jetzt betet er wirklich, sagt „du“ zu Gott und wabert nicht bloß in seinen eigenen inneren Verhandlungen.
Schauen wir noch darauf, wie denn die Befreiung aussieht, nach dieser Wende.

3. Die Befreiung
Jetzt hat der Beter einen neuen Blick bekommen. Das, woran er sich bisher aufgerieben hat – all die Ungerechtigkeit, alle die, denen es so unverschämt besser ging als ihm – alles sieht jetzt anders aus.
Er sieht es nun vom Ende her. „Bis ich zum Heiligtum Gottes kam und achthatte auf ihr Ende.“ Das Ende – damit meint er nicht eine Auflösung nach der Melodie: Gott wird den Bösen schließlich Saures geben und den Frommen doch das Glück. Nein, irdisches Glück haben viele oberflächliche Menschen bis zum letzten Atemzug. Nicht einen letzten gerechten Ausgleich meint der Beter, wenn er auf das „Ende“ sieht.
Sondern er achtet darauf, wie jemand zu Gott steht. Ob er wirklich Gott zum Gegenüber hat oder nicht. Und da muss er feststellen: So wie ich in meinen Gedanken die ganzen Zeit bei mir selbst war, so sind die Gottlosen ihr ganzes Leben lang nur bei sich selbst. Ohne jemanden als Gegenüber. Und das ist schrecklich in allem äußeren Glück.

Sie verschwinden, nehmen ein Ende mit Schrecken.
Wie einen Traum nach dem Erwachen, Herr,
so verachtest du, wenn du aufwachst, ihr Bild.

Sie sind wie weggepustet – Gott hält sie nicht mehr fest. Eben das aber erfährt der Beter: Selbst wenn es mir nicht gut geht – ich habe wenigstens Gott als Gegenüber und er hält mich fest. Er ist ein viel besserer Halt als Gesundheit und Wohlstand es jemals sein könnten.

Nun aber bleibe ich stets bei dir,
du hältst mich an meiner rechten Hand.

Die anderen sind groß, meinetwegen. Aber ich bin gehalten. Das macht den Unterschied. Auf dem Gab des früheren Bundespräsidenten Johannes Rau steht sein Lebensmotto: „Teneo quia teneor“ – „Ich halte stand, weil ich gehalten werde.“ Wie der Psalm-73-Bbeter: „Du hältst mich an meiner rechten Hand.“
Beinahe hätte er Gottes Hand verloren – als er sich über die anderen ereifert hatte.

Als mein Herz verbittert war
und ich stechenden Schmerz im Innern spürte,
da war ich ein Narr und hatte keine Einsicht,
dumm wie ein Vieh war ich vor dir.

Er spürte sich selbst – in seinem Innern. Da also war er nur bei sich – und wer nur bei sich bleibt, verpasst das Leben, wie Gott es sich für die Menschen ausgedacht hat. „Wie ein Vieh!“ Als er loskam von sich selbst, in Gottes Heiligtum loskam, da wurde er erst wirklich ein Mensch.
Wer nur Glück sofort erlebt, der wird irgendwann mitsamt seinem Glück verwehen – das ist die Antwort, die unseren Psalmbeter ruhig gemacht hat.

Und die Gerechtigkeit? Wenn es doch auch am Schluss keinen Ausgleich gibt, wenn Gottlose sogar glücklich und zufrieden sterben können? Wo bleibt zum Schluss die Gerechtigkeit?
Nachdem der Beter in Gottes Heiligtum war, interessiert ihn die Gerechtigkeit gar nicht mehr. Er hatte sich vorher leer gefühlt, aber nun ist diese Leere gefüllt. Und zwar nicht mit Wohlergehen gefüllt und nicht mit gerechtem Ausgleich. Sondern sie ist gefüllt mit der Gemeinschaft mit Gott. Die wiegt schwerer als Glück. Vor dieser Gemeinschaft mit Gott verblasst jedes andere Glück.

Bin ich bei dir, so begehre ich nichts auf Erden.
Mögen mein Leib und mein Herz verschmachten,
der Fels meines Herzens und mein Teil ist Gott auf ewig.

Die Zufriedenheit des Beters geht bis in die Frage nach Krankheit und Gesundheit hinein. Selbst wenn er nicht gesund ist oder nicht gesund wird – er frisst sich nicht auf in der Sehnsucht nach Gesundheit. Sondern er ist angekommen in der Gemeinschaft mit Gott.

(Eine Unterscheidung ist hier sehr wichtig: Der Beter verzichtet auf Gerechtigkeit für sich selbst. Man kann diesen Verzicht nicht für andere aussprechen: Füge dich in dein Schicksal, als Glaubender brauchst du keine Gerechtigkeit. Sondern wenn andere Unrecht leiden, ruft Gott uns auf, dass wir für sie eintreten, den Mund für sie aufmachen. Aber für sich selbst kann es eine große Befreiung sein, wenn man dazu kommt: An meinem Recht hängt jetzt nicht alles für mich.)

Der 73. Psalm zeigt uns wie in einer Nacherzählung, wie der Beter dorthin gekommen ist. Er hat Gerechtigkeit gesucht und Gott gefunden. Als er seinen Psalm aufgeschrieben hat, da hat er einen Anfangssatz vorangestellt, und der fasst vorab schon alles zusammen:

„Tatsächlich ist Gott gut gegen Israel, gegen die, die reinen Herzens sind.“

Das ist der Schlüsselsatz. Alle Menschen suchen danach, dass es ihnen gut geht. Der Beter ebenso. Und als es ihm nicht gut ging, arbeitete er sich daran ab. Aber am Ende hat er etwas anders gefunden: Es kommt nicht darauf an, ob es mir gut geht. Sondern darauf, dass Gott mir gut ist. Damit wendet sich alles. Nicht weil es mir schließlich gut geht. Sondern weil Gott mir gut ist.

Liebe Gemeinde, mich hat es berührt, also ich vor ein paar Tagen diesen 73. Psalm wieder las. Er hat mich mit auf einen Weg genommen. Ich wünschte, er hat das heute morgen mit uns allen ebenso getan. Wir kennen sicherlich alle den Spiralnebel der Gedanken. Auch diese endlosen inneren Gerichtsverhandlungen, in denen wir glänzende Beweisketten aufstellen – nur für uns selber. Gottes Wort zeigt uns den Ausweg, die Erlösung:
Gehen wir in Gottes Heiligtum – dort, wo er sich finden lässt. Und lassen wir dann ihn an uns handeln. „Du hältst mich an meiner rechten Hand.“ Egal ob es mir gut geht oder nicht – er ist mir gut. Darin ist Freiheit – nur dort.
Amen.

Donnerstag, 3. Juni 2010

Predigt „... ein anderer Mensch werden ...“

Predigt über 1Sam 10,6
Liebe Gemeinde,
„der ändert sich ja doch nicht!“ – was ist das für ein Satz? Wie klingt es, wenn jemand das sagt? Ein Jubelruf? Bestimmt nicht. Es ist meist ein frustrierter Satz – der ändert sich ja doch nicht! Der müsste es, aber er tut es nicht. Wenn wir so reden, dann verraten wir ein Gespür dafür, dass es immer wieder nötig ist, sich zu ändern. Bertolt Brecht erzählte diese Geschichte:
Ein Mann, der Herrn K. lange nicht gesehen hatte, begrüßte ihn mit den Worten: „Sie haben sich gar nicht verändert.“ – „Oh,“ sagte Herr K. und erbleichte.
Das ist die eine Seite der Sache. Sich verändern ist nötig. Aber es gibt noch einen anderen Blickwinkel. Wenn im Fernsehen ein Politiker staatstragend ankündigt: „Große Veränderungen kommen auf uns zu und wir müssen uns auf sie einstellen“ – dann verheißt das nichts Gutes. Meist höhere Steuern oder so. Veränderungen machen Angst, weil das Kommende unbekannt ist. So sind wir Menschen nun mal: Gewohnheitstiere, beharrlich – und zugleich spüren wir doch, dass ohne Veränderungen das Leben abstirbt.

Heute feiern wir Pfingsten. Wir feiern, dass Gott seinen Geist gegeben hat und stets neu geben will. Gott bringt damit Gutes in unser Leben hinein – Heilsames. Heilung. Ich bin auf einen Bibelabschnitt gestoßen, der ganz überraschend von Gottes Geist spricht. Es ist der Ausschnitt aus einer alten Königsgeschichte aus dem ersten Teil der Bibel, aus dem Ersten Testament. Gott war auf den Wunsch seines Volkes eingegangen, das gern einen König haben wollte. Alle anderen Nationen hatten das – also wollte Israel nicht hintenanstehen. Gott ging darauf ein. Er suchte sich einen geeigneten, fähigen Mann aus, zeigte quasi mit dem Finger auf ihn – er tat das durch einen Propheten – und machte diesen Mann zum König. Saul. Der Prophet sagte dann folgendes über ihn:

(Lesen Sie hier 1Sam 10,6-9.)

„Der Geist des Herrn wird dich durchdringen ... und du wirst in einen anderen Menschen verwandelt werden.“ Wie aus heiterem Himmel trifft Saul diese Ankündigung. Und in der Tat – sein Leben geht fortan anders weiter. Er wird nicht mehr derselbe sein seitdem. Dieser Mann Saul, bis eben noch ein gewöhnlicher Bürger Israels, er hat nun sein Pfingsten erlebt. Gottes Geist kam zu ihm. Wer sich in der Bibel ein bisschen auskennt, der hat Saul eher als unglücklichen König kennen gelernt, als erfolglosen und gescheiterten Regenten. Stimmt, das kam später. Aber der Anfang, so wie Gott ihn gesetzt hat, ist klar und gerade: Gott nimmt einen Menschen in Beschlag und macht ihn anders.
Damals war es nur einer. Der kommende König. Der ist von uns heute weit entfernt. Wir folgen Jesus Christus nach, und von ihm her ist Gottes Geist jedem von uns gegeben. Nicht nur einigen wenigen, sondern uns allen. Was König Saul für sich erlebte, kann also ein Beispiel für jeden von uns sein.

