Sonntag, 6. Februar 2011

Geistesgegenwärtig führen

Bibelarbeit über Römer 8,28-39. Leiterschaftskonferenz der GGE; Braunschweig, 29.1.2011


Liebe Geschwister,

in einem meiner Gemeindedienste habe ich ab und zu eine alte Dame aus unserer Gemeinde besucht. Man hatte mir schon vorher gesagt, sie sei etwas eigen. Sie wohnte in einem großen Dorf. Ich fuhr vor ihrem Haus vor – ein altes Haus, nicht gut in Schuss. Ich klingelte – keine Reaktion. Aber die Tür war nur angelehnt. Ich also rein, vor jeder Zimmertür klopfend, und mit freundlichem, aber lautem Ruf. „Guten Tag, Frau …, hier kommt der Pastor zu Besuch.“ Ich trat in eine Wohnküche und dort fand ich die Dame. Es war dunkel im Zimmer; sie lag, glaube ich im Bett – jedenfalls war es bei späteren Besuchen so. Zwei bis drei Decken über sich gedeckt und einige Strickjacken an – klar, denn es war bitter kalt im Zimmer. Ich behielt meinen Mantel auch an. Und seitdem verliefen sie Besuche bei ihr immer so: In der dunklen, kalten Wohnküche, die Möbel Jahrzehnte alt. Ich stets im Mantel. Wir redeten, wir beteten, hierher trat ich in die Helligkeit und an die frische Luft, vorher war ich von Armut umfangen gewesen.

Das Verrückte dabei: Diese Frau war reich. Sie hatte ein erhebliches Vermögen, wie mir die Gemeindeleitung sagte. Sie besaß Grundstücke und Immobilien. Aber für sich selbst lebte sie in der Kälte.

Und noch verrückter: Ein dienstbarer Mensch aus der Gemeinde erzählte mir einmal, sie habe ihn um Hilfe gebeten für ihre Heizung. Und seine Untersuchung ergab: Im Keller lief der Brenner auf voller Leistung und stellte Tag und Nacht heißes Wasser bereit für Heizung und Wasserhahn. Rund um die Uhr. Bloß einen Stock höher hat sie es nie abgenommen. Aus Sparsamkeit. Obwohl sie kaum was sparte. Der Brenner lief ja volle Pulle.

Angenommen, diese alte Frau ist keine skurrile Ausnahme. Angenommen, wir gleichen ihr in vielen Momenten unseres Lebens! Wir haben im Keller alle Energie am Laufen, Brennstoff ist da, die benötigte Temperatur steht zur Verfügung – aber dort, wo wir leben, kommt nichts an. Wir zapfen nichts ab. Uns ist kalt und duster, wir leben sparsam, der kluge Mensch baut halt vor – aber das ist völlig absurd, weil ja niemand etwas davon hat, dass wir den Brenner nicht in Anspruch nehmen. Gleicht unser Leben aus Gottes Sicht nicht manchmal dem Haus dieser alten Frau? Bei mir ist es jedenfalls immer wieder so.

Wir haben auch heute wieder das großartige achte Kapitel von Paulusʼ Römerbrief auf dem Programm. Hier zeigt uns Gott, was er für Energien für uns bereit stellt. Heute hören wir auf die Verse 28-39:

(28) Wir wissen aber dies: Für die, die Gott lieben, wirken alle Dinge zum guten (Ergebnis) zusammen: (an) denen (geschieht das), die nach dem Entschluss berufen sind. (29) Denn diejenigen, die er (schon) im Voraus in seine Gedanken einbezogen hat, die hat er auch vorab dazu bestimmt, dass ihr Leben die gleichen Konturen annimmt wie das seines Sohnes, so dass der (dann) der Älteste unter vielen Geschwistern ist.

(30) Diejenigen aber, denen er vorab eine Bestimmung gegeben hat, die hat er auch gerufen. Und diejenigen, die er gerufen hat, hat er auch gerecht gesprochen. Die aber, die er gerecht gesprochen hat, die hat er auch zu Ehren gebracht.

