Samstag, 11. Juli 2009

Predigt vom 12.7.2009: Wer nichts verdient, kriegt alles geschenkt!

Predigt über Mt 20,1-16:
„Wer nichts verdient, kriegt alles geschenkt“

Liebe Gemeinde,
die Ferien haben begonnen, vorgestern war der letzte Schultag, es gab Zeugnisse und ich möchte gern wissen, wer gut in Mathematik ist.
Für alle, die sich jetzt nicht gemeldet haben, gibt es eine gute Nachricht: Auch Gott ist schlecht im Rechnen! Seine Mathematik ist rechnerisch oft fehlerhaft.
Kühne Behauptung? Nun, Jesus hat viele Beispielgeschichten über Gott erzählt, und in der, die ich für heute ausgesucht habe, geht es um einen Gutsbesitzer. Der steht als Gleichnis für Gott. Und rechnen scheint der eben nicht zu können. Hören wir auf das Gleichnis aus dem Matthäusevangelium, Kapitel 20:

1 Denn mit dem Himmelreich ist es wie mit einem Gutsbesitzer, der früh am Morgen sein Haus verließ, um Arbeiter für seinen Weinberg anzuwerben. 2 Er einigte sich mit den Arbeitern auf einen Denar für den Tag und schickte sie in seinen Weinberg. 3 Um die dritte Stunde ging er wieder auf den Markt und sah andere dastehen, die keine Arbeit hatten. 4 Er sagte zu ihnen: Geht auch ihr in meinen Weinberg! Ich werde euch geben, was recht ist. 5 Und sie gingen. Um die sechste und um die neunte Stunde ging der Gutsherr wieder auf den Markt und machte es ebenso. 6 Als er um die elfte Stunde noch einmal hinging, traf er wieder einige, die dort herumstanden. Er sagte zu ihnen: Was steht ihr hier den ganzen Tag untätig herum? 7 Sie antworteten: Niemand hat uns angeworben. Da sagte er zu ihnen: Geht auch ihr in meinen Weinberg!
8 Als es nun Abend geworden war, sagte der Besitzer des Weinbergs zu seinem Verwalter: Ruf die Arbeiter, und zahl ihnen den Lohn aus, angefangen bei den letzten, bis hin zu den ersten. 9 Da kamen die Männer, die er um die elfte Stunde angeworben hatte, und jeder erhielt einen Denar. 10 Als dann die ersten an der Reihe waren, glaubten sie, mehr zu bekommen. Aber auch sie erhielten nur einen Denar. 11 Da begannen sie, über den Gutsherrn zu murren, 12 und sagten: Diese letzten haben nur eine Stunde gearbeitet, und du hast sie uns gleichgestellt; wir aber haben den ganzen Tag über die Last der Arbeit und die Hitze ertragen. 13 Da erwiderte er einem von ihnen: Mein Freund, dir geschieht kein Unrecht. Hast du nicht einen Denar mit mir vereinbart? 14 Nimm dein Geld und geh! Ich will dem letzten ebenso viel geben wie dir. 15 Darf ich mit dem, was mir gehört, nicht tun, was ich will? Machst du ein böses Gesicht, weil ich gütig bin? 16 So werden die Letzten die Ersten sein und die Ersten die Letzten. (Mt 20)

Diese Geschichte hat sich kein Gewerkschaftsführer ausgedacht, sondern Jesus. Er möchte etwas zeigen über Gott und seine Herrschaft. Aber kann man Gott wirklich vergleichen mit einem solchen Gutsbesitzer, der offenbar die Übersicht verloren hat?
Es muss ja ein wohlhabender Gutsbesitzer sein. Sonst hätte er nicht Arbeit für mehrere Tagelöhner. Wer es zu einem großen Weingut gebracht hat, der muss Erfahrung haben. Aber – jetzt kommt das Seltsame – wer Erfahrung im Beruf hat, der wird doch wohl wissen, wie viele Arbeiter er für diesen Tag braucht. Der heuert am morgen die nötige Anzahl an und gut ist. Wieso geht dieser Arbeitgeber immer wieder neu zum Markt, fünfmal insgesamt, und winkt immer noch weitere Tagelöhner heran? Der hat doch wohl wirklich keinen Plan. Der kann doch wohl nicht rechnen – sonst hätte er frühmorgens geklärt, wie viele Männer er braucht.
Oder gibt es einen anderen Grund, dass er so oft geht? Wir sehen uns mal den Satz an, der genau in der Mitte der Geschichte steht, denn dieser Satz enthält noch eine Überraschung.

8 Als es nun Abend geworden war, sagte der Besitzer des Weinbergs zu seinem Verwalter: Ruf die Arbeiter, und zahl ihnen den Lohn aus, angefangen bei den letzten, bis hin zu den ersten.

Der Gutsherr ruft seinen Verwalter. Aha – er hat einen Verwalter! Er muss wirklich begütert sein. Aber wieso taucht dieser Verwalter erst jetzt aus dem Nichts auf? Wieso hat der nicht vorher die Laufarbeit erledigt, wie es normal gewesen wäre? Wenn der Chef wirklich aus Versehen zu wenige Tagelöhner angeheuert hätte, wäre es doch das Einfachste von der Welt gewesen, schnell seinen Verwalter zum Markt zu schicken. Aber der Chef ging selber hin. Er wollte wohl extra höchstpersönlich zum Markt, immer wieder. Wieso?
Mal angenommen, er hätte richtig gerechnet in der Frühe des Morgens. Soundso viele Arbeiter braucht er. So viele stellte er auch ein. Die anderen ließ er stehen. Die würden schon woanders Arbeit finden. Aber würden sie wirklich? Und was wenn nicht? Ein Tagelöhner lebt eben notgedrungen von einem Tag auf den anderen. Ob er abends nach Hause kommt und seiner Frau und den Kindern die Geldmünze zeigen kann – ein Denar war der normale Tagestarif –, ob er den also seiner Familie zeigen konnte oder ob er etwa mit hängendem Kopf nach Hause kam und vielleicht gesagt hätte: „Heute war nichts“, oder ob er gar nichts gesagt hätte und die anderen hätten auch nicht zu fragen gewagt, weil sie es sowieso schon gesehen hätten: sie hätten ihren gedemütigten arbeitslosen Mann und Vater gesehen und hätten die Scham nicht noch vergrößert, indem sie gefragt hätten – – ob es vielleicht so kommen würde, das weiß man am Morgen noch nicht. Der Tagelöhner weiß es nicht und der, der sich für das Schicksal des Tagelöhners interessiert, weiß es auch nicht. Der Gutsbesitzer war offenbar jemand, der sich für diese Arbeiter interessierte: ob die noch was finden würden oder ob sie abends gedemütigt nach Hause schleichen würden. Deshalb ging er hin. Und als tatsächlich noch welche da standen, stellte er wieder einige ein. Er würde wohl noch was zu tun finden für sie. Aber was war mit den anderen, die wiederum stehen geblieben waren? Wieder und wieder geht der Chef hin, selbst; schickt nicht seinen Verwalter. Es gibt nur einen denkbaren Grund: Der Gutsbesitzer hat ein mitfühlendes Herz für diese Menschen. Er kennt die Abhängigkeit und die Demütigung, wenn sie ohne Arbeit blieben. Der Gutsbesitzer selbst hat das mitfühlende Herz und deshalb schickt er keinen Vertreter, nicht seinen Verwalter, sondern geht persönlich.
Mit den ersten früh am morgen hat er den Normaltarif vereinbart. Einen Denar. Dann holte er um neun Uhr und um zwölf und um 15 Uhr auch noch Arbeiter. Denen versprach er zu geben, „was recht ist“. Was wäre recht für einen Arbeiter, der erst um 15 Uhr loslegt? Das kann er sich selbst schnell ausrechnen. Mit denen, die er zuallerletzt um 17 Uhr anheuert, vereinbart er gar nichts. Eine Stunde Arbeit – es wäre schon viel, dass sie sich in dieser Stunde als tüchtig bewähren und dann vielleicht am folgenden Tag zuerst eingestellt würden.
Aber nun sagt der Gutsbesitzer zu seinem Verwalter nur das eine: „Ruf die Arbeiter und zahl ihnen den Lohn aus.“ Nicht: „jeweils den Lohn“. Und auch nicht: „den Denar bzw. was für die anderen recht ist.“ Sondern es ist eine Pauschalanweisung: „die Arbeiter – zahl ihnen den Lohn.“ Derselbe Lohn für alle, unabhängig von der Arbeitsleistung. Und wer zuletzt fast nichts verdient hätte, weil er eben kaum GEdient hat, der bekommt das meiste des vollen Lohnes also geschenkt. Unfreiwillige Kurzarbeit, aber mit vollem Lohnausgleich.
Das konnte sich damals schon kein Arbeitgeber leisten. Also kann dieser Chef wirklich nicht rechnen? Doch, natürlich. Aber er wollte es so!
Jesus hat die Geschichte so begonnen: „Denn mit dem Himmelreich ist es wie mit einem Gutsbesitzer ...“ Bei Gott geht es eben so zu. Gott hat ein Herz für die, die ganz hintenanstehen. Die von anderen ständig überholt werden, weil diese anderen irgendwie tüchtiger sind oder ansehnlicher, weil die jedenfalls oft eine bessere Schnitte bekommen. Es gibt Menschen, die fallen immer zuerst positiv auf. Die purzeln immer wieder auf ihre Füße. Und eben die Verlierer. Die wählt man im Sportunterricht nicht in die Mannschaft, die bleiben beim abwechselnden Einwählen bis zuletzt stehen und werden dann notgedrungen als Ballast mitgenommen. Die sitzen beim Gartenfest isoliert da, weil sie nicht fein genug sind. Es gibt Menschen, die sich vom Schicksal zurückgesetzt vorkommen, weil sie zeitlebens kränker sind als andere und in der Familie mehr Schwierigkeiten haben und ihren Job früher verlieren. Sie kommen sich bestraft vor, ohne dass sie sagen könnten wofür. Aber anscheinend hat das Schicksal oder auch Gott sie auf dem Kieker. Und in der frommen Welt gibt es auch diejenigen, die nicht so wohlgesetzt reden können und nicht so erfolgreich ihre Probleme gelöst kriegen oder sie jedenfalls nicht so erfolgreich verstecken können wie andere. Menschen, die nicht so treffsicher den Kleidungsgeschmack der Gemeinde kopieren und deshalb irgendwie auffallen und das auch spüren. Es gibt diejenigen, die keine wohlbehütete Biografie vorweisen können und nicht schon mit fünf in der Sonntagsschule waren und mit fünfzehn im Chor.
Christen zweiter Klasse? Sie dürfen auch in der Gemeinde sein, aber nur aus Gnaden?
Wer in solch einer Lebenssituation ist, verschuldet oder unverschuldet, wer immer ein paar Probleme zu viel hat und ein paar christliche Manieren zu wenig – der sitzt in einer doppelten Klemme.
Erstens hat er eben wirklich die Probleme. Finanzsorgen oder sonst was. Das macht Stress genug. Aber zweitens sind diese Menschen sehr oft dabei, sich selbst abzuwerten. Die Gesellschaft wertet sie ab, das ist klar, aber irgendwann bleibt das so in den Kleidern hängen, dass man meint: Da muss ja was dran sein. Ich bin wohl wirklich einer, der sich ganz hinten anstellen muss. Mit mir hat sich der liebe Gott wohl wirklich nicht so viel Mühe gegeben. Pech auch!
Die Tagelöhner, die damals an vielen Tagen ohne ihren Tages-Denar heim kamen, die werden sich so gefühlt haben: nicht nur zu wenig Geld, sondern auch so wertlos durch und durch. Die anderen waren mal wieder schneller, ich bin mal wieder das Letzte.
Gott will das nicht! Gott will nicht, dass auch nur einer so über sich denkt. Gott will uns herausholen aus unseren Lügen, als ob es Lieblingskinder gäbe und andere, die auch mal eben so noch mitmachen dürfen. Gott holt die Letzten ganz nach vorne. Gott gibt denen, die sich im Tiefsten schämen dafür, dass sie so leben, wie sie leben, denen gibt Gott volle Anerkennung. Nicht nur den vollen Lohn. Sondern auch volle Würde. Der Gutsbesitzer hätte ja auch abends an den Markt gehen können und jedem, der noch rumstand, einen Denar schenken können. Dann hätten sie Geld gehabt, wären aber ihre Demütigung nicht los geworden. Almosen! Doch der Gutsbesitzer verteilte keine Almosen, sondern Arbeit. Und damit die volle Würde dessen, der arbeiten kann. Der Gutsbesitzer sagte nicht nur: Ich will, dass du Auskommen hast. Sondern auch: Ich kann dich brauchen! Komm und arbeite bei mir. Du taugst dafür, das sehe ich. Dich kann ich brauchen.
Gott winkt die, die weit hinten in der Reihe stehen, ganz nach vorne. Die Letzten werden die Ersten sein. Und am Ende stehen alle mit ihrem vollen Lohn da, ob verdient oder geschenkt. Wann immer du auch Momente hast, wo du dir selber sagst: „Ich stehe hinten, ich bin das Letzte“: Glaub diese Lüge bitte nicht. Gott sagt dir: Bei mir stehst du vorn wie alle anderen. Ich will mit dir zu tun haben.

