Der Messias ruft Amnestie aus!
Was ist eine Amnestie?
Eine Amnestie (v. griech. amnestia „Vergessen, „Vergeben“, auch als Abolition bezeichnet) ist ein vollständig oder zu Teilen erfolgter Straferlass. Eine Amnestie beseitigt weder das Urteil noch die Schuld des Straftäters. Im Gegensatz zur Begnadigung wirkt die Amnestie über Einzelfälle hinaus für ganze Tätergruppen. – Eine Generalamnestie wird häufig nach bewaffneten Konflikten erlassen um entweder eine Straflosigkeit zu erreichen oder einen angestrebten Aussöhnungsprozess zu begünstigen. Sie zeichnet sich durch einen erheblich inklusionistisch formulierten Erlass, der alle Taten innerhalb einer Zeit oder bis zu einer gewissen Schwere mit einbezieht, aus. – Eine „Jubelamnestie“ erfolgt aus Anlass eines besonderen Ereignisses wie Gedenktagen. (nach Wikipedia)
Unser Bibeltext:
14 Jesus aber kehrte in der Kraft des Geistes nach Galiläa zurück. Und die Kunde von ihm verbreitete sich in der ganzen Umgebung. 15 Und er lehrte in ihren Synagogen und wurde von allen gepriesen. 16 Und er kam nach Nazaret, wo er aufgewachsen war, und ging, wie er es gewohnt war, am Sabbat in die Synagoge und stand auf, um vorzulesen. 17 Und man reichte ihm das Buch des Propheten Jesaja. Und als er das Buch auftat, fand er die Stelle, wo geschrieben steht:
18 Der Geist des Herrn ruht auf mir,
weil er mich gesalbt hat,
Armen das Evangelium zu verkündigen.
Er hat mich gesandt,
Gefangenen Freiheit
und Blinden das Augenlicht zu verkündigen,
Geknechtete in die Freiheit zu entlassen,
19 zu verkünden ein Gnadenjahr des Herrn.
20 Und er tat das Buch zu, gab es dem Diener zurück und setzte sich. Und aller Augen in der Synagoge waren auf ihn gerichtet. 21 Da begann er, zu ihnen zu sprechen: Heute ist dieses Schriftwort erfüllt - ihr habt es gehört. 22 Und alle stimmten ihm zu und staunten über die Worte der Gnade, die aus seinem Mund kamen, und sagten: Ist das nicht der Sohn Josefs?
23 Und er sagte zu ihnen: Gewiss werdet ihr mir jetzt das Sprichwort entgegenhalten: Arzt, heile dich selbst! Wir haben gehört, was in Kafarnaum geschehen ist. Tu solches auch hier in deiner Vaterstadt! 24 Er sprach aber: Amen, ich sage euch: Kein Prophet ist willkommen in seiner Vaterstadt. 25 Es entspricht der Wahrheit, wenn ich euch sage: Es gab viele Witwen in Israel in den Tagen Elijas, als der Himmel drei Jahre und sechs Monate verschlossen war und eine große Hungersnot über das ganze Land kam, doch 26 zu keiner von ihnen wurde Elija geschickt, sondern zu einer Witwe nach Zarefat bei Sidon. 27 Und es gab viele Aussätzige in Israel zur Zeit des Propheten Elischa, doch keiner von ihnen wurde rein, sondern Naaman, der Syrer.
28 Da gerieten alle in der Synagoge in Wut, als sie das hörten. 29 Und sie standen auf und trieben ihn aus der Stadt hinaus und führten ihn an den Rand des Felsens, auf den ihre Stadt gebaut war, um ihn hinunterzustoßen. 30 Er aber schritt mitten durch sie hindurch und ging seines Weges.
Jesus zeigt hier erstmals öffentlich, als wer er gelten will: als Messias. „Heute sind diese Schriftworte unter euch erfüllt“ – es waren speziell messianische Schriftworte.
Wenn wir Archäologen wären, würden wir hinter dem Text aus Lk 4 zwei tiefere Textschichten ausgraben können.
Textschicht 1
Zuerst stoßen wir auf den Text, den Jesus direkt zitiert hat: Jes 61,1-2; ergänzt durch eine Formulierung aus Jes 58,6 („damit ich die Zerschlagenen in Freiheit setze“). Jesus beansprucht also der zu sein, der in Jes 61 „ich“ sagt.