(31) Was bleibt uns da noch zu sagen? Wenn Gott für uns ist – wer ist dann noch gegen uns? (32) Wenn jemand (so weit geht und) seinen eigenen Sohn nicht verschont, sondern ihn für uns alle preisgibt (– so wie er es ja auch wirklich getan hat –), dann hat er uns mit ihm (doch auch gleich) alles (andere mit-)geschenkt.

(33) Wer wird die von Gott Ausgesuchten (noch) beschuldigen? Gott ist (jedenfalls) der, der (sie) gerecht spricht. (34) Wer ist noch (da), der verurteilt? Christus Jesus ist der, der gestorben ist, mehr noch: der auferweckt wurde, der auch seinen Platz neben Gott zu seiner rechten Seite hat, der sich auch für uns verwendet.

(35) Wer wird uns noch abtrennen von der Liebe des Christus? Druck oder Engpässe oder Verfolgung oder Hunger oder wenn wir nackt dastehen oder Gefahren oder Waffengewalt? (36) So steht es geschrieben:

Wegen dir sehen wir jeden Tag dem Tod ins Auge.

Wir gelten als Schafe auf der Schlachtbank.“

(37) Doch in all dem sind wir überlegene Sieger durch den, der uns geliebt hat. (38) Ich bin nämlich davon überzeugt, dass weder Tod noch Leben, weder Engel noch herrschende Mächte, weder Gegenwärtiges noch Kommendes, auch keine Gewalten, (39) weder hoch Aufgerichtetes noch (unergründlich) Tiefes, auch nicht irgend ein anderes Geschöpf imstande ist, uns abzutrennen von Gottes Liebe, die in Christus Jesus da ist, unserem Herrn.

1. Unser wunderbares Leben …

Wenn wir die Gedankenführung von Paulus so hören, dann können wir wirklich große Augen bekommen: Was für ein großartiges Leben ist hier entworfen! Was für überragend große Möglichkeiten sind uns von Gott her zugesprochen! Wir müssen sie nur kurz abpflücken und aufsammeln:

Als Gott uns Jesus geschenkt hat, da hat er uns in diesem Augenblick alles andere mit geschenkt (V. 32). Jesus ist der Sieger über den Tod, der Anker in der Zeit, der Überwinder aus Liebe. Der ist uns gegeben – alles, was wir brauchen und je ausdenken können, ist darin enthalten. Unfassbar, aber wahr. Und unser Leben soll dabei die gleichen Konturen annehmen wie das von Jesus!

In allen Lebenssituationen sind wir überlegene Sieger (V. 37)! Nichts kann uns also wirklich anfressen. Nichts behält die Oberhand über uns.

Gott hat uns zu hohen Ehren gebracht (V. 30). Das sagt Paulus hier nicht für die Zukunft voraus, er hat nicht im Futur geschrieben, sondern in der Vergangenheitsform. Gott hat das bereits arrangiert und in Wirkung gesetzt: uns zu Ehren gebracht.

Die Rechtsforderung von Gottes Gesetz wird in uns erfüllt, aus uns heraus, durch Gottes Geist. Nicht wir müssen angestrengt zusehen, wie wir Gott gefallen, sondern das neue Leben findet durch den Heiligen Geist bereits statt in uns (V. 4).

Alles, was uns passiert, führt bei uns zu einem guten Ergebnis (V. 28). Keinem Unfall also, keiner Missgunst, keiner Enttäuschung sind wir hilflos ausgesetzt. Gott benutzt das und führt es zu guten Ergebnis.

Was für ein Leben ist uns zugesprochen! Was für ein Energiekraftwerk brummt da in unserem Keller!

Wem gilt das?

Paulus schreibt in der Wir-Form. Er sagt es also jedem Jesusmenschen zu, jeder Nachfolgerin und jeden Nachfolger. Wir treffen uns zur Leiterschaftskonferenz und behandeln leiterschaftsspezifische Themen. Also sind die Realitäten von Römer 8 auch für Christen in leitender Verantwortung eine hervorragende Ausstattung. Wir dürfen uns selbst so sehen, dass wir, auch im Blick auf unsere Verantwortungsbereiche, mit diesen Römer-8-Kompetenzen ausgestattet sind.