Die Letzten stehen vorn wie alle anderen. Und wer steht dann hinten? Es „werden die Letzten die Ersten sein und die Ersten die Letzten“ – wen betrachtet Jesus in Wahrheit als die Letzten?
Der Gutsbesitzer zeigt es uns. Er inszeniert eine Situation, wo etwas aufbricht. Er sagt dem Verwalter: „Ruf die Arbeiter, und zahl ihnen den Lohn aus, angefangen bei den letzten, bis hin zu den ersten.“ Von hinten nach vorne wird bezahlt. Einfacher wäre es umgekehrt gewesen. Wenn erst die bezahlt worden wären, die volle zwölf Stunden gearbeitet hatten, danach die Neunstünder, dann die Sechs-, Drei- und Einstünder, dann wäre jeweils jeder zufrieden gegangen. Die letzten hätten sehr gestaunt, aber die ersten wären zufrieden gewesen. Doch nun inszeniert der Gutsherr es genau umgekehrt: Bezahlt wird „angefangen bei den letzten, bis hin zu den ersten.“ Warum? Damit die ersten eben mitbekommen, was die letzten gekriegt haben. Der Chef mutet den besten Leistungsträgern zu, dass sie ins Angesicht demonstriert bekommen, wie die Kurzarbeiter dasselbe kriegen wie sie. Der Chef will, dass die zuerst Gekommenen das aushalten.
Natürlich halten sie es nicht aus. Natürlich revoltieren sie. Dabei haben sie doch kein Unrecht erlitten. Sie kommen nicht zu schlecht weg. Sie haben auch gar keinen Nachteil davon, dass die Kurzarbeiter besser gestellt werden. Sie sollen es aber einfach ertragen, dass es so ist, ohne Neid. Das schaffen sie nicht. Der Chef sagt einem von ihnen: „Mein Freund, dir geschieht kein Unrecht. Hast du nicht einen Denar mit mir vereinbart? Nimm dein Geld und geh! Ich will – ich will dem letzten ebenso viel geben wie dir.“
Nimm dein Geld und geh! Wenn Gott sagt: „Jetzt geh“, dann kann das unheimlich hart sein. Du wolltest so leben, also lass ich dich auch so leben, aber jetzt geh! Der Gutsbesitzer zieht einen Strich zwischen sich und die Neidischen. Jetzt wissen wir, wer zu den wirklich Letzten gehört: die Unbarmherzigen. Die den anderen nichts gönnen. Die sich ihre Leistung als Vorteil anrechnen und darauf bestehen, dass die anderen dann doch im Nachteil bleiben müssten.
Aber wo bleibt die Gerechtigkeit? Hat der Gutsbesitzer nicht gesagt: „Ich will dir geben, was recht ist?“ Wo bleibt denn noch das Recht?
Vom Recht wird kein Millimeter abgeschnitten. Niemand wird ungerecht behandelt. Aber Jesus definiert mit dieser Geschichte, wie Gott die Sache mit der Gerechtigkeit sieht: Gerechtigkeit wird erfüllt, aber das genügt nicht. Sondern Gerechtigkeit bleibt gültig und Ungerechtigkeit wird aufgefüllt mit Barmherzigkeit. Gottes Gerechtigkeit ist groß. Aber seine Barmherzigkeit ist größer. Die Gerechtigkeit hat ihren festen Platz in Gottes Barmherzigkeit. Aber wehe wenn wir Gottes Barmherzigkeit eingrenzen wollen auf rechnerische Gerechtigkeit. Das können wir tun. Aber dann hören wir von Gott: Nimm deine Gerechtigkeit und geh!
Gemeinde ist der Ort, wo wir uns gegenseitig aushalten müssen auch als solche, die begnadigt wurden. „Du hast sie uns gleichgestellt“, wirft der Langzeitarbeiter dem Gutsherrn vor. Gemeinde ist der Ort, wo wir aushalten müssen, dass Gott uns gleichstellt. Gott fragt nämlich zurück: „Darf ich mit dem, was mir gehört, nicht tun, was ich will? Machst du ein böses Gesicht, weil ich gütig bin?“ Das ist Gottes Frage.
Blickst du hinab auf den Jugendlichen, der naturgemäß noch nicht so gefestigt ist in seinem Charakter? Sagst du über ihn, er soll erst mal was Ordentliches zustande bringen, bevor er in der Gemeinde den Mund aufmacht? Ärgerst du dich, dass Gott ihn dir gleichstellt?
Wie betrachtest du die Personen, die man häufig nach dem Gottesdienst im Gemeindecafé sieht, wie sie sich den Teller füllen, aber im Gottesdienst traf man sie selten? Gönnst du ihnen ihre zwei Teller Kuchen? Wie findest du das, dass Gott sie dir gleichstellt?
Hältst du dich für besser als die Familien, die keine bürgerliche heile Welt vorweisen können? Die ihr Leben vielleicht mit immer denselben Dauerproblemen zubringen? Kannst du es aushalten, dass Gott sie dir gleichstellt?
Und wie ist es mit denen, die noch gar nicht zu unserer Gemeinde gehören? Die vielleicht auch, wenn sie kämen, sofort wieder rausgehen würden, wenn sie spürten: Hier herrscht das Gesetz der rechnerischen Gerechtigkeit? Und wenn sie doch nicht rausgingen? Wenn dann welche kämen, die keine Ahnung haben, was Treue bedeutet? Die nicht wissen, wann sie schweigen sollten anstatt dazwischenzureden? Die vielleicht glauben, Gott sei zuerst ein gutes Gefühl? Wenn die kämen und Gott stellt sie uns gleich, aus Gnade – wie finden wir das?
Gott ist ein Gott der Barmherzigkeit, voller Mitgefühl wie dieser erbarmende Arbeitgeber. Wenn wir nur Gottes Gerechtigkeit wollen, aber seine Barmherzigkeit uns unerträglich ist, dann haben wir einen Strich gezogen zwischen uns und Gott. „Denn das Gericht kennt kein Erbarmen mit dem, der nicht Barmherzigkeit übt. Barmherzigkeit aber triumphiert über das Gericht.“ So sagt es die Bibel [Jak 2,13]. Gott lässt die Gerechtigkeit nicht links liegen. Aber an der Gerechtigkeit gehen wir zugrunde. Wir brauchen mehr als Gerechtigkeit, wir brauchen das, was über das Gericht triumphiert: Barmherzigkeit.
Und wenn wir es nicht schaffen? Wir sind nun einmal Menschen: wenn wir es doch nicht aushalten, dass Gott alle möglichen Leute uns gleichstellt? Dann werden wir die Letzten sein? Dann sagt Gott eben: „Nimm dein Geld und geh!“ –? Nimm deine Gerechtigkeit und geh weg?
So redete der Gutsbesitzer im Gleichnis mit dem Leistungsbringer. So wird Gott mit uns reden, jawohl.
Aber – aber im Gleichnis war das nicht das letzte Wort des Gutsherrn. Sondern er sprach weiter.

13 Mein Freund, dir geschieht kein Unrecht. Hast du nicht einen Denar mit mir vereinbart? 14 Nimm dein Geld und geh! Ich will dem letzten ebenso viel geben wie dir. 15 Darf ich mit dem, was mir gehört, nicht tun, was ich will? Machst du ein böses Gesicht, weil ich gütig bin?

Der Gutsherr redet klar und hart, aber er redet weiter. „Und geh“ – das meint er so zu dem Selbstgerechten. Aber auch den will der Gutsherr noch gewinnen. Deshalb fragt er zum Schluss: „Bist du neidisch wegen meiner Güte?“ Findest du meine Gnadenmathematik wirklich nicht zum Aushalten? Bist du wirklich nicht imstande zur Mitfreude?
Jesus erzählt nicht, wie die Geschichte ausgeht. Wir erfahren nicht, wie der angesprochene Langzeitarbeiter reagiert. Wie die Geschichte ausgeht, das liegt jeweils daran, wie du und ich sie fortschreiben in unserem Leben. Sie könnte noch ein Happy End haben.
Also was ist? Machen wir ein böses Gesicht, weil Gott gütig ist?
Amen?

(Diese Predigt wurde inspiriert durch die Auslegung von Kenneth E. Bailey in seinem Buch "Jesus through Middle Eastern Eyes".)

Donnerstag, 9. Juli 2009

Gemeindeleitung: Spuren suchen, Spuren zeigen

Spuren suchen – Spuren zeigen!
Gemeinde leiten nach dem Galaterbrief
Besinnung für die GL-Klausur am 11.7.2009

Paulus als Vorbild für Gemeindeleitung? Das ist sicher vielen von uns zu groß. Paulus hatte vieles, was wir nicht haben: seinen Auftrag als Apostel, seine Erfahrungen, seine Gelehrsamkeit ...
Aber dennoch bleibt genug übrig, was mit uns vergleichbar ist. Ich möchte den Galaterbrief durch ein Sieb schlagen und herausfiltern, was wir normalen kleinen Gemeindeleitungsmitarbeiter dort abschauen können.
Ich finde dabei das Grundmuster: Wer Gemeinde leitet, nimmt Gottes Spuren wahr und zeigt anderen diese Spuren. Alle gemeinsam richten sich daran aus. Dieses Grundmuster stellt sicher, dass es nicht um einzelne Lieblingsgedanken geht, für die man die Gemeinde gewinnen will, oder Lieblingsmodelle – sondern um Gottes Weisung, die gemeinsam herausgefunden wird.
Hintergrund: Paulus musste in den galatischen Gemeinde um die richtige Richtung kämpfen. Für ihn stand alles auf dem Spiel: ob das Evangelium noch gilt oder ergänzt und damit verdorben wird. Einige wollten zu Gottes Gnade eigene Leistungen hinzuaddieren. Damit – so Paulus – fallen sie aber komplett aus der Gnade heraus (Gal 5,4). Paulus benutzt seinen ganzen Brief dafür, um die Gemeinde wieder in die Spur zu bringen.

1. Gottes Spuren im eigenen Leben
Paulus lässt an manchen Stellen durchblicken, dass er sich an Gottes persönlicher Geschichte mit ihm ausrichtet. Paulus sieht in seinem Leben Spuren von Gott. Daraus gewinnt er Orientierung – nämlich indem er diese Spuren aus der Vergangenheit nun in die Zukunft hinein verlängert.
Welche Spuren sind das?

„Christus hat mich geliebt und hat sich für mich hingegeben.“ ... ich lebe im Glauben an den Sohn Gottes, der mich geliebt hat und sich für mich hingegeben hat. Gal 2,20

Paulus drückt das allgemein Gültige sehr persönlich aus. Christus liebt zwar immer. Aber Paulus sagt hier: Er hat mich geliebt. Nicht als ob Christus ihn jetzt nicht mehr lieben würde. Aber Paulus denkt wohl an ein bestimmtes Ereignis: Da gab es einmal jenen Moment oder jene Tat von Christus oder jene Anrede, wo er ganz für mich da war und es mir gesagt hat. Er hat mich geliebt. – Auch die Hingabe Jesu geschah zwar für jeden Menschen. Aber Paulus betont hier: Er hat sich für mich hingegeben. Nicht als ob Christus sich nicht auch für alle anderen geopfert hätte. Aber Paulus will es hier einmal nur auf sich beziehen. Paulus besinnt sich auf Markierungen in seiner Biografie, an denen er klar erkennt: Hier hat Christus eingegriffen.

In Zukunft soll mir niemand Schwierigkeiten bereiten! Denn ich trage die Malzeichen Jesu an meinem Leib. Gal 6,17

Kein Mensch weiß, was genau diese Malzeichen Jesu sind – vielleicht körperliche Wunden aufgrund der Misshandlungen oder Reisestrapazen? Wohl kaum die „Stigmata“, die man von späteren Heiligen berichtet bekam. Jedenfalls ruft Paulus hier bestimmte persönliche Erfahrungen mit Christus ab und zieht daraus Folgerungen für den Weg, den die Gemeinde nehmen soll (hier: niemand soll ihm mit Nebensächlichem belasten!).

13 Ihr wisst, dass ich euch wegen einer Krankheit, die mich niederwarf, zum ersten Mal das Evangelium verkündigt habe. 14 Trotz der Versuchung, die meine Erscheinung für euch darstellte, habt ihr mich nicht verachtet und nicht verabscheut, sondern aufgenommen wie einen Engel Gottes, wie Christus Jesus. 15 Der Grund, euch selig zu preisen, wo ist er nun geblieben? Ich kann euch nämlich bezeugen: Ihr hättet euch, wenn möglich, die Augen ausgerissen und sie mir gegeben! Gal 4

Hier klingt nun eine gemeinsame Erfahrung von Paulus und der Gemeinde auf. Auch das dürfte – von Paulus aus gesehen – eine geistliche Erfahrung gewesen sein, die zu seiner Lebensgeschichte gehört. Paulus leitet daraus wiederum den künftigen Weg der Gemeinde ab: „Wir stehen doch nicht gegeneinander! Nehmt also meine Worte als Weisung zur Wahrheit an!“
Fazit: Leiten heißt zunächst, sich selbst klarzumachen, wie Gott einen geprägt hat. Gottes Spuren im eigenen Leben müssen wir entdecken, damit wir von da aus Schlussfolgerungen ziehen können, was Gott womöglich auch künftig vorhat. Das ist nicht der einzige, aber ein wichtiger Anhaltspunkt.
Ein gereifter Nachfolger Jesu sollte sich eine gewisse Übersicht über seinen Lebens-Verlauf verschafft haben und sollte sich Rechenschaft darüber geben können: Was sind die wichtigen Markierungen Gottes in meiner Biografie?