„Der Geist des Herrn wird dich durchdringen ... und du wirst in einen anderen Menschen verwandelt werden.“ Hm, was passiert mit uns, wenn Gott zu uns so was sagt? Wird das Leben leichter? Erfolgreicher? Tragen wir unter unserer Kleidung nun ein Supermannkostüm? Fallen alle unsere schlechten Eigenschaften von uns ab wie Blätter im Herbst vom Baum? Oh, das wäre klasse – ich würde das meiner Frau von Herzen gönnen, dass das bei mir passierte. Aber ihr merkt schon an der Art, wie ich frage, dass dies nicht die Antwort ist. Wir können aber im biblischen Bericht erkennen, welche Folgen es hat, wenn der Heilige Geist jemanden packt. Kurz gesagt: Wer vom Heiligen Geist erfüllt wird, geht nach außen und nach innen. Er wirkt aktiv und kann warten. Er spuckt in die Hände – und er faltet die Hände.

1. Gottes Geist befähigt
„Dann wird der Geist des HERRN dich durchdringen, [...] und du wirst in einen anderen Menschen verwandelt werden. Und wenn diese Zeichen für dich eintreffen, tu, was sich dir anbietet, denn Gott ist mit dir.“ Tu, was dir vor die Hände kommt. Gott begleitet das. Gott heißt das gut, was du dir aussuchst, dass du es tun möchtest.
Gottes Geist rüstet mit Fähigkeiten aus und stellt dabei zugleich in eine große Freiheit. Zu wem Gottes Geist kommt, der wird etwas bewirken können, der zieht Spuren. Bei Saul war es so. Er konnte sich nun an die Spitze seines Volkes stellen, konnte Wege zeigen, Widerstände überwinden. Er war zu Dingen imstande, die er vorher so nie im Blick hatte. Das ist die eine Wirkung des Heiligen Geistes. „Du wirst in einen anderen Menschen verwandelt werden“ – Gott macht dich stark. Gott macht dann auch selbstbewusst. „Tu, was sich dir anbietet, denn Gott ist mit dir.“ Gott würdigt seine Kinder, dass sie selbst ermessen können, was jetzt dran ist. Mutlose Menschen werden munter. Müde Leute wachen auf. Wer bisher nicht wusste, wozu er gut war, der bekommt eine Ahnung davon. Gottes Geist bringt dich voran, so dass du wiederum andere voran bringen kannst.
Das ist das eine – die Bewegung nach außen. Das ist die eine Hälfte. Gottes Geist führt aber zugleich auch nach innen.

2. Gottes Geist lässt innehalten
Saul bekommt noch eine zweite Anweisung, und sie klingt wie das komplette Gegenteil zur ersten. „Sieben Tage sollst du warten, bis ich zu dir komme und dich wissen lasse, was du tun sollst.“ So sagt es der Prophet, der Saul all das ankündigte. Warte, und wenn es eine volle Woche sein muss, warte auf Gottes Wort. Erst dann leg los. Es gibt Situationen, da käme uns alles Mögliche vor die Hände, das wir tun könnten. Wir bräuchten nur zulangen. Aber dann ist es dran zu warten. Auf Gottes Wort zu warten. Der Heilige Geist verschafft uns nicht sofort nach 15 Minuten alle Antworten. Aber er tut etwas anderes – er hilft uns zu warten.

Was passiert mit uns, wenn wir plötzlich zum Nichtstun verurteilt sind? Wenn wir eine unwillkommene Wartezeit erleben? In der Schlange vor der Supermarktkasse oder im Stau oder plötzlich im Krankenbett, wo nichts mehr geht, oder wenn uns in irgend einer erhofften Angelegenheit der Zug vor der Nase weggefahren ist? Wir können dann nichts mehr aktiv machen, wir müssen warten – was passiert dann mit uns? Wir sind oft dann mit uns selbst allein. Uns selbst überlassen – und wir müssen es dann aushalten, dass wir allein uns selbst gegenüber stehen. Schonungslos, mit Licht und Schatten. Mit allen inneren Anklagen oder unangenehmen Regungen. Manchmal gehen wir mit anderen ins Gericht, manchmal mit uns selber. Wartezeiten wollen wir so kurz wie möglich halten. Aber manchmal ist es gerade die Wirkung des Heiligen Geistes, dass wir in die Warteschleife geschickt werden. Und wir sind dann eben doch nicht nur alleine uns selbst gegenüber gestellt. Sondern Gottes Geist ist dabei.
Wir müssen dann fähig sein, nach innen zu gehen. Lieber würden wir handeln, entscheiden, gestalten. Wenn nötig, wären wir zum Äußersten bereit. Aber gerade das ist dann nicht dran. Nicht zum Äußersten, sondern im Gegenteil zum Innersten müssen wir bereit sein. Gottes Geist gestaltet nicht nur die Welt um uns herum, nach außen. Sondern er gestaltet auch uns selbst, unseren Charakter – das zielt nach innen. Und auch auf diesem Weg werden wir „in einen anderen Menschen verwandelt“.
Wenn Gottes Geist also uns packt, dann aktiviert er uns – und mutet uns zu anderer Zeit zu, dass wir warten. Beides kommt von demselben Geist. Es lässt uns die Ärmel aufkrempeln und in die Hände spucken – und lässt uns ebenso die Hände falten.

Wir sind hier allesamt in sehr verschiedenen Lebenssituationen und sind vom Schöpfer auch mit sehr verschiedenen Charakteren ausgestattet. Einige sind eher zurückhaltend und lassen im Zweifelsfall dem anderen den Vortritt. Einige sind oft unsicher über das, was sie tun könnten, sie fühlen sich wohl, wenn der Spatz in der Hand sicher ist und verzichten gern auf die Taube, die jetzt noch auf dem Dach sitzt. Andere leben auf, wenn es rund geht, und haben kaum die Zeit, all ihren Ideen nachzukommen. Beides kann gut sein. Beides kann auch gelegentlich verkehrt sein. Herausfinden kann es jeder nur selbst, was Gottes Geist jetzt als nächstes mit ihm vorhat: aktivieren, ermuntern? Oder zur Ruhe bringen und Mut machen, eine Wartezeit auszuhalten? Führt Gottes Geist dich nach außen oder nach innen? Stellt er dir Möglichkeiten vor Augen und du solltest mutig zugreifen? Diese Fortbildung – jene Verantwortung? Oder stellt er dir deine Schattenseiten vor Augen und du solltest innehalten und dich denen stellen?
Beides ist Wirkung desselben Heiligen Geistes. Und beides sind Wege, verwandelt zu werden – „dann wird der Geist des HERRN dich durchdringen, [...] und du wirst in einen anderen Menschen verwandelt werden. Und wenn diese Zeichen für dich eintreffen, tu, was sich dir anbietet, denn Gott ist mit dir. Und du sollst [losgehen], und sieh, ich werde herabkommen zu dir [...]. Sieben Tage sollst du warten, bis ich zu dir komme und dich wissen lasse, was du tun sollst.“

Aktiv werden oder innehalten – Wege, durch Gottes Geist ein anderer Mensch zu werden. Eins ist bei diesen beiden Wegen gleich: Gott bringt dich jedes Mal in Verbindung mit seiner Königsherrschaft, mit seinem Reich. Er stellt dein Leben in einen größeren Rahmen, nämlich in den Rahmen des Reiches Gottes. Entweder sein Geist macht dich tatkräftig, stärkt deine Hände. So kannst du mitwirken für sein Reich, das sich ausbreitet. Oder aber Gottes Geist arbeitet innen dir, an deinem Charakter, er stärkt dein Herz. Auch das hat einen Zusammenhang zum Reich Gottes. Es will ja jeden Menschen erfassen, auch dich, von innen heraus. Gottes Reich wächst nach außen und nach innen, es stärkt deine Hände und dein Herz. „Hier sind Herz und Hände für die neue Welt“, singen wir manchmal. Und gerade so wirst du verwandelt und ein anderer Mensch: indem du nicht mehr bei dir bleibst, sondern in den größeren Rahmen des Reiches Gottes hinein kommst.

„Dann wird der Geist des HERRN dich durchdringen, [...] und du wirst in einen anderen Menschen verwandelt werden.“ Verlockende Aussicht? Die Tür ist aufgestoßen und ich muss nicht bleiben, wie ich bin? Oder beängstigende Aussicht? Hilfe, irgendwas ändert sich und wer weiß, worauf das hinausläuft?
Egal ob das Anderswerden uns fasziniert oder verschreckt – eins können wir an der Person sehen, die diese Verheißung bekam, an Saul: Wir können an ihm sehen, wie es zugeht, wenn diese Veränderungskraft des Heiligen Geistes fehlt. Wenn der Geist irgendwann einmal nicht mehr wirkt und wenn derjenige kein anderer Mensch mehr ist, sondern letztlich doch der alte bleibt.

3. Wenn Gottes Geist fehlt ...
Saul war von Gott als König berufen und er war für diese Aufgabe mit allem ausgerüstet, was er dazu brauchte. Er hatte gute natürliche Anlagen. „Er war jung und schön, und unter den Israeliten gab es keinen schöneren Mann als ihn, er überragte alles Volk um Kopfeslänge.“ (1Sam 9,2) Saul hatte außerdem eben die Gabe des Heiligen Geistes bekommen. Und er hatte den Propheten Samuel als Gegenüber, der ihm Gottes Wort sagte. Saul hatte auf diese Weise in der Kraft des Geistes einen guten Start. Aber schon bald begann er, all das zu verspielen. Er verließ sich nicht mehr allein auf Gott, sondern folgte seinen eigenen Ideen. Er nahm Rücksicht auf die Leute, was die wohl denken, und befolgte Gottes Weisungen nur noch zur Hälfte. Irgendwann hat Gott dann seine Beauftragung zurückgenommen – Saul sollte nicht mehr König sein. Seitdem verlief sein Leben total tragisch. Das Leben eines Menschen, der eben nicht mehr von Gottes Geist bestimmt wird. Ein Mensch, der gegen den Strom von Pfingsten lebt. Was für ein Bild ergibt sich da?

