Wie ich frei werden kann, wenn Kränkung, Vorwürfe, Demütigung in mir nagen
Jedem passiert es früher oder später, dass man unfaires Verhalten erlebt, von anderen ignoriert oder übervorteilt wird, dass man gemobbt, beleidigt oder gedemütigt wird. Daraus entsteht eine Geschichte zwischen mir und einem bestimmten Menschen. Eine Geschichte, die ich gar nicht wollte: Ich möchte mich gar nicht so eng an diese Person binden – aber sie taucht in meinen Erinnerungen oder meinen aktuellen Gedanken immer wieder auf. Sie nimmt sich einen Platz, den ich ihr gar nicht einräumen will; aber weil sie nun einmal so an mir gehandelt hat, wie sie es tat (oder das an mir versäumt hat, was sie eben versäumte), hat sich sich in meinem Leben breit gemacht.
Wie kann ich von dieser Verklettung frei werden? Wie bekomme ich Abstand zwischen mich und das, was passiert ist; Abstand zwischen mich und die betreffende Person?
Ich empfehle einen Weg in drei Schritten. Dieser Weg wird Zeit brauchen. Jeder Schritt kann unterschiedlich lange dauern und es ist gut, auf sein Herz zu hören, um zu spüren, wann jeder Schritt wirklich gegangen ist.
1.
Den Schmerz an der Seite von Jesus erleiden
Der erste Schritt zum Heilwerden ist, den inneren Schmerz nicht kleinzureden, nicht zu ignorieren oder ihn sich innerlich zu verbieten – etwa weil man als Christ ja vergeben müsse. Ja, Vergebung ist ein gutes Ziel, aber das erreicht man nicht sofort. „Vergeben kann man nicht müssen“, wie ein treffender Buchtitel sagt. Oft ist es nötig, die Verwundung und den resultierenden Schmerz erst einmal zu ermessen, ihn innerlich abzuschreiten, damit man überhaupt weiß, was denn zu vergeben wäre.
Ein wesentlicher Faktor dabei ist der Glaube daran, dass Jesus im Moment der Kränkung, der Verletzung, des Alleingelassenwerdens dabei war und den Schmerz mit empfunden hat. Jesus sagt: „Ich versichere euch: Was ihr für einen meiner gering geachteten Geschwister zu tun versäumt habt, das habt ihr auch an mir versäumt“ (Matthäus 25,45). Jeder Schlag in mein Gesicht ist also auch einer ins Gesicht von Jesus. Seinen Propheten Jesaja lässt Gott sagen: „Denn so spricht der hohe und erhabene Gott, der ewig lebt und dessen Name ‚Der Heilige‘ ist: ‚Ich wohne in der Höhe, in unnahbarer Heiligkeit, doch auch bei den Zerschlagenen, deren Geist niedergedrückt ist, und belebe den Geist dieser Gedemütigten neu, richte das Herz der Zerschlagenen auf‘“ (Jesaja 57,15). Wichtig ist hier das Wort „wohne“: Gott wohnt bei den Gedemütigten, Zerschlagenen. Er macht keine kurze Stippvisite, sondern ist ihnen dauerhaft nah. Er hält es aus bei mir, wenn man mir übel mitgespielt hat.
Daraus kann ich eine Übung ableiten: Wenn mir die verletzende Situation einfällt, dann stelle ich mir vor (und nehme dieses Bild im Glauben an), dass Jesus ganz nah bei mir saß. Er zuckte zusammen, als ich einen „Schlag“ einstecken musste. Er blickt mir in diesem Moment in die Augen und sein Blick sagt mir: Es tat ihm weh, nicht nur mir. Jesus ist in dieser Situation ganz bei mir. Ich sehe nicht, ob er sich auch um andere kümmert. Ich bin durch den geistlichen Blickkontakt mit ihm verbunden.
Ich kann dem Schmerz meiner Verletzung durch mich hindurchströmen lassen, aber ich „bade“ nicht darin, sondern rücke nah an Jesus heran, der mit mir leidet.
Diese Übung kann ich betend so oft wiederholen, wie mich die Erinnerung und mein Schmerz weder überkommt.
2.