Was also sind Gottes markante Spuren in meinem persönlichen Leben? Was gehört zu meinem Erfahrungsschatz, der mir Gott gezeigt hat? Was ist mein unaufgebbares Gepräge (= Gott prägte mich), dem ich auch künftig treu bleiben muss?

2. Gottes Spuren, die allen vorgegeben sind
Neben Gottes Markierungen im persönlichen Leben gibt es auch Spuren, die Gott allgemeingültig gezogen hat. Sie sind nicht nur von einzelnen ablesbar, sondern von allen, die hinsehen können. Auch aus solchen allgemeinen Spuren gilt es, Schlussfolgerungen für die Zukunft abzuleiten. Dadurch wird die „Spurendeutung“ davor bewahrt, allzu individualistisch zu werden.
Paulus zeigt der Gemeinde eine Spur, die sie selbst in ihrer gemeinsamen Gemeinde-Geschichte erkennen können:

2 Dies eine möchte ich von euch erfahren: Habt ihr den Geist durch die Werke des Gesetzes oder durch die Botschaft des Glaubens empfangen? 3 Seid ihr so unvernünftig? Am Anfang habt ihr auf den Geist vertraut und jetzt erwartet ihr vom Fleisch die Vollendung. 4 Habt ihr denn so Großes vergeblich erfahren? Sollte es wirklich vergeblich gewesen sein? 5 Warum gibt euch denn Gott den Geist und bewirkt Wundertaten unter euch? Weil ihr das Gesetz befolgt oder weil ihr die Botschaft des Glaubens angenommen habt? Gal 3

Die Anfangserfahrung der galatischen Christen ist bei allen gleich: Gott erfüllte sie mit seinem Geist und hat seitdem begonnen, Wundertaten in der Gemeinde zu wirken. Damals hatten diese griechischen Christen keine Vorleistung für Gott erbracht – also nicht etwa das jüdische Gesetz erfüllt. Daraus folgert Paulus: Sie sind eben durch Gnade erlöst. Das sollten sie eigentlich ablesen können an der Geist-Spur in ihrem Leben. Diese Erfahrung liegt allen gleichermaßen vor.
Ein anderes Beispiel:

4 Als aber die Zeit erfüllt war, sandte Gott seinen Sohn, geboren von einer Frau und dem Gesetz unterstellt, 5 damit er die freikaufe, die unter dem Gesetz stehen, und damit wir die Sohnschaft erlangen. 6 Weil ihr aber Söhne seid, sandte Gott den Geist seines Sohnes in unser Herz, den Geist, der ruft: Abba, Vater. 7 Daher bist du nicht mehr Sklave, sondern Sohn; bist du aber Sohn, dann auch Erbe, Erbe durch Gott. Gal 4

Hier verknüpft Paulus zwei Zeitpunkte: den länger zurückliegenden, als Christus geboren wurde und als Jude lebte, und den kürzer zurückliegenden, als die galatischen Christen den Heiligen Geist empfangen haben. Beide Spuren führen auf Jesus in seiner Eigenschaft als Sohn Gottes zurück. Beide Spuren haben bewirkt, dass nun auch die Galater Söhne Gottes sind. Daraus lässt sich folgern: Sie sind Kinder mit voller Erbberechtigung, keine unmündigen Sklaven. Das bekamen sie als Geschenk. Weitere Schlussfolgerung: Finger weg von jeder nachträglichen Gesetzeserfüllung als Leistung für Gott!
Aus den Spuren der Vergangenheit liest Paulus Spuren für die Gegenwart ab. Paulus leitet die Christen also an, indem er Spuren sucht und diese Spuren dann zeigt.

Welche gemeinsamen Erfahrungen unserer Gemeinde könnten wir als Spuren Gottes in unserer Gemeindegeschichte deuten?

3. Das Ziel, auf das hin wir leiten
Bündeln sich die verschiedenen abgelesenen Spuren, wenn man sie in die Zukunft hinein verlängert, irgendwo? Oder führen sie in alle möglichen Richtungen? Paulus hat durchaus eine eindeutige Zielangabe für die ihm anvertrauten Christen:

[Ihr seid] meine Kinder, für die ich von neuem Geburtswehen erleide, bis Christus in euch Gestalt annimmt. Gal 4,19

Paulus möchte, dass der „Christus in uns“ auch bei den Galatern sich abzeichnet, Formen annimmt. Wenn das geschieht – wenn Christus sich in den Christen ausformt, werden diese Christen umgekehrt christusförmig.
Dieses Ziel ist jedem Glaubenden gesteckt und jeder Gemeinde. Deshalb muss dieses Ziel auch erste Priorität jeder Gemeindeleitung sein: „Wir wollen unsere Gemeinde und die uns anvertrauten Christen dahin führen, dass sie christusförmig werden.“
Paulus lässt erkennen, dass dies auch anderswo sein Ziel war, also nicht etwa nur eine galatische Spezialität. An die Kolosser schreibt er:

[Christus] verkündigen wir, indem wir jeden Menschen auf den rechten Weg weisen und jeden unterrichten in aller Weisheit, um jeden Menschen als in Christus vollkommen hinzustellen. Kol 1,28

Alle anderen Ziele einer Gemeindeleitung – etwa zahlenmäßiges Wachstum, pulsierendes Gemeindeleben, öffentliche Anerkennung der Gemeinde etc. – alle anderen Ziele müssen diesem Christus-Ziel untergeordnet sein und sich aus diesem Christus-Ziel ableiten.

Nimmt unsere Gemeinde an unserer Gemeindeleitung wahr, dass wir sie zuallererst anleiten wollen, christusförmig zu werden? Wodurch nimmt sie es wahr?

4. Das Mittel, mit dem wir leiten
Wie nun leiten einzelne Menschen eine Gemeinde (als Spurensucher und Spurenzeiger), wenn sie vielleicht nur durchschnittlich leitungsbegabt sind? Welche „Instrumente“ setzen sie ein?
Oftmals können wir nichts anderes tun als das Richtige zu sagen. Worte sind unser Mittel. Ein manchmal macht-loses Mittel. Bezwingen können wir niemanden damit. Dennoch zeigt uns das Beispiel von Paulus, dass wir es einfach tun müssen: reden; den Mund aufmachen, berichten von den Spuren, die uns persönlich geprägt haben.
Paulus zeigt es uns erstens durch seinen gesamten Brief. Er hat eben so viele Worte gemacht und sich entsprechende Mühe mit diesen Worten gemacht.
Paulus zeigt es uns zweitens durch die Wirkung, die er sich von der mündlichen Rede erhofft.

Ich wollte, ich könnte jetzt bei euch sein und in einem andern Ton zu euch reden; denn, was euch betrifft, bin ich ratlos. Gal 4,20

Der Brief erscheint Paulus in seiner Wirkung nur begrenzt, denn er gibt den (nachdrücklichen oder werbenden) Tonfall nicht wieder, der jetzt nötig wäre. Paulus würde lieber nicht schreiben, sondern „live“ mündlich reden. Das aber heißt: Das persönlich gesprochene Wort hat doch eine unersetzliche Wirkung.
Das gilt besonders deshalb, weil Paulus ja nicht nur Sachverhalte darlegt, sondern Gottes Spuren in seinem eigenen Leben bezeugt. Gemeindeleitung heißt demnach: Immer wieder freimütig davon reden, welche Erfahrungen Gott einem anvertraut hat. An dieser Stelle darf niemand aus der Gemeindeleitung sparen und keiner darf sich einfach auf den anderen verlassen. Es muss keine besondere Beredsamkeit da sein – aber die Gemeinde muss von jedem aus der Gemeindeleitung persönlich hören können, wofür er steht.
Manchmal bezeugt so eine persönliche Äußerung nicht nur etwas und wirbt nicht nur für etwas, sondern sie konfrontiert:

Also, was ist jetzt: Bin ich euer Feind geworden, weil ich euch die Wahrheit sage? Gal 4,16

Das Spuren-Zeigen von Paulus klingt oberflächlich gehört, als wäre es gegen die Gemeinde gerichtet. Aber weil Paulus auf die von Gott allgemein vorgegebenen Spuren hingewiesen hat, ist in seinen Worten Wahrheit enthalten. An ihr muss sich alles entscheiden. Manchmal steht so viel auf dem Spiel, wenn Gemeindeleitung Spuren sucht und Spuren zeigt.

Fazit
Gemeindeleitung wendet keine zeitlosen Prinzipen an, sondern zeigt darauf, was Gott getan hat. Gemeindeleitung muss immer mit dem lebendigen Gott rechnen, nicht nur mit abstrakten Wahrheiten oder passendem Handwerkszeug. Jeder aus der Gemeindeleitung trägt seinen Teil bei, indem er seine Geschichte mit Gott zur Ansicht öffnet und indem er sich nicht beirren lässt, davon zu reden. Hier sollte sich niemand von anderen aus der Gemeindeleitung vertreten lassen.

Dienstag, 7. Juli 2009

"Wie hören wir Gottes Reden?" - 5

5 Prophetie in der Gemeinde des Neuen Testaments II

Das Grundmuster, wie Prophetie geprüft wird, steht in 1Thess 5:

19 Den Geist bringt nicht zum Erlöschen! 20 Prophetische Rede verachtet nicht! 21 Prüft aber alles, das Gute behaltet! 22 Meidet das Böse in jeder Gestalt! 1Thess 5

Dabei wird deutlich:

· Prophetie muss geprüft werden, aber dieses Prüfen darf den Heiligen Geist nicht auslöschen.
· Die Prüfung hat nicht das Ergebnis, dass eine prophetische Äußerung komplett angenommen oder komplett verworfen würde. Dann hätte es heißen müssen: Prüft alle Prophetien und die guten behaltet.
· An jeder einzelnen Prophetie wird das Gute übernommen und das Unbrauchbare ausgesondert.
Das NT enthält einige Beispiele, wie man mit Prophetien umging. Diese drei Beispiele sind in einer bestimmten Hinsicht nicht sehr typisch: sie betreffen Vorgänge in der Zukunft. Dennoch zeigen sie ein Grundmuster des Prüfens.

5.1 Ankündigung einer Hungersnot

27 In diesen Tagen kamen auch Propheten von Jerusalem nach Antiochia herab. 28 Einer von ihnen mit Namen Agabus trat auf und kündigte durch den Geist eine große Hungersnot an, die über die ganze Erde kommen werde; diese trat dann unter Claudius ein. 29 Von den Jüngern aber stellte ein jeder zur Verfügung, was er zu geben imstande war, um es den in Judäa wohnhaften Brüdern und Schwestern zur Unterstützung zukommen zu lassen. 30 Und dann schickten sie es durch die Hand des Barnabas und des Saulus den Ältesten. Apg 11

Wie bisher schon gesehen tritt auch hier kein einzelner Prophet auf, sondern eine Gruppe, aus der heraus ein einzelner spricht. Er kündigt ein zukünftiges Ereignis an. Mehr tut er nicht. Ab V. 29 ist eine andere Personengruppe aktiv: die Gemeinde. Der Prophet bestimmt also nicht selbst darüber, was man mit seiner Botschaft anfängt.
Die hörende Gemeinde zieht aus der Zukunfts-Botschaft nun Schlussfolgerungen für die Gegenwart. Aus verschiedenen denkbaren Möglichkeiten wählt sie einzelnes aus – es wird nicht alles getan, was man irgendwie machen könnte.

Ankündigung: (a) Hungersnot, (b) groß, (c) betrifft die ganze Erde
Konsequenz: (a) Unterstützung, Spenden, (b) Es wird nicht möglichst viel gespendet, sondern je nach persönlichem Vermögen, (c) Die Spende geht nur an die Gemeinde in Judäa, (d) Durchführung: durch Boten wird es an die Ältesten gesandt

Die Gemeinde nimmt also die Prophetie entgegen, indem sie fürs Hier und Heute herausfindet, was konkret zu tun oder zu lassen ist.
Prüfung von Prophetie heißt offenbar: Schlussfolgerungen ziehen.