Es ist ein gehetzter Mann. Ein misstrauischer Mann. Überall wittert er Feinde, auf jedem Stuhl, hinter jedem Strauch. Andererseits möchte er es den Leuten Recht machen. Er klammert sich an die Macht. Er ist gewaltbereit. Und hinter all dem steht offenbar seine Angst. Angst, die Macht zu verlieren, Angst, das Gesicht zu verlieren. Wer nicht mehr von Gottes Geist durchdrungen ist, der ist der eigenen Angst preisgegeben.
Die biblische Erzählung zeigt uns für das Leben dieses Mannes, der von allen guten Geistern verlassen ist, immer wieder ein bestimmtes Bild. Fünfmal wird erzählt, die Saul da sitzt, auf dem Thron z. B., mit seinem Speer in der Hand. Das war seine Angewohnheit geworden: Wo er geht und steht und sitzt, den Speer in der Hand zu halten. Immer wieder benutzt er ihn auch in rasender Wut (meine Kinderbibel von Anne de Vries hatte das eindrücklich illustriert). Eine Erzählung zeigt Saul in seinem Zelt schlafend – und am Kopfende, griffbereit, steckt der Speer im Boden. Saul hat Gottes Geist verloren und ist dennoch nicht bereit, umzukehren. Also bleibt ihm nur eins, auf das er sich verlassen kann: sein Speer. Erschütterndes Bild eines angstgehetzten Menschen. Eigentlich zutiefst krank.
Liebe Gemeinde, nun sehen wir, wie lebensnotwendig es ist, „von Gottes Geist durchdrungen und in einen anderen Menschen verwandelt zu werden“: Wo das nicht passiert, muss man zu anderen Stützen greifen. Saul verließ sich auf seinen Speer. Er war innerlich kaputt und er machte andere kaputt. Bemitleidenswert und zugleich tragisch.

Nicht jeder heute hält seinen Speer in der Hand. Manche schon – manche teilen lieber vorsorglich nach allen Seiten aus. Von Angst getrieben. Andere haben es weniger mit dem Speer, aber sie halten ständig den Schild hoch. Distanzieren sich, lassen keinen zu nahe kommen, bleiben unnahbar. Letztlich ist Angst der Grund. Wieder andere schätzen statt Speer und Schild das Podest. Dort klettern sie drauf, versuchen zu beeindrucken, wollen stets andere überragen – und das darf für sie auch nicht anders sein. Aus Angst kommt das. Oder aber jemand hält sich nur noch in der Nähe eines Baumes auf, um sich notfalls dahinter zu verstecken. Wo Mut gefragt wäre oder mal eine Verantwortung zu übernehmen, da geht’s schnell hinter den Baum, bis es vorbei ist.
Egal ob Speer, wie Saul, oder Schutzschild, egal ob Podest oder Versteckbaum – eins ist bei allen Hilfsmitteln gleich: Wer sie nötig braucht, lebt nicht gesund. Es ist kein freies Leben. Es ist mehr oder weniger stark deformiert. Das sage ich, ohne mit dem Finger zu zeigen. Denn immer steht ja Angst dahinter und Angst ist eine zutiefst menschliche Regung. Das ist nicht zu verurteilen. Diese Angst führt zwar zu sündigen Reaktionen. Das Leben ist deformiert – Sünde deformiert. Aber ich möchte die Speernutzer und Schildträger und Podestbesteiger und Baumverstecker nicht verurteilen. Ich selber kenne diese Hilfsmittel doch auch zu gut.
Nicht anprangern also. Wohl aber den Weg zur Heilung zeigen. Und das ist der Heilige Geist. Saul mit seinem Speer war von allen guten Geistern verlassen. Vorher, als er vom Heiligen Geist durchdrungen war, da lebte er klar. Der Heilige Geist also formt dein Leben zurück in die Gestalt, die gesund ist und nicht mehr deformiert. Wie macht der Heilige Geist das? „Du wirst in einen anderen Menschen verwandelt werden.“ So macht er das. Entweder er aktiviert deine Hände, du erlebst, wie du Gottes Reich mit ausbreiten kannst. Oder er gibt Mut, dich deinem Charakter zu stellen, einschließlich deiner Schatten. Er stärkt dein Herz und du erlebst, wie Gottes Reich durch dich hindurchgeht. „Der Geist des HERRN wird dich durchdringen, und du wirst in einen anderen Menschen verwandelt werden.“ So wird dein Leben gesund. Saul kannte diese Erfahrung. Saul hat so begonnen.

Ich möchte schließen mit einer Einladung, und die klingt ganz schlicht:

4. Verlass dich auf den Heiligen Geist
Das wäre die Reaktion, wenn Gottes Geist dich durchdringen will. Er will das – der Geist. Und was willst du? Deine Reaktion kann die sein: Verlass dich auf ihn.
Diese schlichte Einladung meine ich ganz wörtlich und ganz bedeutungsstark. Verlass dich auf ihn – das beginnt so: Verlass dich. Verlasse dich, dein Leben mit seinen Speeren, Schilden, Podesten, Versteckbäumen. Verlass deine Angst, wenn sie dein heimliches Lebenszentrum geworden ist. Verlass dich, dein So-sein, sofern es ohne Geist ist. Verlass dich dann zu Gott hin, auf Gott hin. Verlass dich auf ihn.

Macht es da noch Angst, wenn man ein anderer Mensch werden soll? Muss man da noch denken: „Hilfe, Veränderung, ich weiß nicht, worauf das hinausläuft?“ Wer sich nicht verlässt, bleibt bei sich selbst. Bei sich als altem Menschen. Von allen guten Geistern im Stich gelassen. Den Speer in der Hand. Deformiert. Der einzige Weg zur Gesundung ist: sich verlassen. Verlass dich auf Gottes Geist. Keine Angst: Er nimmt dir das Leben nicht weg. Im Gegenteil: Er heilt dich.

Ich wiederhole noch mal, was Gottes Geist vorhat: Er befähigt. Stellt dich in den Rahmen von Gottes Reich – du spuckst in die Hände und darfst mitwirken. Oder Gottes Geist lässt dich innehalten. Du wartest, stellst dich deinen Schatten. Bekommst Kontakt zu Gottes Reich, das deinen Charakter prägt. Du faltest die Hände und hältst aus zu warten.
Wir feiern Pfingsten. Gottes Geist kam zu den Menschen und kommt immer neu. Über den Heiligen Geist sagt die Bibel: „Eifersüchtig sehnt Gott sich nach dem Geist, den er in uns wohnen ließ.“ (Jak 4,5) Gott sehnt sich nach seinem Geist in mir und in dir. Findet er ihn in uns wieder?
Lasst uns hingehen zu Gottes Geist. Verlass dich. Verlass dich auf den Heiligen Geist.
Amen.

Mittwoch, 19. Mai 2010

Bibelstudie "Bestandsaufnahme" 8: Laodizea

8 Der Brief an die Gemeinde Laodizea, 3,14-22
Die Stadt Laodizea lag im Tal des Flusses Lykos – wie auch Kolossä. Eine andere Nachbarstadt war Hierapolis. Alle drei Städte werden im Kolosserbrief erwähnt; die Gemeinden dort waren durch Paulus’ Lehre geprägt, aber wohl nicht von Paulus gegründet (eher von Epaphras). In Laodizea versammelte sich die Gemeinde (auch?) im Haus der Nympha (Kol 4,15)
Benannt war die Stadt nach der Frau des Königs, der sie gegründet hat (Laodike). Zwischen ihren Nachbarstädten hatte Laodizea eine besondere Position. Kolossä war von der Natur ausgestattet mit Quellen, die kaltes, Frisches wasser lieferten. Hierapolis dagegen hatte heilende Thermalquellen. Laodizea aber hatte gar keinen eigenen natürlichen Wasserzugang. Noch heute sieht man Ruinen von Wasserleitungen (Aquädukten und Steinröhren; Bild 1, Bild 2, Bild 3, Bild 4, Bild 5), mit denen die Stadt versorgt wurde. Durch den langen Transportweg in einem heißen Land wurde das Wasser, bis es in die Stadt kam, lauwarm. Die Wasserleitungen zeigen heute Spuren von Verkalkung – das Wasser darin war also nicht das reinste gewesen.
Eine Stadt in so ungünstigen Naturbedingungen zu gründen muss seine guten Gründe gehabt haben. Sie lag an einem wichtigen Verkehrskotenpunkt, außerdem in der Gegend von ergiebigem Weideland. Die Schafe, die dort gehalten wurden, waren eine spezielle Rasse mit schwarzer, besonders weicher Wolle. So wurde die Stadt berühmt für ihre besondere tiefschwarze Wollproduktion und hatte einen große Textilindustrie. Der daraus entstehende Reichtum machte die Stadt zu einem wichtigen Bankzentrum. Cicero schrieb von seinen Reisen, dass er seine Schecks in den Banken hier einlöste, und empfahl das auch seinen Freunden.
Schon aus anderen Städten haben wir von der Zerstörung durch Erdbeben gehört. Laodizea war zweimal betroffen. 17 n. Chr – sie wurde dann mit Hilfe kaiserlicher Gelder wieder aufgebaut. 61 n. Chr. aber, bei der zweiten Zerstörung, war sie so reich, dass sie keine Hilfe von außen annahm, wie der Historiker Tacitus schrieb: „In demselben Jahre wurde eine bedeutende Stadt Kleinasiens, Laodizea, durch ein Erdbeben zerstört. Doch half sie sich ohne irgendwelche Beihilfe unsererseits nur durch eigene Kraft wieder auf.“
Berühmt war die Stadt außerdem durch die Produktion von Medizin. Zum einen war das Salbe gegen Ohrenkrankheiten, zum anderen ein Pulver gegen Augenerkrankungen, das mit Öl vermischt ebenfalls eine Salbe ergab.

Ganz offenkundig greift der erhöhte Christus die speziellen Gegebenheiten dieser Stadt auf, wenn er an sie schreiben lässt.