Aber derselbe Zuspruch gilt zugleich auch jedem einzelnen Jesusmenschen, für den du verantwortlich bist. Die Leute, die abends manchmal müde und unkonzentriert in deinen Hauskreis kommen. Die ewigen In-Frage-Steller, die vorausberechenbar in der Gemeindestunde eine skeptische Frage in den Raum werfen. Die Mitarbeiterin, die zehn mal pro Jahr zusagt, eine Aufgabe zu übernehmen, und acht mal musst du es dann doch selber machen. All das sind Jesusleute und haben dieses Römer-8-Kraftwerk im Keller. Halt mal einen Moment inne und sieh deine Leute so.

2. Unser klägliches Leben

Alles, was ich bisher genannt habe, ist aber nur die Hälfte unserer Lebensbeschreibung. Wir müssen noch einmal durch Römer 8 hindurch gehen und pflücken und aufsammeln, und dieser zweite Erntedurchgang ergibt das genau entgegengesetzte Bild.

Was ist das für ein klägliches, defizitäres Leben, mit dem wir zurechtkommen müssen!

„Druck, Engpässe, Verfolgung, Hunger, wenn wir nackt dastehen, Gefahren, Waffengewalt“ (V. 35) – für jedes einzelne Wort hiervon konnte Paulus in seinem Leben konkrete Beispiele erzählen. Und wenn wir hier mit dem Mikrofon durch die Reihen gingen, würden ebenfalls zahllose Beispiele zusammenkommen. Hunger mag da noch die seltenste Erfahrung sein, weil wir zufällig in einem Wohlstandsland sind. Aber Druck und Engpässe und schlaflose Nächte deswegen, klar, das kennen wir. Die Spannung – Magendruck? –, in einen neuen Tag zu starten, an dem eklige Gespräche mit schwierigen Menschen geführt sein müssen. „Waffengewalt“ – wenn wir daran denken, dass die Zunge und die eiskalte Intrige oft eine geladene und entsicherte Waffe ist – ja, auch solcher Waffengewalt sind viele von uns ausgesetzt. „Wenn wir nackt dastehen“, schreibt Paulus – ja, ich bin mit meiner Gemeindeleitung manches Mal nackt vor der Gemeinde gestanden, als wir eine Entscheidung vertreten mussten, die nötig war, weil wir wussten, wer wann etwas gesagt oder getan hatte. Um es der Gemeinde richtig zu erklären, hätte man Vertrauliches preisgeben müssen, schmutzige Wäsche waschen müssen. Das haben wir nicht getan. Das Argument, das uns überzeugt hatte, konnten wir nicht sagen, und das wurde als Schwäche ausgelegt. „Wenn wir nackt dastehen“ – allerdings.

„Herrschende Mächte und Gewalten“ sind am Werk, sagt Paulus. Sie trennen uns nicht von der Liebe Christi, aber sie sind am Werk, und in der Tat frage ich mich manchmal, welche Mächte und Gewalten wirksam sind, wenn Menschen unversöhnlich sind, Bitterkeit über Generationen transportieren, auf der Klaviatur der Machtmechanismen virtuose Konzerte spielen.

„Auch wir selbst seufzen tief aus uns heraus“, sagt Paulus in V. 23 – ja, allerdings. Und dann wissen wir nicht, was und wie wir beten sollen. Das ist unser Leben, auch als Jesusleute. Und diese Engpässe erfahren wiederum nicht nur wir als Leitende und Verantwortungsträger, sondern jeder Jesusmensch in unseren Verantwortungsbereichen. Wir sitzen da in einem Boot und müssen miteinander solidarisch sein in unseren Defiziten und Mangelerfahrungen.

3. Was bleibt unterm Strich?

Womit können wir also insgesamt gesehen rechnen, lieber Paulus? Du servierst uns hier große Sätze vom Sieg und bedrückende Erfahrungen der nackten Vorläufigkeit. Was steht uns denn in Aussicht für unser Leben im Diesseits? Mal so, mal so? Glückliche lichte Momente, wenn der dunkle Himmel mal gelegentlich aufreißt, aber oft wandern wir im Nebel?