5.2 Ankündigung einer Gefangennahme

8 Am nächsten Tag brachen wir auf, kamen nach Cäsarea, gingen in das Haus des Evangelisten Philippus, der zu den Sieben gehörte, und blieben bei ihm. 9 Dieser hatte vier Töchter, prophetisch begabte Jungfrauen.
10 Wir waren schon mehrere Tage dort, als von Judäa ein Prophet mit Namen Agabus zu uns herabkam. 11 Der kam auf uns zu, nahm den Gürtel des Paulus, band sich Hände und Füße damit und sagte: So spricht der heilige Geist: Den Mann, dem dieser Gürtel gehört, werden die Juden in Jerusalem auf eben diese Weise fesseln und in die Hände der Heiden geben. 12 Als wir das hörten, baten wir ihn, unterstützt von den Jüngern, die dort wohnten, nicht nach Jerusalem hinaufzuziehen. 13 Da entgegnete Paulus: Was soll es, dass ihr klagt und mir das Herz schwer macht? Ich bin bereit, mich in Jerusalem nicht nur fesseln zu lassen, sondern auch zu sterben für den Namen des Herrn Jesus. 14 Da er sich nicht umstimmen ließ, wurden wir ruhig und sagten: Des Herrn Wille geschehe! Apg 21

Wieder spricht ein einzelner Prophet aus einer Prophetengruppe heraus (hier: die Töchter des Gastgebers). Wieder ist es eine Zukunftsansage und wiederum bestimmt der Prophet nicht darüber, was man mit seiner Prophetie anfangen soll.
Hier gibt es nun zwei verschiedene Personen bzw. Personengruppen, welche die Prophetie „deuten“. Sie kommen zu verschiedenen, einander entgegengesetzten Deutungen. Zwei mögliche Schlussfolgerungen konkurrieren also miteinander.
Die Reisegruppe von Paulus, zusammen mit der (Haus-)Gemeinde, schlägt vor, dass Paulus nicht nach Jerusalem solle – das sehen sie offenbar als Gottes Willen an.
Paulus selbst sieht im Gegenteil davon Gottes Willen: Er soll gerade das erfahren, was der Prophet angekündigt hat; Paulus fühlt sich bestätigt.

Ankündigung (a) In Jerusalem (b) wird Paulus gefangengenommen (c) und den Heiden ausgeliefert
Konsequenz A [Gemeinde] (a) Nicht nach Jerusalem! (b) (nicht gefangengenommen werden!)
Konsequenz B [Paulus] (a) Doch nach Jerusalem, (b) gefangengenommen werden, (c) ggf. sogar sterben.

Beiden „Deutungen“ ist gemeinsam, dass es Konsequenzen für’s Hier und Heute sind.
Nur eine Konsequenz kann im Sinne Gottes sein. Es kann wohl durchaus vorkommen, dass eine Deutung nicht im ersten Anlauf gelingt.
Wie kann es sein, dass nicht die Gruppe der Gemeinde recht behält, sondern eine Einzelperson? Das wäre normalerweise unwahrscheinlich. Aber hier kann die Einzelperson – Paulus – auf Reden des Heiligen Geistes zurückgreifen, das er zuvor gehört hat. Die Prophetie von Agabus steht für Paulus in einer Reihe mit den vorhergehenden Weisungen des Geistes. Die spätere bestätigt für ich die frühere.

22 Seht, nun reise ich als ein im Geist Gebundener nach Jerusalem, ohne zu wissen, was mir dort widerfahren wird; 23 nur dass der heilige Geist mir in jeder Stadt bezeugt, dass Fesseln und Drangsale auf mich warten. 24 Doch mein Leben ist mir nicht der Rede wert, wenn ich nur meinen Lauf vollenden und bis zuletzt den Dienst tun kann, den ich vom Herrn Jesus empfangen habe: Zeugnis abzulegen für das Evangelium von der Gnade Gottes. Apg 20

Vorheriges mehrfaches Reden des Geistes (a) In der Zukunft (b) Fesseln und Drangsale
Schlussfolgerung von Paulus (a) Ich reise nach Jerusalem (b) (c) Das Leben ist nicht der Rede wert ... Lauf abschließen ... bis zuletzt ... (Paulus denkt an sein Ende)
Jüngste Prophetie durch Agabus (a) In Jerusalem (b) wird Paulus gefangengenommen (c) und den Heiden ausgeliefert
Konsequenz daraus für die jüngste Prophetie (a) Doch nach Jerusalem, (b) gefangengenommen werden, (c) Ggf. sogar sterben.

5.3 Ankündigung der Entrückung

15 Denn dies sagen wir euch aufgrund eines Wortes des Herrn: Wir, die wir leben, die wir bis zum Kommen des Herrn am Leben bleiben, werden den Verstorbenen nichts voraushaben. 16 Denn der Herr selbst wird beim Erschallen des Befehlswortes, bei der Stimme des Erzengels und der Posaune Gottes vom Himmel herabsteigen. Und die, die in Christus gestorben sind, werden zuerst auferstehen, 17 danach werden wir, die wir noch am Leben sind, mit ihnen zusammen hinweggerissen und auf Wolken emporgetragen werden in die Höhe, zur Begegnung mit dem Herrn. Und so werden wir allezeit beim Herrn sein. 18 So tröstet also einander mit diesen Worten. 1Thess 4

Paulus und seine Mitarbeiter (Silvanus und Timotheus, 1,1) bringen im Folgenden eine prophetische Botschaft, gekennzeichnet durch den Ausdruck „Wort des Herrn“.
Die Ereignisse der Wiederkunft Jesu und der Entrückung werden beschrieben. Dabei wird die Reihenfolge der Entrückung betont.
Am Ende ziehen die Propheten (hier: selbst) eine Schlussfolgerung für die Gegenwart: V 18 – man soll sich gegenseitig trösten. Der Grund fürs Getrostsein steht in V. 15: die Verstorbenen haben keinen Nachteil bei der Wiederkunft Jesu. Vielleicht ist V. 15b schon eine Vorab-Schlussfolgerung, also auch eine Deutung, und die eigentliche Prophetie beginnt erst in V. 16.

Schlussfolgerung 1: V. 15b
Prophetisches Wort:
V. 16+17
Schlussfolgerung 2:
V. 18

5.4. Fazit
Eine prophetische Botschaft ist noch nicht alles. Die Deutung muss notwendig hinzu kommen. Beide Elemente greifen ineinander und ergeben erst gemeinsam das Ganze. Beide Elemente sind auf verschiedene Personen verteilt: der Prophet gibt nicht selbst die Deutung. Deutung heißt: Anwendung; Schlussfolgerung für die Gegenwart.
Wenn die Prophetie inhaltlich auf die Zukunft bezogen ist, so hat Gott sie doch für die Gegenwart gegeben. Diejenigen, denen die Prophetie gesagt ist, können einen Handlungsvorsprung gewinnen oder aber sie bewahren und verstärken ihr Vertrauen zu Gott, wenn ein angekündigtes Ereignis dann eintrifft. Sie merken: Gott hat nach wie vor die Geschichte in der Hand.

"Wie hören wir Gottes Reden?" - 4

4 Prophetie in der Gemeinde des Neuen Testaments I

Welche der folgenden Sätze würdet ihr für vertrauenswürdige Prophetie halten, wenn jemand sie in der Gemeinde sagen würde?
· „Gott möchte uns sagen, dass wir keinen Grund haben, an seiner Treue zu zweifeln.“
· „Gott hat diese Gemeinde verlassen, weil sie ihm nicht mehr wohlgefällig ist.“
· „Nächste Woche wird ein überregionaler Prediger in unseren Gottesdienst kommen und es ist Gottes Wille, dass wir für ihn eine gewaltige Kollekte zusammenlegen.“
· „Das Ansehen der Christen in unserem Land wird künftig abnehmen. Deshalb müssen wir uns durch Gebet und Bibelstudium auf größeren Druck vorbereiten.“
· „Gott sagt einem bestimmten Menschen unter uns: Du darfst deine Hoffnung nicht aufgeben. Bete weiter und traue dir die Aufgabe zu, für die man dich gefragt hat.“
· „Ihr sollt in 14 Tagen einen Heilungsgottesdienst feiern und alle Kranken aus eurer Gemeinde werden vollständig geheilt werden.“
Warum wirken diese Sätze auf uns jeweils vertrauenswürdig oder auch nicht?

4.1 Prophetie ist in der Gemeinde Jesu etwas völlig Normales
Wie viele Propheten im Neuen Testament gibt es wohl – welche könnten wir benennen?
Abgesehen von Gemeindepropheten muss zuerst Jesus selbst genannt werden. Er wurde nicht nur von seinen Zeitgenossen für einen Propheten gehalten, sondern sagte selbst bewusst prophetische Worte und tat bewusst prophetische Taten. Vor Jesus werden im NT andere prophetische Menschen erwähnt: Johannes der Täufer, Zacharias (Lk 1,67), Hanna (Lk 2,36). Möglicherweise könnte man noch Maria, die Mutter Jesu, hinzunehmen.
Wenn wir speziell nach Gemeindepropheten suchen, so kommen wir auf folgende Zusammenstellung:
1. Agabus: Apg 11,28; 21,11
2. Barnabas: Apg 13,1
3. Simeon Niger: Apg 13,1
4. Lucius von Zyrene: Apg 13,1
5. Manaën: Apg 13,1
6. Saulus: Apg 13,1
7. Judas: Apg 15,32
8. Silas: Apg 15,32
9. Johannes (der Empfänger der Offenbarung, des letzten Buches der Bibel)
10. Vier Töchter des Evangelisten Philippus: Apg 21,9
11. Andere Propheten um Agabus: Apg 11,27
12. Von Jesus ausgesandte Propheten: Mt 10,41; 23,34
13. Frauen und Männer in Korinth: 1Kor 11,4f.
14. Leute in Thessaloniki: 1Thess 5,20
Hinzu kommen etwa zwölf ehemalige Jünger von Johannes dem Täufer, die zumindest einmal prophetisch geredet haben, aber nicht als Propheten bezeichnet werden.
Hinter den Ziffern 10 bis 14 verbergen sich etliche Personen, so dass man vermutlich von deutlich mehr als 20 Gemeindepropheten ausgehen muss, die irgendwie im NT erwähnt werden.
Auch wenn wir die Landkarte aufrollen und nach Orten suchen, wo urchristliche Gemeinde waren, kommen wir darauf: Es gab in jeder Gemeinde – soweit wir das erkennen können – unterschiedliche Gaben, aber die Gabe der Prophetie gab es so gut wie überall! Gehen wir von Osten nach Westen:
· Jerusalem: Apg 11,27; 15,22.32.
· Judäa: Apg 21,10
· Cäsarea: Apg 21,9
· Antiochien: Apg 11,27; 13,1-3´; 15,22.32
· Syrien überhaupt: In den syrischen Gemeinden ist das Matthäusevangelium entstanden, und man darf annehmen, dass hier diejenigen Worte Jesu mit besonderer Aufmerksamkeit überliefert wurden, in denen man die örtlichen Gemeindeleitungsstrukturen wiedererkannte. Also können wir – vorsichtig – Leitungsaufgaben aus dem Matthäusevangelium herauslesen. Wir stoßen so auf Propheten, Schriftlehrer, Weise und Gerechte.
· Ephesus: 1Tim 1,18; 4,14 – sofern Timotheus dort wirkte und die Prophetien dort über ihm ausgesprochen worden waren.
· Philippi: dort wirkt auch der „Charismatiker“ Timotheus – er war nicht nachweisbar selbst Prophet, aber hatte Erfahrungen mit dieser Gaben gemacht.
· Thessaloniki: 1Thess 5
· Korinth: siehe 1Kor 12,14
· Rom: Röm 12,7
· Nur für Kleinasien, z. B. Kolossä, ist die Prophetie in den Gemeinde nicht an Texten nachweisbar – allerdings auch nicht auszuschließen.

4.2 Grundsätze zum Umgang mit Prophetie: 1Kor 14
1Kor 14,1-5. 20-33. 37-40

Wie stark soll die Gabe der Paulus nach Paulus praktiziert werden?
Wie viele Gemeindemitglieder sollen sie ausüben?
1Kor 14,1.5.39: Alle sollen sich darum bemühen /danach streben! In dieser Hinsicht hat die Prophetie eine Vorzugsstellung inmitten aller anderen Gaben. Nur die Liebe steht noch höher.

Welche Wirkung hat die Gabe der Prophetie?
· V. 5: die Gemeinde wird dadurch aufgebaut. – „Aufbau“ ist durchgängig der Maßstab, den Paulus für die Gestaltung des Gottesdienstes angibt: 1Kor 10,23; 14,3.4.5.12.17.26! 6mal genannt! – Aufbau heißt nicht: erbaulich für’s Gemüt, sondern: konstruktiv.
· V. 24f: Nichtchristen werden von Gott erreicht, ihr Inneres wird ihnen aufgedeckt, sie beten Gott an. --> eine evangelistische Wirkung dieser Gabe!
· V. 3.31: Ermahnung / Ermutigung
· V. 31: Man kann etwas „lernen“ – die Prophetie muss also einen gewissen Informationswert haben.

Wie ist die Gabe der Prophetie in den Gottesdienst eingeordnet?
Für das Sprachengebet gibt Paulus eine Höchstgrenze an: höchstens 3 (V. 27). Auch bei den Propheten gibst Paulus zunächst die Zahl „2 oder 3“ an. Vermutlich meint er hier aber keine Höchstgrenze. Sondern er sagt gleich danach, dass der nächste Prophet drankommen soll, wenn er eine Weisung empfängt. Der erste soll also nicht so lange reden, dass der nächste keinen Raum mehr hat. Sondern Paulus will Raum ermöglichen für mehr als eine Prophetie. Darum sagt er dann: „Ihr könnt doch alle, einer nach dem andern, prophetisch reden.“ Vermutlich meint er: Jeder, der etwas von Gott empfängt, soll auch drankommen. Keiner soll weggelassen werden, etwa weil die ersteren zu lange geredet hätten. Diese Richtung – „nicht zu wenige Prophetien“ – würde jedenfalls gut zu V. 1.5 passen.