Jesus zitiert aber den Jesajatext nur unvollständig! Im AT geht er eigentlich noch weiter; er heißt:
um ein Jahr des Wohlwollens des HERRN auszurufen
und einen Tag der Rache unseres Gottes,
um alle Trauernden zu trösten ...Jes 61,2
Jesus lässt den Hinweis auf Gottes Rache weg. Er spricht nur von der Gnade. Das war eine bewusste Auslassung und man hat ich damals in der Synagoge auch so verstanden: „Und alle stimmten ihm zu und staunten über die Worte der Gnade, die aus seinem Mund kamen.“ – „Worte der Gnade“, ohne Gericht, enthielt diese Jesuspredigt. Jesus ist einseitig, so wie er auch im Johannesevangelium sagte, er sei nicht um zu richten gekommen, sondern um zu retten. Diese Einseitigkeit findet zunächst Zustimmung – wenn auch nur für einen kurzen Moment.
Textschicht 2
Hinter Jes 61,1f. liegt aber noch eine ,weitere Textschicht. Zwei Signalwörter deuten auf sie hin:
· „Freilassung auszurufen für die Gefangenen“
· „ein Jahr des Wohlwollens des HERRN auszurufen“
Dieses „Jahr des Wohlwollens“ ist ein biblischer Fachausdruck; er meint das Erlassjahr (auch Jobeljahr oder Halljahr genannt). Der dahinter liegende Text ist 3Mose 25, in dem u.a. dies steht:
8 Und du sollst sieben Jahrwochen zählen, sieben mal sieben Jahre, die Dauer von sieben Jahrwochen ist neunundvierzig Jahre. 9 Dann sollst du das Signalhorn ertönen lassen, im siebten Monat, am Zehnten des Monats. Am Versöhnungstag sollt ihr überall in eurem land das Horn ertönen lassen. 10 Und ihr sollt das fünfzigste Jahr für heilig erklären und eine Freilassung ausrufen im land für all seine Bewohner. Es soll für euch ein Jobeljahr sein, und jeder von euch soll wieder zu seinem Besitz kommen, und jeder soll zurückkehren zu seiner Sippe. Lev 25
39 Und wenn dein Bruder neben dir verarmt und sich dir verkaufen muss, sollst du ihn nicht als Sklaven arbeiten lassen. 40 Wie ein Tagelöhner, wie ein Beisasse soll er bei dir sein, bis zum Jobeljahr soll er bei dir arbeiten. 41 Dann soll er frei werden, er und mit ihm seine Kinder, und er soll zu seiner Sippe zurückkehren und wieder zum Besitz seiner Vorfahren kommen. 42 Denn meine Sklaven sind sie, die ich herausgeführt habe aus dem land Ägypten. Sie sollen nicht verkauft werden, wie man einen Sklaven verkauft. 43 Du sollst nicht mit Gewalt über ihn herrschen, sondern sollst dich fürchten vor deinem Gott. Lev 25
„Alle Jubeljahre“ passierte also u.a. dies:
· Die Grundstücke, die in den Jahrzehnten zuvor ge- bzw. verkauft wurden, fielen an ihren ursprünglichen Besitzer zurück, weil Gott der eigentliche Eigentümer allen Landes ist.
· Ebenso wurden Sklaven freigelassen.
Der Sprecher („ich“) von Jes 61 wendet diese Regel auf seinen Auftrag an: Er bringt Heilung, Befreiung und eben auch einen Erlass. Damit könnte gemeint sein: Zur Zeit, als Jes 61 gesprochen bzw. niedergeschrieben wurde, war das Volk Israel aus der Gefangenschaft in Babylon zwar wieder zurückgekehrt, aber die Verhältnisse im Land waren nicht rosig. Vieles lag noch in Trümmern, das „Heil“ war noch nicht erkennbar, es gab soziale Unterschiede und Spannungen zwischen Arm und Reich (vgl. Jes 58,3.6f.9f.). Vielleicht meint der messianische Sprecher: Jetzt soll ein Erlass erfolgen, auch in der Form, dass diejenigen, die sich bei der Rückkehr ins bis dato verlassene Land rasch bereichert haben, nun ihre Besitztümer mit den Benachteiligten teilen.
Textoberfläche: Lk 4
Jesus nimmt nun diese messianische Botschaft auf und sagt über sich: Wenn ich meinen Messiasdienst beginne, soll zugleich ein Erlassjahr Gottes stattfinden. Weil Jesu Botschaft vom Reich Gottes unpolitisch war, muss sich der Erlass auf andere Verschuldungen beziehen. Gemeint ist wohl: Gott rechnet ab jetzt die Schuld nicht mehr an. Man wird in zweiter Linie auch an die Aufforderung zur gegenseitigen Vergebung denken müssen, die in Jesu Lehre ja einen außerordentlich zentralen Platz hat (Mt 6,12.14f.).
In Jesu Predigt berühren sich also zwei Aussagelinien:
· die Botschaft vom Schuldenerlass
· der Verzicht auf ein Vergeltungswort
Jesus ist hier ganz der Prediger der Gnade. Die juristische Vorstellung von der Amnestie passt sehr gut hierzu. Der Messias ruft Amnestie aus!