8.1 Wer redet zur Gemeinde – wie zeigt sich Christus?
In Jes 65,16 wird Gott der „Gott des Amen“ genannt – Gott ist der Amen, Gott ist die Treue in Person. Das nimmt Christus gleichermaßen nun für sich in Anspruch. Er ist zuverlässig durch und durch.
Treu war er auch schon, als er „vor Pontius Pilatus das gute Bekenntnis bezeugt hat“ (1Tim 6,13). Die Bezeichnung „treuer Zeuge“ erinnert an Jesu Passion. Als er schon in Offb 1,5 so genannt wurde, kam gleich die Erinnerung an die Auferstehung hinzu: „Erstgeborener von den Toten.“. Hier nun, in diesem Brief, heißt er der „Anfang der Schöpfung Gottes“: Das deutet zurück auf die ursprüngliche Schöpfung und vielleicht auch auf die Neuschöpfung durch die Auferweckung. Jedenfalls umgreift Christus die ganze Geschichte – als der, „der ist und der war und der kommt“ (1,4).
Christus ist die Achse durch den ganzen folgenden Brief. Er sagt nacheinander: Ich bin, ich kenne, ich will, ich komme, ich gebe.

8.2 Was in der Gemeinde falsch lief
Die Anklage Christi an diese Gemeinde, ist komplett und umwerfend. Die gesamte Gemeinde steht unter Anklage. Es gibt weder „einige“ noch einen Rest (wie in anderen Gemeinden), der ausgenommen wäre.
Der Vorwurf des Herrn: Die innere Verfassung der Gemeinde ist ebenso wie die naturgegebene Situation der Stadt – sie ist lauwarm. „Seid brennend im Geist“ (Röm 12,11) – Fehlanzeige. Mit Lauheit kann zunächst Halbherzigkeit und innere Trägheit gemeint sein. Christus „ist zu Gast in Laodizea, und sie schenken ihm seelenruhig lauwarm ein. Sie bedienen ihn mit ihrem trägen Dienst, mit ihren schleppenden Gottesdiensten, leiernden Gebeten und mit ihrer nachlässigen Seelsorge. [...] Alle Gemeindelauheit, alles träge und uninteressierte Wesen, auch Menschen gegenüber, verletzt ihn. Was einem seiner geringsten Brüder angetan wird, wird ihm angetan.“ (A. Pohl)

In dieser Beschreibung wird schon deutlich, dass es nicht nur um inneres Versagen geht, sondern auch ihre „Werke“, die eigentlich für Menschen da sein sollten, sind unbrauchbar. Die heißen Quellen der Nachbarstadt Hierapolis konnten Kranken zur Genesung helfen. Die klaren kalten Wasser der anderen Nachbarstadt Kolossä konnten müde Wanderer erfrischen. Die Gemeinde Laodizea „lieferte weder Erfrischung für die geistlich Verdorrten noch Heilung für die geistlich Kranken“ (Rudwick / Green). Die Gemeinde blieb ihren Dienst schuldig.
„Nicht nur Christus, auch der Satan weiß um den geistlichen Tiefstand der Gemeinde (vgl. 3,1). Darum lässt er sie vollständig in Ruhe. So verlautet nichts von Verführung oder Verfolgung, von Verleugnen, Abfall oder Erschütterung. Alles ist intakt und alles findet statt. Der Mitgliederstand gibt zu keiner Sorge Anlass. Ja, die lauen Glieder halten den Herrn Jesus Christus für so harmlos, dass die nicht einmal austreten“ (A. Pohl)

Später (V. 17) wird eine unerbittliche Folge von fünf Beschreibungen aufgezählt:
· elend
· erbärmlich
· arm
· blind
· nackt
Die Wurzel dabei wird die Blindheit sein: Wer damals blind war, verarmte, und wer arm war, konnte sich nicht kleiden.

Beachtlich ist dies: Offenbar gab es in dieser Gemeinde kein falsches Bekenntnis, keine Irrlehre. In den Gemeinden, wo dies der Fall war, haben die Briefe es auch klar angesprochen. Hier verlautet keine Lehr-Korrektur. Das aber bedeutet: Die geistliche Gesundheit einer Gemeinde steht und fällt nicht allein mit der rechten Lehre! Man kann in Bekenntnisfragen vollkommen korrekt sein, die zutreffenden Formulierungen aufsagen, richtige Kenntnisse haben und diese durchaus überzeugt vertreten – und dennoch geistlich ausgehöhlt, ja tot sein!

8.3 Die Selbsteinschätzung der Gemeinde
Erschütternderweise sah die Gemeinde sich selbst völlig anders – eher im Einklang mit dem äußeren Wohlergehen der Stadt. Drei Selbstdiagnosen sprach sie aus:
· reich
· wohlhabend (als Dauerzustand)
· brauche nichts
Wie die Stadt nach dem zweiten Erdbeben sich aus eigenen Kräften helfen konnte, so meint auch die Gemeinde dazustehen. Diese Fehleinschätzung ist ein altes Lied, das in Gottes Volk immer wieder angestimmt wurde und das von den Propheten angeprangert wurde:

Efraim aber sagte: Wie reich bin ich geworden! Ich habe mir ein Vermögen verschafft. Bei all meinem Erwerb wird man keine Schuld an mir finden, die Sünde wäre. Hos 12,9

4 So spricht der HERR, mein Gott: Weide die Schlachtschafe! 5 Ihre Käufer schlachten sie, ohne es zu büßen, und ihre Verkäufer sagen: Gelobt sei der HERR: Ich bin reich geworden!, und ihre Hirten, sie haben kein Mitleid mit ihnen. 6 Ich werde kein Mitleid mehr haben mit den Bewohnern der Erde! Spruch des HERRN. Sondern sieh, ich lasse jeden einzelnen Menschen in die Hand seines Nächsten fallen und in die Hand seines Königs, und sie werden die Erde verheeren, und ich werde sie nicht aus ihrer Hand retten! Sach 11

Das hätte Warnung genug sein können. Noch tiefer enthüllt sich die Falschheit dieser Gemeinde aber, wenn die Offenbarung später das Bild der antigöttlichen Stadt Babylon zeichnet – und diese Stadt redet genauso hochmütig und selbstsicher:

7 Was sie an Pracht und Luxus genossen hat, das gebt ihr nun an Qual und Trauer! Denn in ihrem Herzen sagt sie: Als Königin sitze ich auf dem Thron, und Witwe bin ich nicht, und Trauer werde ich nie sehen. 8 Darum werden die Plagen über sie kommen an einem einzigen Tag: Tod und Trauer und Hunger, und im Feuer wird man sie verbrennen, denn mächtig ist Gott, der Herr, der sie richtet. Offb 18

Es wird deutlich, dass zwei Schäden oft Hand in Hand gehen: Blindheit und Selbstgerechtigkeit, Selbstrechtfertigung. Wer blind ist, sagt: „Ich brauche nicht ...“ – und wer sagt: „Ich habe es nicht nötig“, bleibt blind.

8.4 Was Christus zu tun androht
Schon zuvor haben wir an anderen Gemeinden gesehen, dass die Christus zum Gegner bekommen können: „Ich komme über dich ...“ auch diese Gemeinde droht Christus angewidert auszuspucken. Es kann keine Rede davon sein, dass jede Gemeinde zu jeder Zeit Christus für sich hätte und Christus auf ihrer Seite – das wäre wieder falsche Selbstsicherheit. Hier in Laodizea stellt sich Christus noch stärker gegen die Gemeinde: „Im Blick auf vier Gemeinden sprach der Herr: Ich habe etwas wider dich! Hier heißt es: Du bist mir widerlich! Das ist der Gipfel der Verurteilung.“ (A. Pohl)
Es gibt also Situationen, wo gepredigt werden muss: „Nichts ist gut in ... Nichts ist gut an diesem Ort!“

8.5 Was Christus jetzt sofort tut
Die Drohung ist noch nicht durchgeführt. Zuvor stellt Christus anderes in Aussicht. Das beruht auf seiner Einschätzung. Unter den fünf Diagnosen war auch das Wort „erbärmlich“. Wer erbärmlich ist, dessen muss man sich erbarmen, und genau das tut der erhöhte Herr! Er nennt seine Motivation: „Wen ich liebe ...“ (V. 19). Hier benutzt er nicht das Wort für die göttliche, schenkende Liebe (agápe), sondern für die freundschaftliche Liebe, in der Zuneigung mitschwingt (philía). Freundschaft zu dieser Gemeinde! Immer noch! Christus benutzt dieses Emotionswort, um fortgesetzt um sie zu werben.

In der Stadt der Händler und Bankiers geht Christus so weit, selbst als Händler aufzutreten, der seine Waren anbietet: Gold, weiße Kleider, Augensalbe. Die Gemeinde müsste wahr werden und sich demütigen, erkennen, dass sie das eben doch braucht. Die Metropole der Medizin braucht selbst Arznei. In der Stadt der Textilproduktion braucht man Kleidung, die nun dort gerade n zu bekommen ist: Schwarze Wollgewänder machten die Stadt berühmt, aber in Wirklichkeit werden weiße Gewänder gebraucht (die Kleidung der vor Gericht Freigesprochenen). Das bekommt die Gemeinde nicht aus eigenen Reserven, sondern nur von ihm.

Christus bietet zu kaufen an, ohne dass er einen Preis nennt (allenfalls die entschlossene Buße wäre der Preis). Vielleicht deutet er – nach Jes 55 – an, dass der Preis für den momentanen Lebensstil hoch ist, schmerzlich teuer, während sein Angebot gar nichts kostet:

1 Auf, geht zum Wasser, all ihr Dürstenden, und die ihr kein Silber habt, geht, kauft Getreide, und esst, und geht, kauft Getreide, nicht für Silber, und Wein und Milch, nicht für Geld! 2 Warum bietet ihr Silber für etwas, das kein Brot ist, und euren Verdienst für das, was nicht sättigt? So hört mir zu, und esst Gutes, damit ihr eure Freude habt am Fett. 3 Neigt euer Ohr, und kommt zu mir! Hört, dann werdet ihr leben ... Jes 55

Die unermessliche Liebe als Beweggrund wird Christus noch weiter unterstrichen im Siegerspruch (V. 22, s.u.). Schon hier ist klar: Seine von innen völlig zerstörte Gemeinde ist von Christus nicht aufgegeben.