Wer kontrolliert, welcher Prophet wann redet?
Das tun die Propheten selbst: V. 32. Demnach hat Prophetie nichts mit Ekstase zu tun!

Wer prüft das, was prophetisch gesagt wurde?
Nach V. 29 die anderen aus der Gemeinde – die keine Propheten sind oder die gerade nicht prophetisch geredet haben. So klingt es auch in 1Thess 5,19-22, eine Mahnung an alle aus der Gemeinde.

19 Den Geist bringt nicht zum Erlöschen! 20 Prophetische Rede verachtet nicht! 21 Prüft aber alles, das Gute behaltet! 22 Meidet das Böse in jeder Gestalt! 1Thess 5

Wie soll geprüft werden? Nach welchen Maßstäben?

Maßstäbe aus dem 1. Korintherbrief:
· Ist es eine Ermahnung oder Ermutigung?
· Ist es konstruktiv oder destruktiv?
· Entspricht es dem Heiligen Geist, der den Namen Jesu ehrt (1Kor 12,3)?
· Entspricht es der Liebe? (1Kor 13; 14,1)
· Bleibt es im Rahmen der Heiligen Schrift? (1Kor 4,6)
· Verstand (14,20) – der ist nicht letzter Maßstab für den Inhalt der Prophetie, aber es entspricht dem Verstand, dass Prophetie zugelassen und erstrebt wird.

Maßstäbe aus anderen Teilen des NT
· Welche Früchte bringt der Prophet? (Mt 7,15-20)
· Zeigt der Prophet auf irgendeine Person, die allen unbekannt ist, und behauptet, das wäre (der wiedergekommene) Christus? Dann ist es falsch – Wenn Christus wiederkommt, wird es von allen gleichzeitig erkannt werden. (Mt 24,24-27)

24 Denn es wird mancher falsche Messias und mancher falsche Prophet aufstehen, und sie werden große Zeichen und Wunder tun, um wenn möglich sogar die Erwählten in die Irre zu führen. 25 Seht, ich habe es euch vorhergesagt. 26 Wenn sie also zu euch sagen: Da, in der Wüste ist er, so geht nicht hin! Da, in den Gemächern ist er, so glaubt es nicht! 27 Denn wie der Blitz im Osten zuckt und bis in den Westen leuchtet, so wird das Kommen des Menschensohnes sein. Mt 24

· Wird eine falsche Lehre über Christus verkündigt (z. B. er sei nur ein Geistwesen und nicht als Mensch auf die Erde gekommen)? (1Joh 4,1-3)

1 Ihr Lieben, schenkt nicht jedem Geist Glauben, sondern prüft die Geister, ob sie aus Gott sind. Denn viele falsche Propheten sind hinausgegangen in die Welt. 2 Daran erkennt ihr den Geist Gottes: Jeder Geist, der sich zu Jesus Christus bekennt, der im Fleisch gekommen ist, ist aus Gott; 3 und jeder Geist, der sich nicht zu Jesus bekennt, ist nicht aus Gott. Und das ist der Geist des Antichrists, von dem ihr gehört habt, dass er kommt. Der ist jetzt schon in der Welt. 1Joh 4

· Ist der Prophet bereit, auf die Gemeinde zu hören?

5 Sie gehören zur Welt; deshalb reden sie, wie die Welt redet, und die Welt hört auf sie. 6 Wir sind aus Gott. Wer Gott erkennt, hört auf uns; wer nicht aus Gott ist, hört nicht auf uns. Daran erkennen wir den Geist der Wahrheit und den Geist des Irrtums. 1Joh 4

Maßstäbe aus späterer Zeit der alten Kirche:
· Wenn der reisende Prophet länger als zwei Tage Gastfreundschaft beansprucht oder wenn er nicht nur Brot erbittet, sondern auch Geld, dann ist er ein falscher Prophet. Wenn er aber Unterstützung für andere Bedürftige fordert, soll man ihn nicht richten. (Didache 11,4-12)

Zusammenfassende Fragen
Müssen wir Angst vor der Gabe der Prophetie haben? Wenn ja, welche?
Können wir in der Gemeinde ohne diese Gabe auskommen?

Montag, 6. Juli 2009

"Wie hören wir Gottes Reden" - 3

3 Unser Verstand als „Ohr“ für Gott

In früheren Jahrhunderten hat man der Vernunft sehr viel zugetraut: In Natur, Geschichte und Philosophie sei sie die höchste Stufe. Auch Gott erkenne man letztlich durch den Gebrauch der Vernunft.
Unsere Kultur ist spätestens seit dem ersten Weltkrieg ernüchterter. Die Vernünftigsten unter den Menschen damals waren betrunken vom Kriegstaumel.
Martin Luther meinte: „Die Vernunft ist das größte Hindernis in Bezug auf den Glauben“.
Würde die Bibel das auch so sagen?

3.1 Was der Verstand kann und was nicht (Spr 3,5f.)
5 Vertraue auf den HERRN mit deinem ganzem Herzen,
und verlass dich nicht auf deinen eigenen Verstand.
6 Erkenne ihn auf allen deinen Wegen,
dann wird er deine Pfade gerade machen. Spr 3

Vertrauen auf Gott und Vertrauen auf den Verstand sind zweierlei. Gott und Verstand scheinen hier gegeneinander zu stehen. Wörtlich heißt es: „Stütze dich nicht auf deinen Verstand.“ Der menschliche Verstand ist also überfordert, wenn er die einzige Stütze einer Entscheidung sein soll.
Dennoch enthält dieses Bibelwort einen Ausdruck der Vernunft: „Erkenne ihn“. Dieses Wort ist in der Bibel ein Grund-Wort für das Verstehen. Sachkenntnis, Fertigkeit, Einsicht ist darin enthalten. Der Verstand ist also nicht beiseite gesetzt. Aber er bekommt eine bestimmte Aufgabe: Er soll Gott erkennen. Es geht demnach nicht um bloßen „Sach“-Verstand, sondern einen Personen-Verstand, bezogen auf die Person Gottes. Faktenwissen ist nicht das wichtigste, sondern Kenntnis über das Wesen Gottes.
Deshalb ist im Sprüche-Buch der Verstand eigentlich viel höher bewertet als in 3,5.
1 Mein Sohn, wenn du meine Worte annimmst und meine Gebote bei dir bewahrst, 2 wenn du der Weisheit dein Ohr leihst, dein Herz der Einsicht zuneigst, 3 wenn du nach Verstand rufst, mit erhobener Stimme nach Einsicht, 4 wenn du sie wie Silber suchst und wie nach Schätzen nach ihr forschst, 5 dann wirst du die Furcht des HERRN verstehen, und Gotteserkenntnis wirst du finden. Spr 2

3.2 Unverstand ist unerwünscht! (Ps 32,8f.)
8 Ich will dich lehren und dir den Weg weisen, den du gehen sollst,
ich will dir raten, mein Auge wacht über dir.
9 Seid nicht wie ein Ross, wie ein Maultier, ohne Verstand,
nur mit Zaum und Zügel ist sein Ungestüm zu bändigen,
sonst kommt es nicht zu dir. Ps 32
Am Gegenteil wird klargemacht, was Gott sich nicht wünscht: störrische „Hornochsen.“ Wo Verstand nicht gebraucht wird, kann man jemanden nur mit Gewalt zum Ziel zerren. Das ist nicht die Art Gottes und soll nicht die Art der Menschen sein, die Gott folgen.
Wie aber wird Gottes Weisung erkannt?

a) durch Lernbereitschaft. „Lehren“, „raten“ erfordert: dass Menschen lernen und Rat annehmen. Gott erwartet also nicht, dass wir schon sofort komplett Bescheid wissen. (Dann müsste man nicht mehr lernen.) Er erwartet, dass wir uns bewusst sind, nicht schon gleich alles erfasst zu haben. Wir müssen bereit sein, einen „Weg“ zu gehen.

b) durch Blickkontakt. Gott gibt Rat – und seine Augen sind über uns. Er verfolgt mit seinen Augen unseren Weg, so wie Eltern das mit dem ihrer Kinder machen. Leitet Gott auch mit seinen Augen? So sagt es die Lutherübersetzung. Vielleicht ist das nicht richtig übersetzt. Dennoch ist unsere Aufgabe, den Kontakt mit Gott zu halten. Er lehrt und zeigt und rät ja; also ist entweder Augenkontakt oder zumindest Ohrenkontakt unsere Aufgabe.

Das Gegenteil zum Unverstand ist also: auf Gott hören. Wir benötigen in der Gemeinde Gelegenheiten, um das einzuüben: Gleichzeit zu denken und auf Gott zu hören. Logische Überlegung und Hören auf Gott soll nicht wie „Einerseits – Andererseits“ nebeneinander stehen.
Wenn das Nachdenken in sich logisch und abgeschlossen ist; wenn der verstand eine Lösung ausgearbeitet hat, die in sich steht und Gottes Anrede letztlich nicht mehr braucht, dann ist etwas schief gelaufen.
Wie können wir gemeinsam das Hören und Denken miteinander verknüpfen? Gibt es Veranstaltungsformen dafür?
„Denkendes Gebet“ – wie könnte das aussehen?
Welche Wegweisungen Gottes schienen auf den ersten Blick unvernünftig?
An welcher Stelle hat sich dann Vernunft gezeigt?
Welche Entscheidungen Jesu wirken auf uns vernünftig?
· Z. B. Jünger berufen, die von ihrem Herkommen her nicht in eine kleine gemeinsame Gruppe passen würden: der Zelot und der Zöllner ...
· Jesus verbot den Geheilten zunächst, ihn bekannt zu machen, damit er nicht schon kurz nach Beginn seiner Tätigkeit angeklagt würde.
· Seine Konzentration auf sein Lebensziel
· Seine gewitzten Antworten an die Gegner
Wie könnte Jesus auf diese Entscheidungen gekommen sein?
Angenommen, eine Gemeinde möchte einen Missionar nach Südamerika aussenden. In der Gemeinde gibt es ein Mitglied, das ein erfolgreiches Reisebüro besitzt. Derjenige legt ganz schnell einen Haufen Pläne auf den Tisch, welches Land am besten geeignet sei und wie man Reise und Aufenthalt organisieren kann.
¨ Ist dieser Sachverstand der Gemeinde nützlich?
¨ An welche Stellen kann der Sachverstand im Wege stehen?
¨ Was kann der Reisebüroinhaber tun, damit er inmitten all seiner Erfahrungen und Ideen noch Gottes Stimme hören kann?

3.3 Verstand und prophetische Rede
1 Bleibt auf dem Weg der Liebe! Strebt nach den Geistesgaben, vor allem aber danach, prophetisch zu reden. 2 Wer in Zungen redet, spricht nicht zu Menschen, sondern zu Gott. Denn niemand versteht ihn: Er redet im Geist von Geheimnissen. 3 Wer dagegen prophetisch redet, spricht zu Menschen: Er erbaut, ermutigt, tröstet. [...]
18 Ich danke Gott, dass ich mehr als ihr alle in Zungen rede; 19 aber in der Gemeinde will ich, um auch andere zu unterweisen, lieber fünf Worte mit meinem Verstand sagen als tausend Worte in Zungen. 20 Liebe Brüder und Schwestern, seid nicht Kinder, wo es um Einsicht geht. Seid unbedarft, wo es um Bosheit geht, in der Einsicht aber seid vollkommen! 1Kor 14

Paulus vergleicht zwei Arten, wie der Heilige Geist in Menschen spricht: Das Gebet in geistgewirkter Gebetssprache und die Prophetie. Später stellt er die Prophetie ganz in die Nähe des Verstandes. Das Zungenreden hat dagegen nicht so viel mit dem Verstand zu tun.
Der Gegensatz lautet also nicht: Entweder Verstand oder prophetische Rede. Sondern beides geht Hand in Hand! Paulus sagt auch nicht: Zur Prophetie muss (ergänzend) der Verstand hinzukommen und erst gemeinsam ist es vollständig. Sondern es ist geradezu vernünftig, der Prophetie vorfahrt zu geben. Unvernünftig ist demnach eine Gemeinde, die auf prophetische Rede verzichtet.
Der Verstand ist dann gut eingesetzt, wenn er Signale Gottes richtig deutet. Dasselbe haben wir ja schon beim Propheten Micha kennen gelernt: Gottes Volk soll die Geschichte Gottes richtig „lesen“ und deuten können (siehe Abschn. 1.3). Es soll erkennen, wie Gott sich in der Vergangenheit zu Wort gemeldet hat.

3.4 Das schönste Einsatzgebiet für den Verstand
37 Er [Jesus] sagte zu ihm: Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit deinem ganzen Herzen und mit deiner ganzen Seele und mit deinem ganzen Verstand. Mt 22

9 Und ich bete dafür, dass eure Liebe reicher und reicher werde an Erkenntnis und zu umfassender Einsicht gelangt, 10 und dass ihr so zu prüfen vermögt, worauf es ankommt; dann werdet ihr rein sein und ohne Tadel am Tag Christi, 11 erfüllt von der Frucht der Gerechtigkeit, die Jesus Christus wirkt, zur Ehre und zum Lob Gottes. Phil 1

Die Liebe zu Gott soll den Verstand mitnehmen; der Verstand soll Gott lieben.
Der Verstand reichert die Liebe an. Für die Liebe ist er eine Bereicherung. Ohne die Liebe hängt er vor Gott in der Luft.