Gut, das eine bleibt bestehen, das Erste und das Letzte: Nichts kann uns abtrennen von der Liebe des Vaters und der Liebe seines Sohns. Keine äußeren Umstände, weder Sieg noch Defizit, erlauben einen Rückschluss auf Gottes Liebe. Denn die ist konstant und zuverlässig, unabhängig von den Erfahrungen. Gut. Aber klingt das nicht doch allzu sehr nach „Macht nichts, ich habe dich trotzdem lieb“? Das Leben mit Gott ist gelegentlich wunderbar und doch meist bescheiden, aber trotz allem liebt er uns. Das Wörtchen „trotzdem“ – zeigt es nicht, dass außer der Liebe des Vaters sonst wenig zu erwarten ist auf der Ebene unserer Erfahrungsrealität? Was ist das für eine Liebeserklärung meiner Frau, wenn sie mir sagt: „Du hast ja deine Fehler, aber ich liebe dich trotzdem“? Ist das nicht eine Liebeserklärung mit angezogener Handbremse?

Für mich gehen die Fragen noch weiter. Wenn Paulus hier in Römer 8 eine Mixtur von Sieg und Bedrängnissen anbietet, frage ich mich: Wer ist denn Gott in all dem, dass er mich zwar lieb hat, aber ständig doch den Sieg so dosiert und die Unterlegenheitsmomente so oft zulässt?

4. Wer ist Gott eigentlich?

Für mich ist diese Frage letztes Jahr sehr zentral geworden, als ich nach 14 Jahren Dienst als Gemeindepastor in einer Seelsorgezeit zurückgeblickt habe und mich damit auseinandergesetzt habe, worunter ich seufzen musste in meinem Dienst. Geseufzt habe ich oft nicht wegen anderer Menschen, sondern unter mir selbst. Unter der Anfechtung, ich sei von Gott nur teilweise gut und nicht ausreichend genug ausgestattet worden für die Herausforderungen, mit denen ich im Laufe der Jahre konfrontiert wurde. Gott ist der Schöpfer. Gut. Aber wenn er mich in diese und jene Aufgabe gestellt hat, dann hätte er mir vielleicht noch präziser auf dem Leib schneidern könne, was ich an Gaben und Fähigkeiten dringend gebraucht hätte. Nun gibt es nicht nur Gott, den Schöpfer, sondern auch den Geist, den Neuschöpfer. Und den Sohn, Christus, den Versöhner. Die Frage, die mich bewegt, ist: Muss der Neuschöpfer in mir das ausgleichen, was der Schöpfer mir noch nicht mitgegeben hat? Macht Christus also in meinem Leben gut, was ich verdorben habe und was der Schöpfer vielleicht auch noch nicht so ganz gut gemacht hat?

Ist Gott, der Schöpfer, der Vater, verlässlich?

Wie ist das mit der Liebe des Vaters? Ist es wirklich eine „Naja-trotz-allem-dennoch“-Liebe? „Ich hätte eigentlich mehr von dir erwartet – du hast das nicht gebracht, aber naja, gut, ich hab dich trotzdem lieb“ –? Ist Christus das helle Fenster in einem Haus, das ansonsten dunkel ist?

Ich vermute stark, dass ungefähr die Hälfte von euch solche Fragen, solche Anfechtungen kennt und die andere Hälfte sich darüber nur wundert: nicht nachvollziehen kann, wie man die unabänderliche Liebe Gottes so verdunkelt erleben kann und den Vater und den Sohn auseinanderhalten kann. Aber es gibt sie, diese Zweifel, ob Gott uns aus sich heraus gut ist – oder ob er sozusagen erst von Christus dazu gebracht werden musste. In einer Römer-8-Auslegung von Hans- Joachim Eckstein finde ich dieselbe Frage wieder: „Hat Gott, der Vater, vor dem Eingreifen Jesu Christi seine Menschen nicht geliebt? Musste der Sohn etwa den Vater allererst umstimmen?“