Auf ein einziges verzichtet Christus: darauf, sich selbst in diese Gemeinde hineinzudrängen. Er steht lediglich vor der Tür, klopft und ruft. Mehr nicht. „Obwohl es ihm nicht an Schlüsseln fehlt (1,18; 3,7), überlässt er das Öffnen den Menschen selbst.“ (Pohl) Die Wahl liegt bei der Gemeinde. Bleiben sie bei ihrer Selbsteinschätzung und Selbstrechtfertigung?

8.6 Was die Gemeinde tun muss
Um die Blindheit zu überwinden, ist zweierlei nötig: Umkehr und sich zu ereifern (V. 19b). Beide Aufforderungen stehen in unterschiedlichen Zeitformen. Die Umkehr, Buße wäre eine entschlossene punktueller Maßnahme (tu es jetzt!).
Sich zu ereifern steht in einer Sprachform, die Dauer meint: Versetze dich in einen Zustand des Eifers. Dabei ist vielleicht nicht ein „Feuereifer“ Gemeinde, wie wenn Kinder sich in ein Spiel versenkt haben und gar nicht herauszurufen sind. „Eifer“ hat in der Bibel oft den klang eines Aufbegehrens, sich Ereiferns. Die Zürcher Übersetzung von 2007 schreibt: „Empöre dich!“
Auch solche Kräfte und Emotionen müssen zur rechten Zeit, am rechten Ort möglich sein – sie sind sogar geboten. Jesus hat zwar in seiner Verkündigung oft gezeigt: Buße ist Freude. Aber der Weg zu dieser Freude kann durchaus durch den engen Pass der Empörung führen – und zwar der Empörung über sich selbst! Dem auszuweichen hieße, die Buße wieder nur lauwarm serviert bekommen zu wollen. Die neutestamentlichen Verkündiger zeigen sehr wohl, wie nötig eine richtige Selbst-Empörung ist:

8 Indes, auch wenn ich euch mit meinem Brief betrübt habe, bedauere ich es nicht. Auch wenn ich es bedauert habe – ich sehe ja, dass jener Brief euch betrübt hat, und sei es nur für eine kurze Zeit –, 9 so freue ich mich doch jetzt, nicht weil ihr betrübt wurdet, sondern weil die Betrübnis euch zur Umkehr geführt hat. Denn es war Gottes Wille, dass ihr betrübt wurdet, und so seid ihr durch uns zu keinerlei Schaden gekommen. 10 Denn die Betrübnis, die nach dem Willen Gottes ist, bewirkt eine Umkehr zum Heil, die niemand bereut. Die Betrübnis der Welt aber führt zum Tod. 11 Denn seht, ihr seid nach dem Willen Gottes betrübt worden: Wie viel Einsatz hat dies doch bei euch ausgelöst, ja Bereitschaft zur Entschuldigung, Entrüstung, Gottesfurcht, Sehnsucht, Eifer, Willen zu gerechter Bestrafung. In allem habt ihr euch in der Sache als schuldlos erwiesen. 2Kor 7

8 Naht euch Gott, und er wird sich euch nahen! Reinigt eure Hände, ihr Sünder, und läutert eure Herzen, ihr Zweifler! 9 Wehklagt nur und trauert und weint! Euer Lachen verwandle sich in Klage und eure Freude in Kummer! 10 Erniedrigt euch vor dem Herrn, und er wird euch erhöhen. Jak 4

8.7 Was Christus der Gemeinde verspricht
Der Gemeinde steht nicht nur Mahlgemeinschaft in Aussicht. Das war damals im Orient die alltägliche schöne Form der Verbundenheit und des Willkommens. (Der Ausdruck ist so allgemein und die Praxis so vertraut, dass man nicht notwendig ans Abendmahl denken muss.)

Sondern auch die Throngemeinschaft, die Christus mit dem Vater hat, teilt er mit seiner durch Buße geheilten Gemeinde. Eine außerordentlich hohe Verheißung für die außerordentlich stark geschädigte Gemeinde!
Den Thron einzunehmen – das könnte ein Hinweis darauf sein, dass die Gemeinde endlich fähig würde, ihren Dienst an der „Welt“ auszuüben: Dazu hatte Christus ja seine Jünger berufen, dass sie einstmals Gerechtigkeit in die Welt bringen sollten, von ihrem Throndienst ausgehend (Lk 22,30). Mehr noch aber liegt in dieser Verheißung eine Gnaden- und Liebeszusage:
„Ihr mit mir auf meinem Thron, so wie ich mit meinem Vater auf seinem Thron“ – Das heißt nichts Geringeres als dies: Christus öffnet die intime Liebesgemeinschaft zwischen seinem Vater und sich für seine Nachfolger! Eben so hat er es schon früher gebetet:

Und ich habe ihnen deinen Namen kundgetan und werde ihn kundtun, damit die Liebe, mit der du mich geliebt hast, in ihnen sei und ich in ihnen. Joh 17,26

Hat eine Gemeinde wie Laodizea eine solch kostbare und unerhört große Verheißung verdient? Verdient natürlich nicht – verdient hätten die Treuen das aber auch nicht. Aber einer lauen Laodizea-Gemeinde sollte hier deutlich werden, dass sie nichts zu verlieren hat, wenn sie sich der Wahrheit stellt. Christus demaskiert, Christus mutet die Demütigung zu (um der Wahrheit willen), aber nicht um kaputt zu machen. (Kaputt ist die Gemeinde sowieso schon total.) Sondern das Ziel der Buße ist die Rückkehr in die Liebe des Vaters.

Montag, 10. Mai 2010

Predigt: „Ich muss mich entscheiden – wo ist mein Kompass?“

Predigt über Kol 1,3-11
Liebe Gemeinde,
wir haben vorhin zum Muttertag die Mütter in den Mittelpunkt gestellt. Wer von uns nur ein bisschen nachdenkt, muss Hochachtung vor dem bekommen, was Mütter leisten. Zwar machen Mütter nicht die ganze Erziehungsarbeit allein – aber sie verbringen doch einen Großteil ihrer Zeit damit. Über den Lehrerberuf hat mal jemand gesagt: Als Lehrer musst du in jeder Minute eine Menge an Entscheidungen treffen. Man steht in der Klasse – und Minute für Minute dies entscheiden, so reagieren, jenes anstoßen. Ich denke, für Mütter gilt das genauso. Inmitten der Kinder müssen sie laufend entscheiden. Hingehen, wenn einer plärrt, oder selber zurechtkommen lassen? Jetzt eine Strafe androhen, wenn das Kind etwas nicht tut – oder lieber eine Belohnung, damit es das tut? Oder gar nichts von beiden? Und wenn es mit Freunden fröhlich lärmend von draußen kommt – soll ich erst schnell den Teppich aufrollen, damit er nicht schmutzig wird, oder den Schrank mit den Keksen überwachen oder die Kinder lieber sofort ins Bad zum Händewaschen umleiten? Oder wieder nichts von all dem und sie einfach herzlich umarmen, egal wie dreckig sie sind?

Mütter müssen Entscheidungen treffen – sie besonders. Viele andere von uns auch, im Beruf oder sonst wo. Manche Entscheidung ist schnell gefasst, und wenn sie falsch war, kommt das auch schnell wieder in Ordnung. Andere Entscheidungen haben längere Auswirkung und müssen gut überlegt sein. Wir Christen tragen manchmal schwer an großen Entschlüssen, weil wir Gottes Willen treffen möchten.
Die jungen Christen in den Gemeinden zur neutestamentlichen Zeit mussten sich ebenfalls im Alltag vielfältig entscheiden. Sie hatten zu Jesus gefunden. Was bedeutete das für ihre Ehen? Ihre Familien? Wie verhalten sie sich gegenüber ihren Sklaven? Wie gegenüber ihren Freunden, die zum griechischen Göttertempel gingen? Wie sollten sie mit ihren Vorgesetzten umgehen? Müsste man nicht die Armen in der Gemeinde unterstützen? Aber wenn – wie viel Geld sollte man abgeben? Und ergreift man als Christ in der politischen Volksversammlung eigentlich das Wort? Entscheidungen waren nötig – als Christ wurde das Leben wahrhaftig nicht leichter. Und uns, die wir 2000 Jahre später leben, geht es ja immer noch so. Persönliche Entscheidungen, gemeindliche Entscheidungen – das macht oft Mühe. Und muss es auch: Es geht ja um nichts Geringeres als um Gottes Willen!