"Wie hören wir Gottes Reden" - 2

2 Apg 15,15: Das geistlich aktuell gedeutete Schriftwort

Gott redet zuerst durch sein Wort, durch die Bibel. Die Bibel aber ist zu allen Zeiten gültig und wir erkennen nicht sofort, was aus ihrer Fülle das wegweisende Wort für eine konkrete Situation ist.
Manchmal beauftragt Gott dann Menschen durch seinen Geist, ein bestimmtes Bibelwort in eine Situation hineinzusprechen. Diese Boten Gottes reden keine eigenen Worte, sondern sprechen nur die Heilige Schrift nach. Aber die Auswahl:
· Welches Bibelwort wird gesagt?
· Wann wird es gesagt?
· Zu wem wird es gerade gesagt?
... diese Auswahl ist dann auf Anregen des Heiligen Geistes passiert. Das Bibelwort bekommt so prophetischen Charakter, ohne dass es ein durch Menschen formuliertes Wort geworden ist.
Das kann immer wieder in der Predigt vorkommen – um dieses Geschehen in unseren Gottesdiensten beten wir ja. Es kann auch außerhalb der Predigt vorkommen; es kann sich in einer Gruppe ereignen oder zwischen zwei Christen.

2.1 Jesus deutet die Schrift in einem Gottesdienst
16 Und er kam nach Nazaret, wo er aufgewachsen war, und ging, wie er es gewohnt war, am Sabbat in die Synagoge und stand auf, um vorzulesen. 17 Und man reichte ihm das Buch des Propheten Jesaja. Und als er das Buch auftat, fand er die Stelle, wo geschrieben steht: 18 Der Geist des Herrn ruht auf mir, weil er mich gesalbt hat, Armen das Evangelium zu verkündigen. Er hat mich gesandt, Gefangenen Freiheit und Blinden das Augenlicht zu verkündigen, Geknechtete in die Freiheit zu entlassen, 19 zu verkünden ein Gnadenjahr des Herrn. 20 Und er tat das Buch zu, gab es dem Diener zurück und setzte sich. Und aller Augen in der Synagoge waren auf ihn gerichtet. 21 Da begann er, zu ihnen zu sprechen: Heute ist dieses Schriftwort erfüllt – ihr habt es gehört. Lk 4
Was ging hier vor, als Jesus dieses Schriftwort verlesen hat?
Im Synagogengottesdienst gab es zunächst die Lesung aus der Tora; der Schriftabschnitt war für jeden Sabbat festgelegt. Später kam eine zweite Lesung aus den Prophetenbüchern. Für beide Lesungen wurde ein Mann aus der Gemeinde aufgerufen bzw. meldete seine Bereitschaft an. Der Schriftabschnitt aus den Prophetenbüchern war nicht festgelegt; man konnte auswählen. Debetsprechen „fand“ Jesus eine bestimmte Stelle. Andererseits konnte er auch nicht frei aus allen Propheten auswählen. Jesus bekam gerade die Jesajarolle gereicht, und sie muss eher zum Ende hin aufgerollt gewesen sein: Jesus konnte ja kaum die Schriftrolle von vorn bis hinten durchrollen. Im größeren Umfeld von Jes 61 muss sie aufgerollt gewesen sein. „Durch ein Zusammentreffen von nicht gewollter Fügung der Umstände und bewusster, freier Wahl stieß Jesus auf die wie für ihn oder aus seiner Seele heraus geschriebenen Worte aus Jes 61,1f., die er verlas.“ (Th. Zahn)
Jesus las nicht nur vor, sondern erklärte: Hier und heute ist dieses Wort erfüllt. Das war also die geistgeleitete aktuelle Deutung.
Wenig später wird deutlich, dass man Jesus nicht geglaubt hat, ihn vielmehr töten wollte. Die Werke des Gesandten haben in Nazareth nicht stattgefunden! Ist also das Schriftwort doch nicht eingetroffen?
In Kafarnaum hat der Gesalbte vorher sehr wohl seine Werke getan (4,23). Das Schriftwort drückt eine Sendung aus, eine Absicht Gottes. Es wird dadurch nicht widerlegt, wenn Menschen es nicht annehmen. Auch heute kann ein Schriftwort durchaus Gottes Absicht aktuell ankünden, auch wenn man diese Absichten nicht annimmt. Die geistliche Deutung des Schriftwortes ist damit nicht schon automatisch widerlegt.

2.2 Aktuelle Schrift-Deutung in einer Gemeindeversammlung
6 Da traten die Apostel und die Ältesten zusammen, um über diese Sache zu befinden. 7 Als es dabei zu einem heftigen Streit kam, stand Petrus auf und sagte zu ihnen: Brüder, ihr wisst, dass Gott von langer Hand die Entscheidung getroffen hat, durch meinen Mund alle Völker das Wort des Evangeliums hören und sie zum Glauben kommen zu lassen. 8 Und Gott, der die Herzen kennt, hat das beglaubigt, indem er ihnen den heiligen Geist gab, so wie er ihn uns gegeben hat. 9 Er hat zwischen uns und ihnen keinen Unterschied gemacht, denn er hat ihre Herzen durch den Glauben gereinigt. 10 Was also wollt ihr jetzt Gott noch auf die Probe stellen, indem ihr den Jüngern ein Joch auf den Nacken legt, das weder unsere Väter noch wir zu tragen vermochten? 11 Wir glauben doch, dass wir durch die Gnade des Herrn Jesus gerettet werden, auf die gleiche Weise wie sie.
12 Da schwieg die ganze Versammlung und hörte Barnabas und Paulus zu, wie sie erzählten, welch große Zeichen und Wunder Gott durch sie unter den Völkern gewirkt hatte.
13 Als sie geendet hatten, ergriff Jakobus das Wort und sprach: Brüder, hört mir zu! 14 Simeon hat erzählt, wie Gott von Anfang an darauf bedacht war, aus allen Völkern ein Volk für seinen Namen zu gewinnen. 15 Damit stimmen die Worte der Propheten überein; so steht geschrieben:
16 Danach werde ich umkehren und wieder aufbauen die Hütte Davids, die zerfallene. Aus ihren Trümmern werde ich sie wieder aufbauen und sie wieder aufrichten, 17 damit den Herrn suchen, die überlebt haben unter den Menschen, alle Völker, über denen ausgerufen ist mein Name, spricht der Herr, der dies tut. 18 Bekannt ist es von Ewigkeit her. [Amos 9,11f.]
19 Darum halte ich es für richtig, denen aus den Völkern, die sich zum Herrn wenden, keine Lasten aufzubürden, 20 sie aber anzuweisen, sie sollten sich fernhalten von Verunreinigung durch fremde Götter, durch Unzucht oder durch Ersticktes und Blut. 21 Denn seit Menschengedenken hat Mose in jeder Stadt seine Verkündiger, da an jedem Sabbat in den Synagogen aus ihm vorgelesen wird. Apg 15
Jakobus zitiert ein Schriftwort und wendet es auf die konkrete Situation an.
Welche neue Gedanken bringt das Schriftwort hinein?
Warum fiel wohl gerade dieses Wort dem Jakobus ein – abgesehen vom Heiligen Geist, der es ihm eingab?
Hätte es andere Schriftworte gegeben, die dieselbe Wahrheit ausgedrückt hätten?
Wie viel von der Schlussfolgerung, die Jakobus zieht (V. 19ff.), ist bereits im Schriftwort enthalten?
Welche anderen Momente gab es vorher, in denen Gott zur Versammlung redete?
Das aktuell gedeutete Schriftwort ist hier ein Glied in einer längeren Kette von Hinweisen Gottes:
· Streit und Verhandlungen (V. 6+7)
· Bericht eines Zeugen über Gottes Taten (7b-9; vgl. 4)
· Anwendung auf die aktuelle Situation (10f.)
· Zeit des Schweigens in der Gemeinde (12a.13a)
· Berichte von weiteren Zeugen über Gottes Taten, die sie wahrgenommen haben (12)
· Schriftwort (13b-18)
· Schlussfolgerung (19-21)
· Beschlussfassung durch die Führenden und die gesamte Gemeinde (22ff.)
Das Schriftwort wirft also nicht allein das Ruder völlig herum, aber es bestätigt eine Richtung, die sich schon vorher durch Gottes Geist abgezeichnet hat.
Um so ein Schriftwort in die Versammlung einbringen zu können, muss man sich in der Bibel auskennen: man muss etwas belesen sein. Daran knüpft dann Gottes Geist an und zeigt mit dem inneren Finger auf ein Wort aus dem persönlichen Schatz der vertrauten Schriftworte.

2.3 Hinweis auf weitere biblische Beispiele
Der Lobgesang der Maria ist ein Beispiel, wie Gottes Geist einem einzelnen Menschen ein Schriftwort für die persönliche Situation gibt: Maria betet ausgehend vom Lobgesang der Hanna. Vgl. Lk 1,46-55 mit 1Sam 2,1-10.
Paulus belehrt die Korinther über die Ereignisse um die Auferstehung der Toten. Er schreibt dabei ein prophetisches Wort nieder, das er offenbar von Christus empfangen hat: 1Kor 15,51. Der Ausdruck „ich sage euch ein Geheimnis“ ist wahrscheinlich ein Fachausdruck für ein prophetisches Wort.
Wenig später ergänzt er das durch zwei Schriftzitate. Sie setzen das prophetische Wort fort, sind aber nicht mehr unmittelbare Prophetie, sondern nun gebraucht Paulus vor-formulierte Worte. Gottes Geist hat ihm gezeigt, dass diese Zitate jetzt in die besondere Situation passen (1Kor 15,55).
Prophetie und aktuell gedeutetes Schriftwort ergänzen sich also.

2.4 Fragen für heute
Wie kann ich unterscheiden, ob mir einfach so ein Bibelwort einfällt oder ob Gott es mir durch seinen Geist speziell für eine Situation in den Sinn gegeben hat?
Wie kann ich bei jemand anderem unterscheiden, ob der jetzt ein Schriftwort auf Anregen des Geistes sagt – oder ob es ihm nur menschlich gerade so eingefallen ist?
Ist es statthaft, dass jemand bei uns sagt: „Ich habe den Eindruck, Gott sagt uns heute gerade dieses Schriftwort.“ –?
Wenn einer oder mehrere den Eindruck haben, Gott gibt ein bestimmtes Bibelwort: Wie können wir es davor bewahren, überhört zu werden? Wie schützen wir es, dass es nicht untergeht in der Fülle anderer Worte und Argumente?
Wie finden wir heraus, welche Schlussfolgerung aus einem aktuelle Bibelwort gezogen werden soll? Was ist, wenn es verschiedene mögliche Schlussfolgerungen gibt?
Haben wir als Gemeinde ein „Instrument“, ein Verfahren, um geist-gegebene Bibelworte richtig auszuwerten?
Dürfen wir Gott um ein wegweisendes Schriftwort bitten – oder müssen wir darauf warten, ob und wann und wie Gott es schenkt?

"Wie hören wir Gottes Reden?" - 1

1 Micha 6,1-8: Gottes Wort ist längst gesagt
Wir fragen nach Gottes aktuellem Willen. Wir tun das in einer Entscheidungs-situation unserer Gemeinde – in einer Art Krise. Das ist typisch für Übergangs-Zeiten: Gottes Wille versteht sich nicht mehr von selbst, sondern muss neu ge-funden werden. Das ist die Chance von Krisen.
Wir lernen in dieser Lektion einen Weg kennen, Gottes Rede zu hören. Die Bi-belstelle stammt aus einer Zeit, in der Gottes Volk (mal wieder) in einer Krise war.

1.1 Die Krise
· Ungerechtigkeit herrscht im Lande; die Mächtigen berauben die Armen (Mi 2,1-10).
· Götzen werden angebetet (Mi 1,5-7).
· Das Land steht vor dem Untergang, politisch gesehen durch die Bedrohung der assyrischen Großmacht (Mi 1,10-16; 2,10; 3,12)
Aber die Krise ist noch schärfer: Gott selber sieht sich auf der Anklagebank und „muss“ sich verteidigen (6,1.4). Also haben die Verantwortlichen nicht nur das Volk ins Unglück geführt, sondern sich auch noch bei Gott beschwert.
Dennoch gab es aufrichtiges Fragen nach Gott: „Was sollen wir denn tun? Was ist dein Wille?“

1.2 Das Bibelwort: Mi 6,1-8

1 Hört doch, was der HERR spricht:
Auf, führe einen Rechtsstreit vor den Bergen,
und die Hügel sollen deine Stimme hören!
2 Hört, ihr Berge, den Rechtsstreit des HERRN,
und ihr Uralten, ihr Grundfesten der Erde!
Denn der HERR hat einen Rechtsstreit mit seinem Volk,
und mit Israel rechtet er.
3 Mein Volk, was habe ich dir angetan?
Und womit habe ich dich ermüdet?
Sage gegen mich aus!
4 Ich habe dich doch heraufgeführt aus dem Land Ägypten
und dich erlöst aus einem Sklavenhaus!
Und vor dir her
habe ich Mose, Aaron und Mirjam gesandt.
5 Mein Volk, erinnere dich doch, was Balak, der König von Moab, beschlossen
und was Bileam, der Sohn von Beor, ihm geantwortet hat,
was von Schittim bis Gilgal geschah,
damit du die gerechten Taten des HERRN erkennst!
6 Mit welcher Gabe soll ich vor den HERRN treten,
mich beugen vor dem Gott der Höhe?
Soll ich mit Brandopfern vor ihn treten,
mit einjährigen Kälbern?
7 Gefallen dem HERRN Tausende von Widdern,
ungezählte Bäche von Öl?
Soll ich meinen Erstgeborenen hingeben für mein Vergehen,
die Frucht meines Leibes als Sündopfer für mein Leben?
8 Er hat dir kundgetan, Mensch, was gut ist,
und was der HERR von dir fordert:
Nichts anderes, als Recht zu üben und Güte zu lieben
und in Einsicht mit deinem Gott zu gehen.