Für den, der mir Böses tat, beten
Irgendwann werde ich bereit sein, einen zweiten Schritt zu gehen. Und wenn ich nicht spüre, wie sich diese Bereitschaft einstellt, suche ich aktiv nach ihr.
Der zweite Schritt besteht darin, für die Person zu beten, unter der ich gelitten habe. Ich bete, dass Gott sie segnet. Wie Gott das tut, kann ich gern ihm überlassen; ich muss nichts konkretes Gutes für die Person erbitten, solange ich das nicht möchte. Es reicht anfangs, wenn ich bete, dass Gott sich um diesen Menschen kümmert und dass er so mit ihm umgeht, wie es ihm – Gott – gefällt.
Ich muss auch keine Begeisterung bei dieser Fürbitte empfinden. Das Gebet für diesen anderen kann unter Schmerzen geschehen. Ich kann vorher und nachher jeweils doppelt so viel für mich selbst beten und für meine Lieben und meine Freunde. Aber ich überwinde mich immer wieder, auch für die Person zu beten, unter der ich gelitten habe oder noch leide.
Ich bete mit dem „Risiko“, dass Gott diesem Menschen tatsächlich etwas Gutes tut und ihn segnet. Ich bete aber zugleich in der Hoffnung, dass diese Fürbitte für mich selbst heilsam sein wird. Indem ich Segen für diesen Menschen erbitte, überlasse ich ihn ein Stück weit dem Handeln Gottes. Und wenn ich dies tue – ihn Gott überlassen –, habe ich ihn ein wenig von mir weg gerückt; ein bisschen auf Abstand gebracht. Ich wollte ja ohnehin nicht, dass dieser Mensch einen so großen Platz in meinem Leben, in meinen Gedanken einnimmt. Nun bringe ich ihn im Gebet zu Gott – und damit verlässt er allmählich seinen festen Platz, den er sich bei mir genommen hat. Nein, er soll nicht länger bei mir „wohnen“. Wenn einer nah bei mir wohnt, ist es ja Gott, wie das Wort aus Jesaja 57 sagt.
Die Feinde segnen – das ist ein Auftrag von Jesus (Lukas 6,28; Römer 12,14). Dieser Auftrag ist einerseits eine Zumutung, andererseits aber auch eine Hilfe. Denn ich kann Jesus sagen: „Ich bin es nicht, der für meinen Feind beten möchte. Ich wäre nicht auf diese Idee gekommen. Aber du möchtest es von mir – also wage ich es.“ Indem ich diese Haltung einnehme, bin ich nicht darauf angewiesen, dass ich jemanden erst dann segnen kann, wenn ich selbst es will. Nein, ich tue es nicht, weil ich so großherzig wäre; nicht, weil der andere es verdient hätte – sondern weil Jesus es gesagt hat. Um seinetwillen versuche ich das Segensgebet.
Wenn mir dieser zweite Schritt zur Übung wird, wenn ich ihn regelmäßig praktiziere, dann werde ich irgendwann offen werden für einen dritten Schritt.
3.
Ich stehe gemeinsam mit dem, der mir Böses tat, unter dem Kreuz
Diese Übung ist wieder ein inneres Bild, das ich mir betend vorstelle und ihm Glauben annehme.
Ich gehe nach Golgatha. Unter dem Kreuz sind verschiedene Leute. Damals, als man Jesus kreuzigte, waren ja bereits einige Menschen dort: seine Mutter, der Jünger, den Jesus besonders lieb hatte, weitere Frauen, die ihm nachgefolgt waren – aber auch die Gaffer, die Soldaten, die eben noch den Hammer geschwungen hatten, die führenden Juden, die sich freuten, dass Jesus endlich dort oben hingehängt wurde. Wenn Jesus seinen Blick schweifen ließ, hat er sie alle gesehen. Und zu keinem hat er gesagt: „Hau ab, ich kann es nicht ertragen, dass du es wagst, hier unter meinem Kreuz zu stehen.“
Auch ich stehe also dort. Und die Person, die mir übel mitgespielt hat. Es ist egal, ob sie Jesus kennt oder nicht. Ich stehe unter dem Kreuz, weil ich es nötig habe, dass Jesus für mich starb. Ich weiß: Es hat ihn alles gekostet, aber er hat es aus Liebe getan, freiwillig. Und ich ahne: Auch „mein Übeltäter“ hatte es nötig, dass Jesus für ihn starb. Und Jesus tat dies. Freiwillig und aus Liebe.