Im Gebiet der heutigen Türkei, im Tal des Flusses Lykos lebte die kleine, junge Gemeinde von Kolossä. Die bekam von Paulus einen Brief. Gleich zu Anfang erinnerte Paulus daran, wie es denn angefangen hatte mit Christus in Kolossä. Und er erinnert an die Kräfte, an die positive Energie, die damals wirksam war und die jetzt noch weiterwirkt. Was Paulus als Briefbeginn schreibt, ist mehr als nur eine freundliche blumige Einleitung. Für Christen aller Zeiten sind vielmehr deutliche Kraftfelder benannt. Kraftfelder, Mgnetfelder, an denen sich unsere Kompassnadel ausrichten kann, so dass wir entscheidungsfähig werden. Es ist nicht eine einzelne Richtungsangabe, sondern ein ganzes Kraft-Feld. Es besteht aus einem Bündel von Kräften Gottes, und alle gemeinsam ziehen unsere Kompassnadel an. Hören wir auf Kol 1,3-11:

So beginnt Paulus seinen Brief an die junge Gemeinde. Er blickt zurück auf den Anfang – so war es – und blickt auch nach vorn – so wird es. Und das meiste, was er schreibt, nennt er zweimal, sowohl beim Rückblick als auch beim Ausblick. Für die Christen wird damit deutlich: So wie Gott es bei uns angefangen hat, so soll es auch weitergehen. Wir sollten nicht stehen bleiben, sondern Gott weiterhin sein Werk an uns tun lassen.
Als Christ zu leben war nicht leicht inmitten einer heidnischen Stadt und bei zunehmender Verwirrung auch innerhalb der Gemeinde. Aber hier in diesen Zeilen sind die Kraftfelder enthalten, die die Gemeinde braucht. Vier von ihnen möchte ich zeigen:

1. Das Gebet
„Jedes Mal, wenn wir für euch beten, danken wir Gott ...“ – „Deshalb hören wir auch seit dem Tag, an dem wir davon erfahren haben, nicht auf, für euch zu beten.“ Diese Gemeinde wird von Betern begleitet. Alles, was die Christen beachten müssen und was die Gemeinde zu tun hat, ist von einer Quelle gespeist: vom Gebet. Damit beginnt Paulus. Er verspricht sich also nichts vom Machen und er selber zeigt sich auch nicht als Macher. Sondern als Beter.
Dieses Kraftfeld ist in die Gemeinde von Beginn an eingepflanzt und eingewurzelt worden. Das lag an einem weiteren Beter. Paulus nennt den Namen dessen, der die Gemeinde gegründet hat: Epaphras. „Euer Lehrer in all diesen Dingen war Epaphras, unser geliebter Mitarbeiter und ein treuer Diener Christi, der sich mit ganzer Kraft für euch einsetzt.“ Der war der Gründungsvater der Gemeinde. Mittlerweile ist er nicht mehr dort. Paulus hat ihn in eine andere Arbeit gerufen. Aber Epaphras wirkt dennoch weiter auch in Kolossä. Wie das, wo er doch gar nicht mehr da ist? Als Beter. Paulus schreibt später in seinem Brief: „Epaphras lässt euch grüßen, der ebenfalls einer von euch ist. Dieser Diener von Jesus Christus tritt als ein unermüdlicher Kämpfer für euch ein, indem er darum betet, dass ihr euch als geistlich reife Menschen bewährt, deren ganzes Leben mit Gottes Willen übereinstimmt.“ (Kol 4,12) Epaphras betet, ausdauernd, er macht sich richtig Arbeit damit. Damals lehrte er die Gemeinde, jetzt betet er – der Lehrer ist ein Beter. Also wiederum kein Macher.

Heute ist der Sonntag „Rogate“ – „Betet!“. Paulus und sein Mitarbeiter Epaphras zeigen uns, wovon Gemeinde Jesu lebt: aus dem Gebet. Aus der Fürbitte. Auch die ganze Gemeinde soll sich einklinken in das Gebet: „Betet mit aller Ausdauer, voll Dankbarkeit gegenüber Gott und ohne in eurer Wachsamkeit nachzulassen.“ (Kol 4,2)
Wir sind als Marburger Gemeinde auf einem Weg, der uns natürlich auch immer neue Entscheidungen abverlangt: Was wollen wir fördern? Was wollen wir hintanstellen? Wir müssen uns darüber sehr klar sein, wie wir unsere Entscheidungen treffen. Woran wir uns ausrichten. Aus Gottes Wort hören wir heute: Unser Weg muss aus dem Beten entspringen. Nur betend erkämpfte und aus dem Gebet herausgewachsene Entscheidungen werden Bestand haben. Alles andere können wir gleich aussortieren.
Ich bin froh über alle Gelegenheiten in unserer Gemeinde, wo wir uns zum Beten treffen. Das ist eine Stärke! Der neue Gebetskreis hier alle 14 Tage Dienstagvormittags ist wichtig, er vermehrt das gemeinsame Beten. Das brauchen wir. Und danach brauchen wir die Verbindung: vom Gebet hinüber zu unseren Entscheidungen und Beschlüssen. Das ist ein Kraftfeld, an dem unsere Kompassnadel sich ausrichtet.

2. Die Strömungskraft des Evangeliums
Das ist das nächste Kraftfeld: Die Strömungskraft des Evangeliums. Das Evangelium ist wie ein Fluss. Er hat die Stadt Kolossä einmal erreicht. Er hat einige Menschen mitgenommen. Sie haben sich dieser Strömung ausgesetzt. Und nun? Nun strömt die Botschaft von Jesus weiter und bahnt sich ihr Bett, auch weiterhin in der Gemeinde. Von daher ist es nicht schwer, den Weg zu finden: einfach der Strömungskraft des Evangeliums folgen.

In den Zeilen von Paulus ist es sehr auffällig, dass er wiederum nicht von sich schreibt, wie von Machern: ‚Als wir zu euch kamen, haben wir euch Christus gebracht, und nun sollt ihr auch weitergehen und darauf achten, dass ihr Christus überallhin mitnehmt.‘ Nein, so nicht – als ob Paulus und dann die Gemeinde diejenigen wären, die alles anbahnen und durchziehen. Paulus schreibt vielmehr so: „Die Botschaft der Wahrheit, das Evangelium, ist zu euch gekommen.“ Wie wenn es eine Person wäre, ein Besucher. Das Evangelium selber kam. Paulus – er kam mit und bezeugte es. Aber das Evangelium war die Kraft, die aus sich strömte. Und dann? „Genauso, wie dieses Evangelium überall in der Welt Früchte trägt und sich immer weiter ausbreitet, genauso tut es das auch bei euch.“ Das Evangelium bahnt sich also weiterhin innerhalb der Gemeinde sein Flussbett. Und die Christen? Am besten, sie gehen mit, folgen dem Strom. Noch einmal: Nicht sie müssen sich im Gewirr der vielen Möglichkeiten ihren Weg bahnen, sondern der Weg ist bereits gebahnt: von der Botschaft über Jesus.

Der müssen wir folgen. Dem Evangelium, das voran geht, folgen wir. Was aber ist das – das Evangelium? Die Kolosser damals hatten es gehört. Wir heute lesen es. Die Berichte von Jesus Christus und von seinen Boten, das Leben Jesu und sein Tod und seine Auferweckung und was das dann alles bedeutet – das lesen wir heute. In der Bibel. Wenn wir dem Evangelium folgen, müssen wir es lesen, immer wieder. Und zwar natürlich nicht nur die vier Evangelien, sondern Gottes Botschaft in dem ganzen Buch. Wenn wir wissen wollen, wonach wir uns richten sollen, dann müssen wir vorher lesen. Und dann verstehen. Das erfordert manche Mühe. Aber ohne diese Mühe werden unsere Entscheidungen zu reinen Gefühlssachen – und das tut uns oft nicht gut. Geben wir uns doch Mühe beim Lesen von Gottes Wort – ohne diese Mühe würden unsere Gemeinden zerfallen. Eine erschreckende Aussicht – Gemeinde zerfallen! Aber diese Prognose sage nicht ich, sondern der Begründer des deutschen Baptismus, Johann Gerhard Oncken, hat es gesagt:

Wir haben nur eine Waffe, das ist das gute alte Buch, und eine andere Waffe hat in unseren Augen gar keinen Wert. Das Wort des lebendigen Gottes, das ist der Grund, auf dem wir stehen und stehen wollen. Sollen unsere Gemeinden vernichtet werden, so kann es nur durch ein Mittel geschehen: Die Bibel müsste auf unseren Märkten verbrannt werden.

Bibeln verbrennen – das vernichtet unsere Gemeinde. Kein Mensch hierzulande würde öffentlich unsere Bibeln verbrennen. Aber wenn wir sie zugeklappt lassen und nicht zu Rate ziehen, dann kommt es auf’s Gleiche hinaus. Wie also finden wir zu Entscheidungen? Bibeln aufklappen, lesen, zu verstehen suchen. Entehren wir doch Gottes Wort nicht durch Denkfaulheit!
Wir richten uns nach der Bibel, wir folgen ihrer Botschaft, dem Evangelium – warum noch mal? Wie war das? Weil das Evangelium eine Strömungskraft hat und sich seinen Weg unter uns bahnt. Es strömt sowieso. Wir können uns mitnehmen lassen oder aber den Strom hindurchziehen lassen. Das Evangelium strömt. „Genauso, wie dieses Evangelium überall in der Welt Früchte trägt und sich immer weiter ausbreitet, genauso tut es das auch bei euch.“

3. Tun, was dem Herrn gefällt!
Das nächste Magnetfeld, um unsere Kompassnadel auszurichten: Ihr sollt „seinen Willen in vollem Umfang erkennen. Dann könnt ihr ein Leben führen, durch das der Herr geehrt wird und das ihm in jeder Hinsicht gefällt.“ Was also macht Gott Ehre? Was gefällt ihm? Was macht ihm Freude? Alles, was Gott nicht gefällt, können wir gleich schon aussortieren.
Diese Leitfrage: Was passt zu Gott? – ist heute in unserer Kultur ziemlich fremdartig. Unsere Kultur des 21. Jahrhunderst legt allen Wert auf eine andere Frage, nämlich: „Was passt zu mir?“ In unserer Gesellschaft ist jeder fast im Zugzwang, sein eigenes Leben zu vermarkten. Du brauchst eine originelle E-mail-Adresse, einen Klingelton, den möglichst kein anderer hat, eine Homepage sowieso, du wählst dir deinen Stil aus unzähligen Möglichkeiten aus – der moderne Mensch von heute ist ständig dabei, ein Profil anzulegen und zu pflegen. Das Leben – eine Castingshow.
Wir als fromme Christen sind da meist einige Jahre hinterher hinter solchen Trends ... aber entscheiden wir unsere Angelegenheiten wirklich so anders? Was passt zu mir? – Das ist wohl doch eine heimliche Leitfrage. Manchmal auch: Wer passt zu uns? Es muss uns schon gefallen, was jemand vorschlägt, und wenn gar nichts hilft, dann heißt es eben schlicht: Das wollen wir nicht!