1.3 Gottes Verteidigungsrede: 6,1-5
Gott eröffnet einen Gerichtsprozess.
Wofür sieht Gott sich angeklagt?
Welche Argumente bringt Gott zu seiner „Verteidigung“?
Gott wird vorgeworfen, er habe seinem Volk etwas angetan und es ermüdet. Damit sind wahrscheinlich die Opfergaben gemeint, die dem Volk schwer fielen und derer es müde war. So sagt es zumindest Michas Zeitgenossen, der Prophet Jesaja (43,23f.).
Gott weist auf das hin, was er für sein Volk getan hat:
· Befreiung aus der Sklaverei
· Die Gabe der schriftlichen Weisung, der Tora (dafür steht „Mose“)
· Die Gabe des Priesterdienstes: mündliche Weisung und Versöhnung (dafür steht „Aaron“)
· Die Gabe der Prophetie (dafür steht vielleicht „Mirjam“)
· Bewahrung vor Angriffen, Wandlung des Fluches in Segen (dafür stehen „Ba-lak“ und „Bileam“)
· Schutz und Leitung beim Einzug ins verheißene Land (dafür stehen „Schit-tim“, die letzte Station vor dem Durchzug durch den Jordan, und „Gilgal“, die erste Station danach)
Gott erwartet also von seinem Volk, dass es sich erinnern kann, auf seine Ge-schichte zurückblickt, Gottes Güte darin ablesen kann. Gottes Volk soll seine Ge-schichte als Heils-Geschichte deuten können.

1.4 Die Stimme des Volkes (6,6f.)
Jemand aus dem Volk ist angesprochen von Gottes Verteidigungsrede. Man erkennt, dass man auf Gott wieder zugehen muss. Aber wie? Was erwartet Gott? Verschiedene Möglichkeiten, Angebote werden abgewogen. Demut und Unter-werfung werden erkennbar.
Was sind das für Angebote? Welche Art von Hingabe wird deutlich? Würde Gott das gefallen?
Die „Angebote“ steigern sich immer mehr bis ins Unvorstellbare.
Wir merken: bis ins Krankhafte hinein steigert sich hier eine religiöse Bereit-schaft, ein ehrfürchtiges Wagnis, Gott zu nahen, eine völlige Beugung vor dem Hohen. In jedem Falle werden Gott Opfer angeboten, wird Verzicht geübt, ge-schieht Hingabe an Gott selbst. Nichts wird hier für den Menschen zurückgehal-ten oder gewonnen. [...] Die große Antwort folgt erst. Sie wird nicht einen einzi-gen der Opfervorschläge aufnehmen. Derartige Verzichtsleistungen und Opfer zugunsten Gottes gehören nicht zu dem, was gut ist für den Menschen.
H. W. Wolff
Hier zeigt sich wieder einmal die zutreffende Unterscheidung von Religion und Glaube: Religion ist der Gott suchende Mensch; Glaube ist der Mensch suchende Gott. In V. 6f. ist Religion spürbar.

1.5 Die Antwort (6,8)
Wer redet in Vers 8?
Die Antwort auf die Frage, was Gott will, wird gar nicht von Gott selbst gege-ben, obwohl der doch in V. 1-5 redete. Die Antwort kommt vielmehr vom Pro-pheten. Das erkennt man daran, dass vom „HERRN“ nicht in der Ich-Form, son-dern in der Er-Form gesprochen wird.
Diese Form der Antwort ist in sich schon eine Antwort: Gott muss seinen Wil-len nicht neu ansagen. Er ist längst angesagt. Der Prophet erinnert daran. Drei Dinge sind es, die eng zusammengehören:
Das Gebotene tun (Recht üben), Gemeinschaftssinn lieben und aufmerksam
(oder wachsam) mitgehen mit deinem Gott. (nach H. W. Wolff)
Alles das ist Gottes Volk bereits gesagt und aufgeschrieben: in der Tora, in seiner Bibel. Die Frage nach Gottes Willen ist fast überflüssig, sie ist jedenfalls längst beantwortet.
Die ersten beiden Verhaltensweisen sind nicht schwer herauszufinden: Ge-rechtigkeit ist meist schnell zu unterscheiden von Ungerechtigkeit. Das Wort „Gemeinschaftstreue“ (Luther: „Liebe“) bedeutet eine Verbundenheit unterein-ander und mit Gott. Zwischen den Menschen ist es sine Solidarität.
Das sind aber nun keine Werte, die man praktizieren soll und damit würde man Gott wohlgefällig leben. Es genügt nicht, dass der Mensch losgeht und gute Werte ausübt. Das könnte letztlich doch wieder „Religion“ sein, ein Angebot des Menschen an Gott. Oder eine ethisch respektable Lebensführung ohne Gott. Des-halb kommt noch das Dritte: gemeinsam mit Gott den Weg gehen, im Aufblick zu ihm. Gott will keine Opfer, Gaben, Angebote, sondern den ganzen Menschen.
Jene drei Angebote waren ein Ausweichen. Es handelt sich nicht um Gaben [...]: Es geht um zuverlässigen, mit Gott verbundenen Gehorsam. Nur er enthält die Hingabe des Lebens an Gott. (R. Frhr. v. Ungern-Sternberg)
„Aufmerksam mitgehen“ – Wolff erinnert hier an Ps 123,2:
Sieh, wie die Augen der Diener
auf die Hand ihres Herrn,
wie die Augen der Magd
auf die Hand ihrer Herrin,
so blicken unsere Augen auf den HERRN, unseren Gott,
bis er uns gnädig ist.
„Wachsam leben mit deinem Gott“ – das bedeutet auch: seine Spuren deuten in der Geschichte, wie es V. 4f. gezeigt haben.

1.6 Anwendung für heute
Wenn wir nach Gottes Willen fragen, dann schickt Gott uns zunächst zurück zu seinem Wort, zur Bibel. Die sollen wir praktizieren – aber nicht losgelöst von Gott, sondern verbunden mit ihm. Bibellesen und hörendes Beten muss also Hand in Hand gehen.
Wir dürfen aktuelle Erfordernisse oder Sachzwänge nicht gegen die Bibel aus-spielen. Die Bibel muss das erste Wort haben: „Es ist dir gesagt ...“
Wir Christen haben Gottes Wort nicht nur in der Bibel, sondern mitten in der Bibel auch durch Jesus Christus. Er ist das Wort.
Wenn wir nach dem Vorbild und Beispiel Jesu fragen, können wir sowieso nicht mehr irgend eine gute Tat abseits von Gott tun. Sondern wie Jesus leben können wir nur, indem wir mit Jesus leben.

Für unsere Gemeindesituation fragen wir nicht nur nach Gerechtigkeit und Gemeinschaftstreue, sondern auch nach den biblischen Verheißungen und Vor-gaben für die Gemeinde Jesu.
Fragen:
Welche Wege für unsere Gemeinde sind uns von der Bibel her vorgebahnt?
Welche Wege müssen von der Bibel her ausscheiden?
Welche Grundsätze legt uns das Beispiel Jesu nahe?
Auf welche Spuren setzt uns das biblische Bild der Gemeinde Jesu?
Welche Rolle spielt die Bibel in unseren Diskussionen über die Gemeindezukunft?
Erkennen wir Spuren Gottes aus unserer Gemeindegeschichte? Welche?

Predigt vom 5. Juli 2009

Predigt über Lk 6,36-42: „Medizin für’s Miteinander“

Liebe Gemeinde,
vor einiger Zeit bekamen wir eine Hochzeitsanzeige ins Haus. Darauf waren einige Puzzleteile mit den Fotos der Brautleute. Auf der Innenseite der Karte waren die Puzzleteile zum vollständigen Bild zusammengesetzt. Ja, so sehen sich Menschen, die sich lieben: wie Puzzleteile, die genau füreinander gemacht sind und die aufs Schönste ineinander greifen.
Aber im Laufe des Lebens treffen wir ja gelegentlich noch andere Menschen als unseren Ehepartner. Und mit anderen Menschen passt es längst nicht so schön wie Puzzleteile. Wir treffen oft aufeinander wie scharfkantige Steine oder gezackte Scherben, wir verletzen uns dann gegenseitig, je näher wir uns kommen. Im Laufe der Jahre kann das dann auch in der Ehe und Familie so werden, wo man doch mit der Hoffnung der Puzzleteile begonnen hat. Unser Miteinander kann weh tun. Das ist also längst nicht nur in der Gemeinde so, sondern überall, wo wir mit anderen zusammen leben, in der Familie, im Betrieb, in der Schule.
Wir brauchen Medizin für unsere Verletzungen und auch ein Mittel zur Vorbeugung, damit unsere Begegnungen nicht scharfkantig sind. Der Bibelabschnitt, der in der Tradition der Kirche für den heutigen Sonntag vorgeschlagen ist, enthält solche Medizin für’s Miteinander. Hören wir auf das Lukasevangelium im 6. Kapitel:

36 Seid barmherzig, wie euer Vater barmherzig ist! 37 Richtet nicht, und ihr werdet nicht gerichtet. Verurteilt nicht, und ihr werdet nicht verurteilt. Lasst frei, und ihr werdet freigelassen werden! 38 Gebt, und es wird euch gegeben werden: ein gutes, festgedrücktes, gerütteltes und übervolles Maß wird man euch in den Schoß schütten. Denn mit dem Maß, mit dem ihr messt, wird auch euch zugemessen werden.
39 Er gab ihnen auch ein Gleichnis: Kann etwa ein Blinder einen Blinden führen? Werden sie nicht beide in die Grube fallen? 40 Kein Jünger steht über dem Meister. Jeder aber wird, wenn er ausgebildet ist, sein wie sein Meister.
41 Was siehst du den Splitter im Auge deines Bruders, den Balken im eigenen Auge aber nimmst du nicht wahr? 42 Wie kannst du zu deinem Bruder sagen: Bruder, komm, ich will den Splitter in deinem Auge herausziehen, während du den Balken in deinem Auge nicht siehst? Du Heuchler! Zieh zuerst den Balken aus deinem Auge, dann wirst du klar genug sehen, um den Splitter im Auge deines Bruders herauszuziehen. (Lk 6)

Jesus sagt hier etwas darüber, wie wir Menschen miteinander gewöhnlich umgehen. Jesus weiß, wovon er spricht. Er ist in einer Familie unter Eltern und Geschwistern aufgewachsen. Er hat in einem Handwerkerbetrieb gearbeitet, vielleicht gar nicht nur in der Werkstatt seines Vaters, sondern auf kleineren oder größeren Baustellen in der Gegend. Er hat dann als Lehrer eine Schülergruppe gesammelt und jahrelang Tag und Nacht mit ihnen gelebt. Und er hat sich in der Öffentlichkeit bewegt unter Sympathisanten wie auch unter Gegnern. Jesus hat sich und andere zur Genüge beobachten können. Was er dabei wahrgenommen hat, finden wir auch in unserem Bibelabschnitt wieder. So sind wir halt: Wir wissen genau, was richtig und was falsch ist – bei anderen. Wir fällen gern abschließende Urteile, als ob unser Bild vom anderen schon vollständig wäre. Wir trauen anderen mehr Schlechtes und uns selbst mehr Gutes zu. Und wir haben manchmal eine regelrechte Entdeckerfreude, wenn es um die Fehler der anderen geht. Jesus kennt das alles. Und wenn ich damals dabei gewesen wäre in Jesu Familie oder auf seiner Baustelle oder in seiner Schülergruppe – ich hätte die Erfahrungen von Jesus kräftig bestätigt. Jesus weiß: Unser Miteinander ist oft nicht gesund und es braucht Medizin.
Wir werden uns das, was hilft, gleich ansehen. Aber vorher möchte ich mit euch darauf achten, in welche Richtung Jesus spricht. Wem sagt er das, was die Gemeinschaft heilt? Zu wem redet er?
Bei seiner großen Predigt über Gottes Herrschaft hatte ja Jesus zwei Gruppen vor sich, seine kleine und eine große. Zu Anfang seiner Predigt heißt es: Er blickte seine Schüler an und begann zu reden. Wenig später aber sagt er: „Euch, die ihr zuhört, sage ich ...“ Seine Stimme trug weiter. Also hat er seine Jünger angesehen, aber in die Ohren einer noch größeren Gruppe gesprochen. Das war die große Volksmenge die ganz nah dabei stand und von denen Jesus eben noch viele Kranke gesund gemacht hat. Nun spricht Jesus über ein heilendes Miteinander. Er blickt seine Schüler an und sagt es in die Ohren aller. Er gibt seinen Schülern – wir könnten sagen: er gibt seiner kleinen Gemeinde eine Medizin für ihr Miteinander. Und dabei wird allen klar: Wenn wir so miteinander umgehen, wie er es sagt, oder wenn wenigstens seine Schüler so miteinander umgehen, dann wirkt sich das aus auch auf die große Gruppe. Jesus gibt Medizin für’s Miteinander, und wenn die Christen so miteinander leben, wird ihr Miteinander wiederum zur Medizin für andere – für die Welt.
Damit haben wir schon einen ersten Punkt erfasst:

1. Unser Miteinander ist Medizin für die Welt.
Wir müssen bei dem, was Jesus sagt, von der ersten Silbe an über unseren Tellerrand hinaus denken, über unsere Gemeinde hinaus. Wie wir miteinander umgehen, hat eine Bedeutung für die Welt. So oder so. Entweder wir bringen heilende Wirkung in die Welt – oder eben nicht, dann fehlt diese Wirkung Auch das hätte Bedeutung. Was wir heute von Jesus hören, ist jedenfalls keine interne Angelegenheit zur Gemeinschaftspflege. Sondern was Jesus sagt, will ein kräftiges Zeichen für Gott in die Welt hinein setzen.
Und was soll nun im einzelnen passieren? Was verschreibt Jesus seinen Schülern?
Zunächst gilt es die richtige Wahl zu treffen. „Seid barmherzig – verurteilt nicht!“ Wählt den Weg der Güte und nicht den weg der urteilenden Gerechtigkeit. Gott macht es ja auch so. Seid barmherzig, wie euer Vater im Himmel barmherzig ist.