Und auch die andere Frage ist nicht nur meine eigene gewesen: Bin ich in meiner Art, wie ich nun einmal bin, richtig für die Aufgabe, an die Gott mich stellte? Olaf Kormannshaus hat in einem Referat vor zwei Jahren diese Empfinden am Beispiel eines Pastorenehepaares beschrieben: „Bald hatten sie das Gefühl, irgendwie »falsch« zu sein. Nicht, etwas falsch gemacht zu haben, sondern falsch zu sein. Und es war, als schämten sie sich dafür, ganz eigenartig.“

Das Gefühl, irgendwie falsch zu sein: Wer mit diesem Gefühl ständig lebt, hat ja prächtige Aussichten, irgendwann auszubrennen. Ich sehe das, was eigentlich sein sollte – was ein guter, kompetenter Pastor (oder Hauskreisleiter oder Ältester oder Royal-Rangers-Leiter) bringen sollte – und sehe dagegen, was ich bin, und sehe die Kluft dazwischen.

Was für ein „effektiver“ innerer Antreiber ist diese Kluft! Effektiv, d.h. Höchst wirkungsvoll – aber dabei perfide und zerstörerisch.

Und wer ist Gott? Wenn er mich in eine Aufgabe stellte und mich doch nicht als Schöpfer passgenau dafür ausstattete – dann kann Gott doch nur noch der Antreiber sein. Der mich an den Start gesetzt hat und dann am Ziel auf mich wartet, ob ich's denn schaffe. Und wenn nicht – dann verurteilt mich Gott und ich kann bloß noch auf Christus hoffen, der es wieder gut macht. Der Schöpfer fordert – und der Neuschöpfer Christus gleicht aus: Ein total zerrissenes Gottesbild. Und nicht nur das. Auch ich selbst bin zerrissen dazwischen.

So ungefähr ging meine Anfechtung und in meiner Seelsorgezeit habe ich das in der Reflexion noch einmal beklemmend durchlitten.

Ist Gott aber so? Wer ist Gott?

In meiner Seelsorge-Einkehrzeit hat Gott dann in meine Gedanken Römer 8 eingeblendet – ein Heiliger-Geistes-Blitz. Und zwar folgenden Satz aus unserem heutigen Abschnitt:

Wer wird die von Gott Ausgesuchten (noch) beschuldigen? Gott ist (jedenfalls) der, der (sie) gerecht spricht. V. 33

Beschuldigen – ja, das kenne ich gut, das tue ich selbst. Gott ist der, der gerecht spricht. Nicht erst später Christus. Der Schöpfer und der Erlöser ist derselbe. Schöpfung und Neuschöpfung kommen vom selben Anbieter. Gott ist in sich eins. Nicht Christus ist das helle Fenster an einem Haus, das ansonsten dunkel ist, sondern das Haus ist in sich durch und durch erleuchtet. In Gott begegne ich keinem, der mich mit Vorbehalt behandelt. Hans-Joachim Eckstein schreibt über Vater und Sohn: „In ihrem gemeinsamen Anliegen, die Menschen für die vollkommene Gemeinschaft in Frieden und Gerechtigkeit zu gewinnen, stehen sich beide in nichts nach: […] während der Sohn sich angesichts aller Anklagen schützend vor sie stellt, wendet sich ihnen der Vater selbst fürsorglich und liebevoll zu.“ Ich habe das vor einem halben Jahr über dem Römerbrief wiederentdeckt und wie schon oft ist mir Römer 8 auch da zur Seelsorge und zur Heilung geworden.

Und doch blieben Widersprüche: Sieg und Kläglichkeit. Wir sind dabei zu fragen: Was können wir von diesem Gott erwarten, wenn wir unser Leben als so widersprüchlich erfahren zwischen Sieg und Bedrückung und wenn Römer 8 uns zeigt, dass das von Gott her auch momentan nicht anders ist. Womit können wir noch rechnen? Wir haben gesehen: Gott selbst trägt diese Widersprüchlichkeit nicht in sich; er ist mit sich eins und ist uns gut. Aber was hat er dann für uns bereit? Die Antwort will ich in meinem letzten Punkt versuchen.

5. Gott lenkt alles ins Gute.

Ich knüpfe an dieses bekannte Wort an, das für mich fast zu großartig klingt, um wahr zu ein:

Wir wissen aber dies: Für die, die Gott lieben, wirken alle Dinge zum Guten zusammen. V. 28

Was ist uns damit von Gott gesagt?