Paulus hat das ganz genauso aufgefasst:
19 Denn ich bin gewiss: Gott war in Christus und versöhnte die Welt mit sich, indem er den Menschen ihre Verfehlungen nicht anrechnete und unter uns das Wort von der Versöhnung aufgerichtet hat. 2Kor 5
Gott hat die Verfehlungen einseitig nicht angerechnet, egal wie die Menschen darüber denken!
Die Reaktion der Hörer
Es ist sehr auffällig, dass die Hörer erst erfreut, dann aber ablehnend reagieren. Die Ablehnung bezieht sich wohl zuerst auf seinen Messiasanspruch (Lk 4,22b: Er ist doch Josefs Sohn!); dann auf die Nachricht, dass der Gesandte nicht automatisch nur zu Israel kommt, sondern sich auch Menschen aus anderen Völkern zuwendet (Lk 4,25-27).
Ob darüber hinaus auch die Botschaft von der Amnestie Gottes die Hörer geärgert hat?
Immerhin wissen wir, dass die Pharisäer daran mächtig Anstoß nahmen: „Und die Pharisäer und Schriftgelehrten murrten: Der nimmt Sünder auf und isst mit ihnen.“ (Lk 15,2). Und auch einer, der Jesus gut verstanden hat, war sehr irritiert, dass Jesus keine Gerichtsbotschaft brachte. Johannes der Täufer hatte Jesus eigentlich so angekündigt:
10 Schon ist die Axt an die Wurzel der Bäume gelegt: Jeder Baum, der nicht gute Frucht bringt, wird gefällt und ins Feuer geworfen. 11 Ich taufe euch mit Wasser zur Umkehr; der aber nach mir kommt, ist stärker als ich; mir steht es nicht zu, ihm die Schuhe zu tragen. Er wird euch mit heiligem Geist und mit Feuer taufen. 12 In seiner Hand ist die Wurfschaufel, und er wird seine Tenne säubern. Seinen Weizen wird er in die Scheune einbringen, die Spreu aber wird er in unauslöschlichem Feuer verbrennen. Mt 3
Jesus hat aber eben nicht das Gerichtsfeuer gebracht – was Johannes zutiefst verstörte: „Bist du es, der da kommen soll, oder sollen wir auf einen anderen warten?“ (Mt 11,3)
Ist also die gute Nachricht von einer Amnestie für Fromme ärgerlich?
Wenn ja – warum auch heute noch?
Amnestie heute zwischen Menschen?!
Jesus hat die Nachricht von der Vergebung durch Gott immer verbunden mit der Aufforderung, einander zu vergeben.
14 Denn wenn ihr den Menschen ihre Verfehlungen vergebt, dann wird euer himmlischer Vater auch euch vergeben. 15 Wenn ihr aber den Menschen nicht vergebt, dann wird auch euer Vater eure Verfehlungen nicht vergeben. Mt 6
Es ist zutiefst göttlich und jesusförmig, eine Amnestie zu gewähren denen, die mir Übles angetan haben. Dabei ist wichtig:
· Die Verfehlung wird nicht gerechtfertigt.
· Das Urteil – „Das war verwerflich! Du hast Schuld auf dich geladen!“ -wird nicht zurückgenommen.
· Aber die „Strafe“ wird nicht vollstreckt.
· Die Verfehlung hat keine Wirksamkeit mehr.
· Was mir angetan wurde, ist für mich kein Argument mehr in einer Auseinandersetzung.
· Was mir angetan wurde, bestimmt mein Verhalten nicht mehr gegenüber dem Täter.
Das Ziel einer Amnestie im politischen Bereich ist z. B.:
· Sie geschieht zu Ehren eines Staatsoberhauptes oder einer Idee – z. B. am Nationalfeiertag oder am Geburtstag ... (vgl. auch Mt 27,15.)
· Sie dient der Aussöhnung verfeindeter Gruppen.
Kann nicht christliche Vergebung ebensolche Ziele haben: Wir ehren unseren gütigen Herrn, der durch und durch Liebe ist; wir ersteben Aussöhnung?
Wie können wir in unserer Gemeinde einen „Versöhnungstag“ gestalten, der als einladend und heilend empfunden wird?
Ist ein festgesetzter Termin eine Hilfe zur Entscheidung („sich endlich mal einen Ruck geben“)?
Unter welchen Umständen wäre ein festgesetzter Termin ein unzulässiger Druck auf die Seelen?
Was würde uns helfen, nach einem solchen „Amnestie-Tag“ an dem Vorhaben festzuhalten, alte Schuld nicht mehr hevorzuholen oder gegen jemanden zu verwenden?