Wir sind uns also in einer Hinsicht gleich: Beide brauchen wir Jesus, beide brauchen wir den Platz unter dem Kreuz. Das stellt uns auf eine Ebene. Es stellt uns nebeneinander – ja fast zueinander.
Aber gleichzeitig trennt das Kreuz uns. Wenn ich es nicht ertragen kann, in meiner Vorstellung unmittelbar neben „meinem Übeltäter“ zu stehen, dann stelle ich mich in Gedanken einfach auf die andere Seite des Kreuzes. Nicht ich bin es, der sein Leben für den anderen geben muss – Jesus tat es. So ist jeder von uns Jesus gleich nah – aber wir sind voneinander entfernt. Getrennt und zugleich verbunden durch das Kreuz.
Ich beginne ein Gespräch mit Jesus. Ich sage ihm (noch einmal), was mich verletzt hatte (wie in Schritt 1). Ich weiß, dass auch ich jemand bin, der Jesus verletzt hat – durch Fehlverhalten, Gedankenlosigkeit, Sünde. Und wenn mein Herz irgendwann bereit ist, kann ich inneren Blickkontakt zu der Person aufnehmen, unter der ich gelitten habe. Vielleicht ist es eine wortlose Verständigung, die uns sagt: Wir stehen hier beide und brauchen Jesus beide in gleichem Maße. Er würde es auch nach all dem, was passiert ist, wieder tun: wieder ans Kreuz gehen. Für mich und für dich.
Oder ich bleibe einfach so unter dem Kreuz stehen und halte es aus, dass ich nicht allein dort stehe, sondern mit dieser anderen Person.
In jedem Fall wird eines passieren: Unser beider Blick ist nach oben gerichtet, auf Jesus, den wir beide brauchen. Wir stehen nicht mehr gegeneinander, sondern sind Jesus zugewandt und stehen also nebeneinander. Beide sind wird Empfangende.
Ist dieses innere Bild, das hier beschrieben wird, eine Art Autosuggestion? Eine Gehirnwäsche, die ich mir selbst verordne? Nein. Dieses innere Bild kann nur dann wirksam sein, wenn ich es mir in der Haltung des Gebets vorstelle, mit Jesus verbunden und in dem Vertrauen, dass Gottes Geist mich leitet – Gottes Geist, der in mir wohnt, weil und sofern ich Gottes Kind bin.
Habe ich nun dem anderen vergeben? Ich möchte diese Frage am Ende des dritten Schrittes bewusst offen lassen. Es kann sein, dass die Schuld des anderen bedeutungslos geworden ist, wenn ich mit ihm unter dem Kreuz gestanden habe. Ich habe sie losgelassen, ich beharre nicht mehr darauf, sie ist für mich uninteressant geworden. Es kann auch sein, dass diese Schuld immer noch in mir nagt und ich noch nicht bereit bin, sie loszulassen, sie dem anderen zu erlassen. In diesem Fall wiederhole ich den hier beschriebenen dritten Schritt in größeren Abständen. Ich bete, dass Gottes Geist mir zeigt,
- wie viele Augenblicke unter dem Kreuz ich brauche,
- wann mein Herz so weit ist, unter dem Kreuz den inneren Blickkontakt zum anderen aufzunehmen,
- ob ich irgendwann in die Vergebung hineingefunden habe,
- ob es schlussendlich dran ist, mir einen inneren Ruck zu geben, den Glaubensschritt zu wagen und die Vergebung auszusprechen, die Schuld zu erlassen.
Wenn ich es zu meinem Ziel mache, vor allem Gott nahe zu sein und mich mehr als zuvor auf Jesus auszurichten, dann ist es – im „Kielwasser“ dieser Erfahrungen – gut möglich, dass meine innere Verletzung ausheilt, dass mein Schmerz gestillt wird, dass Vergebung mir geholfen hat, heil und innerlich frei zu werden.