Gottes Wort schiebt all diese Fragen beiseite und stellt eine andere Frage in den Raum: Wie hätte Gott es eigentlich gern? Was erfreut ihn? Was gefällt ihm? Wenn wir mit allem Nachdruck diese Frage ergründen, dann ist für Geschmacksfragen eigentlich keine Zeit mehr.
Was macht Gott Ehre? Was ist seiner würdig? Was entspricht seinem Wesen? Nun, darüber kann man verschiedener Meinung sein. Aber wenn wir Paulus ein wenig weiter lesen im Kolosserbrief, dann stoßen wir auf eine genauere Beschreibung: „Der Sohn ist das Ebenbild des unsichtbaren Gottes.“ (Kol 1,15) Jesus ist Gottes Ebenbild. Wen wir also unsicher sind, was Gott den Ehre macht, was ihm gefallen würde – dann lasst uns doch möglichst so verhalten, wie Jesus war. Dann sind wir ganz nah an Gottes Herzen.

Ich wiederhole mich an dieser Stelle gern und sage noch einmal, was ich früher schon mal gepredigt habe: Unsere Bestimmung ist es, jesusförmig zu sein. Jesusförmige Männer, jesusförmige Frauen in einer jesusförmigen Gemeinde. Das gefällt Gott. Wenn wir also Entschlüsse fassen müssen, dann lassen wir es doch so kommen, dass es jesusförmige Entschlüsse sind. Eben so werden wir „seinen Willen in vollem Umfang erkennen. Dann können wir ein Leben führen, durch das der Herr geehrt wird und das ihm in jeder Hinsicht gefällt.“
Und ein letztes Kraftfeld für unsere Kompassnadel:

4. Wachstumskurs
Der Wachstumskurs ist uns vorgezeichnet. Jede Entscheidung ist richtig die das Wachstum fördert. Hören wir wieder auf Paulus: Er betet, dass „ihr imstande seid, stets das zu tun, was gut und richtig ist, sodass euer Leben Früchte tragen wird, und ihr immer weiter wachst, indem ihr Gott erkennt.“ Früchte tragen – immer weiter wachsen. Das ist uns aufgegeben.

Ich habe gerade einiges gelesen über das Leben eines früheren deutschen Politikers: Hermann Ehlers, 1954 verstorben. Er war zuletzt hochgeachteter Präsident des Deutschen Bundestages gewesen. Er kam aus einer ganz lebendigen Bibelkreisbewegung und lebte sein Christsein privat und öffentlich, in Kirche und Politik. Er war bekannt für seine geschliffenen Reden, manchmal auch für seine scharfe Zunge. Zuweilen hatte er ein aufbrausendes Wesen. Aber – so sagt es ein Wegbegleiter – er lebte in einem ständigen Prozess der bewussten Selbsterziehung. Theodor Heuss hat das gesagt. Diese Formulierung hat mich beeindruckt: ständiger Prozess der bewussten Selbsterziehung. Ein Mann des öffentlichen Lebens, der bei sich selber anfängt! Solche Politiker brauchten wir auch heute mehr. Ich meine, das ist ein gutes Beispiel für den Wachstumskurs, den Paulus für die Kolosser erbittet: „dass euer Leben Früchte tragen wird, und ihr immer weiter wachst, indem ihr Gott erkennt.“ Hermann Ehlers musste sich dann manches Mal entschuldigen oder etwas in Ordnung bringen. Aber das spricht nicht gegen, sondern für seinen starken Charakter. Ständige bewusste Selbsterziehung – daran sehen wir auch den Preis des Wachstums: nämlich die Veränderung. Wer sich nicht verändert, wächst auch nicht. Der Kirschbaum, der im Frühjahr so bleiben will, wie er ist, der wird im Sommer keine Früchte tragen. Veränderungsbereit sein – dann kann etwas wachsen.

Hm – „ständige Selbsterziehung“ ... eine einzige Sache stört mich daran: die Betonung des Selbst. Als ob es allein mit Konsequenz und Disziplin getan wäre. Die biblische Rede von der Frucht klingt anders. Die Kirschen wachsen nicht deshalb, weil der Baum sich anstrengt. Ich ändere mich nicht allein deshalb, weil ich es mir vorgenommen habe. Sondern der Heilige Geist schafft tiefe Veränderung. Wachstum und Früchte kommen von Gott. Exakt so sagt Paulus es den Kolossern: „Wie dieses Evangelium überall in der Welt Früchte trägt, genauso tut es das auch bei euch.“ Also das Evangelium trägt Früchte. Paulus richtet kein Gesetz auf, und sei es ein Wachstumsgesetz. Nein. Aber Paulus kennt Gottes Absicht und die Kraft des Evangeliums. Unsere Aufgabe ist nur: uns an Gott dranzuhängen, wenn der wirkt. Es zulassen und es begrüßen, dass Gott uns wachsen lässt. Und die Früchte dann hegen. Aber die Quelle ist bei Gott. Paulus sagt uns eine gute Nachricht: Hängt euch einfach an Gott dran, wenn der etwas aufkommen lässt. Und damit sind wir schon fast wieder bei der Strömungskraft des Evangeliums. Das wirkende Wort von Jesus ist auf Wachstum aus. Wachstumskurs – das ist ein weiterer Teil des Magnetfeldes, das unsere Kompassnadel anzieht.

Liebe Gemeinde, wir sind vorhin gestartet mit der Frage nach unseren Entscheidungen. Jeder von uns muss sie treffen. Mütter manchmal im Minutentakt. Die Christen in Kolossä mussten ihr neues Verhalten als Jesusleute bestimmen. Jeder von uns hat im persönlichen Leben Entschlüsse zu fassen – und wir als Gemeinde auch immer wieder. Aus dem Kolosserbrief haben wir vier Felder kennen gelernt, die uns Orientierung geben. Ich wiederhole sie noch einmal:

1. Das Gebet – betende Menschen können gute Entscheidungen treffen.
2. Die Strömungskraft des Evangeliums: Wohin nimmt dich Gottes Wort mit?
3. Was Gott gefällt und ihm Freude macht. Entscheidend ist nicht, was zu uns passt, sondern was zu ihm passt – was jesusförmig ist.
Und 4.: Wachstumskurs. Gott legt gute Früchte in uns an. Wenn wir Gottes Wachstum fördern, liegen wir schon mal richtig.

Der erste Punkt war das Gebet. Heute ist der Sonntag Rogate – Betet! Lasst uns deshalb ein Gebetslied singen und danach das tun – beten.

Bibelstudie "Bestandsaufnahme" 7: Philadelphia

7 Der Brief an die Gemeinde Philadelphia (3,7-13)
Für diesen Brief in diese Stadt ist es besonders aufschlussreich, die historischen Gegebenheiten zu kennen, denn sie spiegeln sich vielfach im Brief wider.
Zur geografischen Lage: Die Stadt war erst vor kürzerer Zeit (wohl bewusst) am Grenzpunkt dreier Länder angelegt worden: an der Nahtstelle zu Mysien, Lydien und Phrygien. Sie lag am oberen Ende eines langen Talzuges, der ca. 50 km lang bis zum Mittelmeer führte. Wichtige Handelsstraßen kreuzten sich hier. Die wichtigste Orientierung aber bestand in der „Öffnung“ zum unkultivierten Land Phrygien: Die Stadt solle quasi missionarisch die griechische Sprache und Kultur in dieses Land hineinbringen. Sie galt daher als „Tor zum Osten“.
Landschaftlich war die Stadt außerordentlich begünstigt dadurch, dass sie in fruchtbarem Vulkanbodengebiet lag – Weinbau hatte optimale Bedingungen. Heiße Quellen dort zogen Genesungssuchende an. Ein großes Problem aber beeinträchtigte die Stadt: Sie wurde als eine von 12 Städten 17 n. Chr durch ein Erdbeben zerstört, wie auch Sardes. Wie Sardes wurde Philadelphia zwar mit großer Finanzhilfe des Kaisers wieder aufgebaut, aber fortan war die Stadt erdbebengefährdet. Daher siedelten viele Bewohner aufs Land über und die verbliebenen Stadtbewohner waren stets auf der Hut und zur raschen Flucht bereit.
Der Name „Philadelphia“, „Bruderliebe“ stammte aus der Gründungsgeschichte der Stadt. König Eumenes hatte sie zu Ehren seines Bruders Attalos so genannt – diese Bruder Attalos hatte sich mehrfach als äußerst zuverlässig, loyal und treu gegenüber Eumenes gezeigt. So hatten römische Herrscher den Attalos ermutigt, seinen Bruder auszubooten und an seiner Stelle König zu werden – was Attalos nicht tat. Die Tugend der Treue also gehört zur Gründungs-Legende der Stadt.
Zu erwähnen ist noch die Sitte, dass die Stadt verdiente Bürger dadurch ehrte, dass ihnen eine Tempelsäule gewidmet wurde. Auf der stand der Name des Geehrten.

7.1 Wer redet zur Gemeinde – wie zeigt sich Christus?
Der erhöhte Christus wird hier mit den denkbar höchsten biblischen Würdetiteln bezeichnet: der Heilige, der Wahre. Im Jesajabuch sind das Beinamen Gottes selbst – hier trägt Christus sie.
Außerdem ist Christus der Träger des „Schlüssels Davids“. Diese Bezeichnung leitet sich aus Jes 22,20-23 ab (hier nachzulesen).

Dieser Eljakim wurde an Stelle des untreuen Schebna eingesetzt. Nun ist er der einzige, der noch auf- und zuschließen kann – als priesterlicher „Haus“-Verwalter. Schon das Judentum deutete diese Stelle messianisch – hier wird sie nun auf Christus bezogen.

All diese Facetten der Selbstvorstellung Christi ergeben in der Gemeindesituation einen tröstlichen Sinn. Die Gemeinde war bedrängt von einer Judenschaft mit ihren „Absperrversuchen“ (Pohl) – dass Christen in Gottes Gunst stünden, wurde von ihnen bestritten. Christen, die aus dem Judentum stammten, mussten den Synagogenausschluss hinnehmen. Hier sagt Christus nun: Er sei gewürdigt, die atl. Gottesbezeichnungen zu tragen; er sei der Messias; er sei bevollmächtigt, der Gemeinde Gottes Reich aufzuschließen. Die Bestreitungen der Judenschaft sind damit widerlegt. Wenn Christen auch aus der Synagoge ausgeschlossen werden, so ist ihnen der Zugang zu Gott doch aufgeschlossen.