Zunächst dies: Wenn alles, was uns passiert, zum Guten führt, dann ist es hinterher also gut. Zwischendrin aber noch nicht unbedingt. Die bedrängenden Umstände – „Druck, Engpässe, Verfolgung, Hunger, wenn wir nackt dastehen, Gefahren, Waffengewalt“; wenn wir nur noch seufzen; wenn wir nicht wissen, was wir beten sollen – diese Momente sind nicht gut und müssen nicht solange mit frommen Gedanken bestrahlt werden, bis sie uns verklärt vorkommen. Josef im Ersten Testament sagte am Ende seines Weges wohl: „Menschen planten Böses, Gott aber hat Gutes daraus geplant.“ (Gen 50,20) Aber dennoch war das Böse – als er im Wasserloch saß oder später im Gefängnis – nicht gleich schon gut geworden, das war nach wie vor Mist. Also: Gott zielt auf das Gute, aber zwischendurch kann der Weg doch kläglich sein.

Was aber ist das Gute? Das ist die Schlüsselfrage und mit ihr gewinnen wir Zugang zu Gottes ganzer Fülle. Was meint Paulus mit dem Guten? Dass es uns nach einer Zwischenzeit dann gut gehen wird? Dass wir gar Güter genießen können? Dass wir zufrieden sagen: „Das find ich jetzt gut!“ –?

Hier müssen wir kurz in die Sprachschule von Paulus gehen. Was hat er wohl mit dem Guten gemeint? Der Ausleger Adolf Pohl setzt uns auf eine Spur, indem er sagt: Das Gute ist das Heil, also die Errettung; dieses Verständnis sei wichtig, wenn es nicht zu Enttäuschungen kommen soll. Pohl hat das bei Paulus abgelesen in Römer 14,16, wo Paulus tatsächlich diesen Ausdruck „euer Gutes“ benutzt, um das Errettungsgeschenk durch Christus zu beschreiben.

Demnach führt alles, was uns passiert, doch zu unserem Heil, zu unserer Errettung. Ich denke aber, damit ist das, was Paulus meint, noch nicht voll ausgeschöpft. Es wäre so ja nur ein jeweiliges Einzelgeschenk, für jeden individuell. Heil ist aber mehr als vielfache Einzelerlösung. Wenn ich den von Adolf Pohl genannten Schlüsselvers weiter lese, komme ich zu Römer 14,17:

16 Was für euch gut ist, soll nicht schlechtgemacht werden. 17 Denn das Reich Gottes ist nicht Essen und Trinken, sondern Gerechtigkeit, Frieden und Freude im heiligen Geist.

Hier ist eine Reihe von Worten genannt, die große Kraftfelder von Gott beschreiben: Das Reich Gottes – also seine Königsherrschaft. Gerechtigkeit. Frieden. Freude. Heiliger Geist.

Gottes Königsherrschaft: Sie ist mehr als das persönliche Heil. Sie kommt auch nicht erst am Ende der Geschichte. Damals mit Jesus war sie hineingebrochen in das römische Reich und war dort sehr wirksam und greifbar – in Jesus, in dem, was er tat und sagte. Alle Dinge wirken zum Guten – alles, was den Menschen um Jesus in dem zum Teil brutalen römischen Reich passierte, das wirkte doch zur Königsherrschaft Gottes hin. Gottes Königsherrschaft war nicht ausgebremst oder reduziert durch die römische Kaiserherrschaft, sondern kam in Jesus voll zur Wirkung.

Also auch in allen Umständen meines Lebens, in allen Engpässen und Nacktheiten. Auch das andere, das Paulus hier nennt, bezeichnet wirksame Kraftfelder. Gerechtigkeit: Gottes Gerechtigkeit ragt hinein in die Herrschaft des römischen Reiches, der Mächte und Gewalten oder auch die Herrschaft meines Egos. Sie schafft Ausgleich und zieht den Machenschaften eine Grenze, den Machtmechanismen in unseren Gemeinden und auch zeichenhaft den Mächten in unserer Gesellschaft, die sich so groß vor uns aufbauen. Beweis: Jesus von Nazaret, wirksam im römischen Reich und nicht totzukriegen durch dieses Reich – oder wenn, dann nur vorübergehend.

Frieden, Freude – das sind keine harmlosen Gemütszustände. Sondern es sind Energien, die standhalten gegenüber den anderen Lebenserfahrungen: der Feindschaft gegen Christus, der Ungerechtigkeit, dem Unfrieden. Wenn ich gehetzt bin oder unter der Diktatur der Meinungen anderer stehe, meldet sich Frieden. Inmitten meiner Trägheit kommt Freude zur Wirkung. In Krankheit erfahre ich Gottes Reich, sei es durch Heilung, sei es durch Zuwendung von Menschen. Gott bündelt all das zusammen und bringt es mit seiner Königsherrschaft in Kontakt. Das ist Gottes Definition des „Guten“ wie er sie Paulus anvertraut hat. Und noch einmal: Dieses „Gute“ ist ein Energiefeld, ein Kraftwerk – so sagt es auch die Jahreslosung 2011:

Lass dich vom Bösen nicht besiegen, sondern besiege das Böse durch das Gute.
Römer 12,21

Da ist sie wieder, die Siegeskraft.

Was steht uns in Aussicht in der Widersprüchlichkeit unseres Lebens? Wir sind bestimmt von den Realitäten unseres Lebens, die Paulus nennt: „Druck, Engpässe, Verfolgung, Hunger, wenn wir nackt dastehen, Gefahren, Waffengewalt“ – wir kennen diese Reihe. Aber darin eingewoben sind weitere Realitäten: Gottes Königsherrschaft. Gerechtigkeit. Frieden. Freude. Der Heilige Geist. Auf diese Kräfte hin führt alles, was denen passiert, die Gott lieben. Denen, die nach Gottes Entschluss berufen sind und die von diesem Entschluss gehalten werden, auch wenn sie in sich selbst von Fall zu Fall wenig Regung erkennen, Gott zu lieben.

Wir wissen aber dies: Denen, die Gott lieben, verhelfen alle Dinge zum Guten: Es münden alle Erfahrungen in die Königsherrschaft Gottes, in Frieden und Freude im Heiligen Geist; (an) denen (geschieht das), die nach dem Entschluss berufen sind.

Es ist jetzt schon einige Jahre her, dass ich bei der alten Dame zu Besuch war in ihrem kalten und dunklen Haus mit dem Heizungsbrenner auf Hochtouren im Keller. Sie lebt mittlerweile nicht mehr, nicht mehr auf dieser Erde; sie ist im Himmel, weil sie mitsamt ihren Eigenheiten zu denen gehört, die Gott lieben und die nach seinem Entschluss berufen sind.

Aber die Erinnerung an ihren „Lebensentwurf“ bleibt: Man kann so leben, dass man im Keller das Kraftwerk hat und auf der Wohnetage kommt nichts an. Die Realitäten Gottes aus Römer 8 sind in deinem Keller das Kraftwerk. Und das Beste, was du machen kannst, ist: die Ventile aufdrehen. Die Energie anzapfen. Es Gott glauben, dass er seine Königsherrschaft mitten in die Widersprüchlichkeit deines Lebens einbrechen lässt. Es von dir selbst glauben, dass du einer bist, der Zugang zu diesen Überwindungskräften hat. Gott jedenfalls sieht dich so.

Römer 8 – als ich letzte Woche mit einem Kollegen im Verlag darüber sprach, meinte er: dieses Kapitel kann nur teilweise durch Reflexion und Nachdenken ausgelegt werden. Da sind Dinge, die man nur über die Erfahrung erschließen kann.

Ich bete darum, dass Gott selbst sein Exeget ist und dieses Verheißungskapitel in mein Leben hinein und in unser Leben hinein auslegt. Dass Gott selbst seine Herrschaft so in uns und unter uns aufrichtet, dass wir aus vollem Herzen zustimmen können:

Also doch! In all dem sind wir überlegene Sieger durch den, der uns geliebt hat!

Amen.