Dieser Brief gilt also einer Gemeinde, die zu gering von sich denken könnte: als ob mit ihr nichts los wäre. Der erhöhte Herr zeigt dagegen, dass diese Sicht falsch ist!

7.2 Der Zustand der Gemeinde
Christus hat dieser Gemeinde nicht das Geringste vorzuwerfen! Die „Werke“ der Gemeinde, also ihre Gesamthaltung, sind Christus bekannt:
· Geringe Kraft – d.h. wohl wenig Einfluss und Durchsetzungsvermögen
· Festhalten an Jesu Wort
· Treues Bekenntnis zum Namen Jesu
· Standhaftigkeit gemäß Jesu Wort (V. 10)

Aus anderen Städten wissen wir, wie groß die Versuchung war, dem Jesus-Bekenntnis untreu zu werden. In der Stadt Philadelphia war zumindest der Dionysoskult prägend. Diese Gemeinde aber hat der Versuchung widerstanden. Die im Städtenamen aufbewahrte Brudertreue und Loyalität wird gerade von der kleinen Christenschar in dieser Stadt lebendig praktiziert.

Was würde es für uns bedeuten, an Jesu Wort festzuhalten? Auf welchen Aspekt müssen wir besonders achten?
>> unverfälschte Lehre?
>> mutiges öffentliches Bekenntnis?
>> tatkräftiger Gehorsam?

7.3 Christi Werk an dieser Gemeinde
Beim Lesen dieses Briefes fällt auf, wie konzentriert von den Aktionen Christi die Rede ist – und wie wenig vom Handeln der Gemeinde.
· Ich kenne
· Ich habe gegeben
· Ich gebe (V. 9 wörtl.)
· Ich werde machen (dass sie ...)
· Ich, ja ich habe geliebt
· Ich werde bewahren
· Ich komme
· Ich werde machen (V. 12)
· Ich werde schreiben
Zwei dieser Aktivitäten sind in der Vergangenheit geschehen, die anderen kommen in der Zukunft.

7.3.1 Was Christus tat
Eine offene Tür gegeben – dafür gibt es zwei Verstehensmöglichkeiten:

a) Ganz häufig im NT ist damit eine offene Gelegenheit Gemeinde, das Evangelium auszurichten. (Apg 14,27; 1Kor 16,9; 2Kor 2,12, Kol 4,3). Wenn Christus das meint, dann würde die Gemeinde darin auch die Geschichte ihrer Stadt wiedererkennen: Als „Tor zum Osten“ „Missionar“ sein für griechische Lebensart – und die Gemeinde eben auch für das Evangelium. Das würde einen guten Sinn ergeben.

b) Prägend ist aber auch noch die Selbstbezeichnung Christi als dem Träger des Schlüssels. Christus schließt auf, wo andere der Gemeinde die Tür zusperren wollen. Dann hieße „offene Tür“: vollen Zugang zum Heil zu Gottes Reich. – Diese Deutung würde sich noch enger an den Text des Briefes halten.

Außerdem hat – nach V. 9 – Christus der Gemeinde seine Liebe zugewandt. Das könnte die erste Erkenntnis Christi meinen, etwa bei der Entstehung der Gemeinde. Es wäre dann so etwas wie die „erste Liebe“ (vgl. 2,4). Oder der Satz ist aus der Rückschau formuliert: Die jetzt feindlichen Juden werden erkennen, dass Christus die Gemeinde geliebt hat – in der jetzigen Gegenwart, während die Juden dies noch bestreiten.

7.3.2 Was Christus tun wird
Die Aussichten sind umfassend günstig:

a) Christus wird Menschen „geben“ – und zwar die gegnerischen Juden. Er wird „machen“, dass sie demütig anerkennen, wie geliebt die Gemeinde von Christus ist. In den Ausdrücken „geben“ und „machen“ ist festgehalten, dass die Gegner, die jetzt alle Möglichkeiten haben, in Wahrheit ganz Christi Zugriff ausgeliefert sind. Er hat das Heft des Handelns in der Hand.
Die Gegner sind hier bedeutsam benannt: Sie halten sich für echte Juden, sind es aber nicht. Für schriftkundige Juden ist das Versprechen Christi an seine Gemeinde besonders brisant: Eigentlich ist in der Heiligen Schrift verheißen, dass in der Zeit der Vollendung die Heiden zu Israel kommen werden (Jes 60). Israel wird der Zielpunkt der Geschichte sein. Diese Verheißung Gottes bleibt gültig – man wird die Erfüllung erleben! Bloß für die Gegner der Gemeinde Philadelphia gilt erschreckenderweise das Gegenteil: Sie werden zu den Christen kommen und sie anerkennen! Ihr Anspruch gegenüber der Gemeinde wird widerlegt werden. Freilich ist Christus der einzige, der die Schrift so souverän umdeuten kann!

Die Gegner der Gemeinde werden Lügner genannt. Zwar könnte man auf die Idee kommen, Jesus halte sie für Menschen des Teufels („Synagoge Satans“). Das sind sie aber nicht allein deshalb, weil sie Juden wären. Sie sind nicht komplett verworfen nur aufgrund ihres Judentums. Sondern deshalb, weil sie sich ihrer echten Bestimmung als Juden, als Volk Gottes, entzogen haben. Wahrhaftige Juden wären keineswegs „Synagoge Satans“. Außerdem zeigt die angekündigte Umkehr der Juden, dass Juden in Christus Sicht eben dies können: umkehren. Also keine Rede von einer Verwerfung ganz Israels! „Die Glieder der Synagoge sind nicht abgeschrieben, so wenig Petrus abgeschrieben war, als der Herr zu ihm sagte: „Gehe hinter mich, Satan!“ (Mt 16,23).“ (Pohl) (Vgl. Näheres zu Smyrna, Abschn. 3.2.2!)

Weshalb werden diese Juden umkehren?
Die Gemeinde Jesu wird anerkannt werden – aufgrund welcher Qualifikation?

Hier nicht wegen ihrer Treue. Sondern aufgrund dessen, was Christus an ihr tut – er liebt sie, er (so wird es stark betont).

Wer unsere Gemeinde als Gast oder neugieriger Beobachter besucht:
>> Wie kann er merken, dass wir von Christus geliebt sind?
>> Woran ist es erkennbar?
>> Wie sieht es konkret aus, dass wir uns in Christi Liebe aufhalten und bewegen?
>> Wo merkt man unser Empfangen, nicht nur unser Tun?

b) Christus wird die Gemeinde „aus“ der Stunde der Versuchung bewahren. Zwar meinen einige Ausleger, diese Gemeinde (nur speziell Philadelphia) würde gar nicht erst in die endzeitliche Versuchung gelangen – sie „hat ihre Feuerprobe bereits bestanden und bedarf keiner weiteren mehr“ (U.B. Müller nach Bousset). Aber sprachlich meint das „aus der Versuchung“, dass sie eben vorher „drin“ war. Anders klingt es auch nicht mit Joh 17,15 zusammen. Die große Versuchung trifft zwar „alle Bewohner der Erde“, aber für die Nichtchristen unter ihnen wäre die Bedrängnis ja kaum eine Versuchung – sie folgen Christus ja sowieso schon nicht. Demnach ist auch die Mehrzahl der Christen von dieser endzeitlichen Versuchung betroffen (U.B. Müller nach Bousset).
Versuchungen haben die Gemeinde auch bisher schon zu bestehen gehabt: Kompromisse mit dem Götzenkult, Beteiligung an Prostitution, Flucht vor dem Leiden. Das Buch der Offenbarung kündet noch schärfere, endgültige Versuchungen an. Christus wird die dort hindurchretten, die sich jetzt schon treu zu ihm bekennen.

c) Wer treu bleibt, wird zu einer Säule im Tempel gemacht – Tempel hier als Bildwort für die vollendete Anbetungsherrlichkeit. Das könnte eine stabile, tragende Säule sein, so wie es in Jes 22,23 anklingt. (Allerdings ist dieser feste Pflock, Eljakim, auf lange Sicht doch nicht so stabil: Jes 22,24+25). Oder – so Pohl – es ist eine freistehende Säule als „Zeuge“ gemeint, in Zeichenfunktion. Das könnte mit den Gedenk-Säulen in den heidnischen Tempeln Philadelphias zusammenhängen.
Wichtig ist: Wer einmal so im Tempel Gottes steht, wird dort bleiben dürfen und nicht fliehen müssen. Diese Flucht war das Lebensgefühl der erdbebenbedrohten Philadelphier. In der Vollendung wird das Schnee von gestern sein: „Ich werde bleiben im Hause des Herrn immerdar.“

d) Ein neuer Name wird verliehen (ähnlich wie in Pergamon, 2,17). Den Glaubenden steht es für alle eindeutig „ins Gesicht geschrieben“, dass sie zu Gott gehören (was die Judenschaft nicht anerkennen konnte). Der Gottes-Charakter dieser „Beschriftung“ wird dreifach genannt:
· Der Name des Gottes Christi
· Der Name von Jerusalem, der Stadt des Gottes Christi
· Der neue Name Jesu selbst
Obwohl hier Vater und Sohn anklingen, ist das neue Jerusalem kaum – trinitarisch – auf den Heiligen Geist bezogen. Eher könnte man die Dreiheit dessen erkennen, „der da war (Gott) und der da ist (Christus) und der da kommt (die neue Stadt)“ (1,4).

Im Rückblick zeigt dieser Brief, wie Christus die bedrängte Situation einer Gemeinde ganz in ihr Gegenteil verkehren kann – was andere als Makel, als Schwäche sehen, ist vor Gott sehr anerkannt und gewürdigt. Die Gemeinde lebt vom Handeln Christi, und wo sie sich treu darauf verlässt, ist der Appell zu eigener Aktivität kaum hörbar. (Wenn sie sich nicht darauf verlassen hätte, wäre sie zu energischer und entschlossener Umkehr gerufen worden. Es wäre aber die Umkehr nicht zu einem Gehorsamsleistung gewesen, sondern eine Umkehr zu Christi Handeln. Das ist das Evangelium dieses Briefes.)