2. Güte statt urteilender Gerechtigkeit!
Die richtige Wahl treffen! Das klingt für uns heute ziemlich schlicht. Aber für die Hörer damals hing ein großes Thema an diesen beiden Worten Barmherzigkeit und Gerechtigkeit. So wie uns heute bei einem einzigen Stichwort manchmal lange Unterrichtstunden aus der Schule einfallen – „Jaja, da haben wir damals viel drüber gelernt!“ – so ging es den Hörern damals. Die Rabbinen haben damals über Gott gelehrt. Es gibt zwei Maße, mit denen Gott misst. Einmal das Maß der Gerechtigkeit. Tadelloses Leben gemäß der Gebote. Gott wird darüber urteilen – und die Lehrer taten es ebenso, vor allem die Pharisäer. Das war das eine Maß und der eine Weg zu Gott. Und daneben noch ein zweites Maß: Die Güte. Wer am ersten Maß scheitert, kann auf Gottes Güte hoffen.
Jesus nun sagt etwas anderes: Güte statt urteilender Gerechtigkeit! Nicht entweder – oder. Das erste Maß, das der Gerechtigkeit, wirst du niemals erfüllen. Du kommst gar nicht zu Gott hin. Denn wenn du anfängst, andere zu beurteilen, wird Gott auch über dich urteilen – und dabei kommst du ganz schlecht weg. Diese Gerechtigkeit, die sich mit anderen vergleicht und dann sich selbst ein besseres Zeugnis ausstellt – die hat keinen Bestand vor dem unbestechlichen Gott. Aber Gott ist zugleich voller Güte. Wenn du also auf die Barmherzigkeit setzt, wenn du anderen Barmherzigkeit antust, dann wird Gott auch über dich barmherzig sein.
Was folgt daraus für’s Miteinander? Verurteilt euch nicht gegenseitig. Das wäre Gift. Wählt stattdessen die Güte – das ist die Medizin.
So wie wir Menschen sind, fragen wir natürlich gleich zurück. Nicht richten, nicht urteilen? Aber es gibt doch noch Gut und Böse, es gibt noch Richtig und Falsch. Und es kommt auch vor, dass man mir Unrecht tut. Soll ich dann das Unrecht für Recht erklären? Aus schwarz weiß machen? Und womöglich am Ende selbst ins Unrecht gesetzt werden?
Nein, würde Jesus antworten. Natürlich gibt es feste Maßstäbe. Vergebt einander, hab ich ja gesagt. Sprecht einander frei. Wenn du vergeben musst, dann hat der andere ja Unrecht getan. Sonst gäbe es nichts zu vergeben. Ja, es kommt vor, dass du im Recht bist und der andere im Unrecht. Und dann? Es ist – so höre ich Jesus antworten – es ist für dich nicht dein Ziel, im Recht zu sein. Wenn du Recht hast, ist das nicht der Endpunkt, sondern dann geht es erst richtig los. Nämlich mit dem Vergeben.
Also wähle nicht den Weg des Rechts, sondern wähle die Barmherzigkeit. Wenn du aufs Rechthaben setzt, dann wirst du vor Gott verlieren. Und vor anderen Menschen – vielleicht hast du da Recht. Na und? Dann sprich den frei, der im Unrecht ist. So macht es Gott ja auch mit dir.
Barmherzig, wie Gott barmherzig ist: wie ist denn Gott barmherzig? Er verurteilt oft mein Verhalten – zu Recht. Aber mich als Mensch verurteilt er nicht, sondern beschenkt mich mit Güte. Gott unterscheidet zwischen meinem Tun und meiner Person. Wir aber machen es meist anders, packen alles in ein Paket und verurteilen gleich den gesamten Menschen. Jesus möchte, dass wir nicht so urteilen. Sondern dass die Gesamtüberschrift „Barmherzigkeit“ heißt
Das ist die Medizin, die Jesus uns verschreibt. Unter den zwei Maßen gibt es nur eines, das weiterführt: die Güte. Wer aber urteilt, blickt auf’s Böse und vergiftet sich langsam dabei.
Jesus macht uns ein Versprechen: Wir werden nicht als die Verlierer dastehen, wenn wir einseitig in Vorleistung gehen und Güte verschenken. Wir sind am Ende nicht die Lackierten. Zwischenzeitlich mag es uns so vorkommen. Aber am Ende wird Gott die beschenken, die vorher Güte schenkten. „Gebt, und es wird euch gegeben werden: ein gutes, festgedrücktes, gerütteltes und übervolles Maß wird man euch in den Schoß schütten.“ Das erinnert mich an die Kaffeedose. Es ist gar nicht so leicht, ein ganzes Pfund Kaffee in der Dose unterzubringen. Am Anfang meiner Kaffeetrinkerlaufbahn hab ich immer das meiste in die Dose geschüttet, dann war sie fast voll, dann hab ich es oben mit den Löffel glattgestrichen, ein wenig ist dabei schon übergelaufen, danach hab ich den Rest dazugeschüttet und es war ein Hügel auf der Dose und ich hab den Deckel nicht mehr zubekommen. Bis jemand es mir besser gezeigt hat: Man muss die Dose fast voll machen und dann sie kräftig auf den Tisch stoßen. Dann setzt sich das Pulver und oben kann man mehr einfüllen.
Gott macht es mit seiner Güte für uns wie mit der Kaffeedose: Er stößt und rüttelt und schüttelt, damit möglichst viel hineinpasst. Und was dann immer noch überläuft, ist unser Extra-Bonus. Nein, wir werden am Ende nicht im Nachteil sein. Gott wird uns so viel Güte geben, dass unsere verschenkte Güte daneben bescheiden aussieht.
Also: ich kann durchaus im Recht sein. Aber das ist für Jesus kein Ziel in sich. Sondern dann fängt es erst an. Ich beginne zu schenken, zu vergeben. Ich spreche frei. Und stehe am Ende doch als der Beschenkte da. Güte statt Gerechtigkeit – wie sähe dein Kollegium aus, wenn einer anfinge, so zu leben? Wie sähe deine Familie aus, deine Ehe, wenn du anfingst zu schenken? Wie sähe die Gemeinde aus, wenn nur einige anfingen? Es ist eine Erfahrung aus der Familientherapie, dass das gesamte Gefüge sich ändert, wenn nur einer beginnt, etwas anders zu machen. Man muss gar nicht alle verändern, es reicht, bei sich anzufangen. Dann ist schon so viel Neues im System, dass die anderen irgendwie reagieren werden.
Damit haben wir auch schon den nächsten Punkt erfasst. Jesus spricht von denen, die einen Balken im Auge haben, aber bei anderen den Splitter ziehen wollen. Mit dem Balken im Auge sind sie aber doch so gut wie blind! Sie können dem anderen gar nicht helfen. Sie können momentan nur einen einzigen Menschen ändern: sich selbst. Also:

3. Den ändern, den allein man ändern kann!
„Wie kannst du zu deinem Bruder sagen: Bruder, komm, ich will den Splitter in deinem Auge herausziehen, während du den Balken in deinem Auge nicht siehst? Du Heuchler! Zieh zuerst den Balken aus deinem Auge, dann wirst du klar genug sehen, um den Splitter im Auge deines Bruders herauszuziehen.“
Irgendwann kannst du auch dem anderen helfen. Aber vorher musst du selber in Ordnung sein. Wende die Medizin erst bei dir selbst an, bevor du sie anderen verabreichst. Du selbst hast sie wohl auch nötiger.
Seit Jesus das damals sagte, hat die Medizin einige Fortschritte gemacht. Heute sind noch ganz andere Behandlungen möglich. Aber auch da gilt: Fang nicht am falschen Ende an.
Du sieht beim anderen, wie unfreundlich der schaut? Du kannst wohl eine Operation durchführen, kannst ihm seine Stirnfalten glätten. Aber du selber hättest eigentlich eine Gallenoperation nötig – denn dir kocht so oft die Galle über. Keiner sieht es. Das böse Gesicht des anderen sieht man. Doch mach erst deine wütende Galle gesund, bevor du die Stirnfalten anderer behandelst.
Da ist deine Gemeinde, die dir zu unbeweglich vorkommt. Sesshaft, wahrscheinlich Übergewicht. Du kannst ihr wohl eine Diät ausarbeiten oder gar eine Fettabsaugung vornehmen, damit sie beweglicher wird. Aber was ist mit deiner eigenen Hüftsteife, die dich in deinen liebgewordenen Gewohnheiten festsetzt? Komm erst mal selber hoch und beweg was in deinem Leben, lass dir deine starren Gelenke operieren, dann kannst du auch das Übergewicht deiner Gemeinde behandeln.
Die Generationen sind zueinander stumm geworden. Du kannst wohl die Stimmbänder der Gemeinde kurieren, damit man wieder miteinander redet. Aber was ist mit deiner eigenen Augenkrankheit? Übersiehst du die, die zur anderen Generation gehören? Lass dir dafür eine starke Brille verschreiben, danach kannst du auch die Stimmbänder der Sprachlosen kurieren.
Die anderen sind schläfrig und erkennen nicht, wie man sich engagieren müsste? Du kannst ihnen wohl die Kreislauftropfen bringen oder gar Koffein-Pillen, damit sie mal in Wallung kommen. Aber was ist mit den Schlaftabletten deiner Selbstgerechtigkeit, von denen du nicht loskommst? Geh mal auf Entzug von deinen Schlaftabletten, dann kannst du auch den anderen Kreislauftropfen verabreichen.
Dein Mann oder deine Frau braucht eine Handoperation, damit sie endlich mal die Hand ausstreckt anstatt nur was zu erwarten? Wohl möglich. Aber vergiss nicht, wie schwer herzkrank du selbst bist mit einem Herz voller Ablehnung. Tritt zunächst mal deine Herzkur an, danach kannst du auch noch beim Partner die Handoperation vornehmen.
So herum geht die Medizin bei Jesus. Also: Es gibt große Hoffnung für unsere Ehen, unsere Familien, unsere Gemeinde, unsere Kollegien. Denn in all diesen Kreisen wird sich etwas bewegen, wenn einer anfängt, sich zu verändern. Ändere den, den allein du ändern kannst! Die Medizin für’s Miteinander hat Jesus geliefert. Es ist die Güte, die Barmherzigkeit. Nur müsste noch jemand sie einnehmen.
Jesus ist das beste Vorbild für einen, der bei sich selbst angefangen hat. Über sich und dich hat Jesus gesagt: „Kein Jünger steht über dem Meister. Jeder aber wird, wenn er ausgebildet ist, sein wie sein Meister.“ Wie ist der Meister? Wie ist Jesus?
Er hat nun wirklich nicht auf andere gewartet. Er hat sich hineinschicken lassen in unsere Welt mit ihren vielen irdischen Begrenzungen. Er ist vorangegangen abwärts, hat nicht andere vorausgeschickt. Er stand, als er sich taufen ließ, in einer Reihe mit den Sündern. Er hat sich danach in die Wüste führen lassen und wurde dort sehr hart auf die Probe gestellt. Macht, Einfluss und höchste Anerkennung hätte er haben können, er musste nur zugreifen. Aber er hat sich frei von diesen Trieben gehalten. Erst so konnte er zu anderen vom reinen Herzen sprechen. Er selbst hat Heimat aufgegeben, hatte keinen festen Platz auch nur für sein Kopfkissen. Erst so hat er andere zur Nachfolge aufgefordert. Er hat denen vergeben, die ihn verleumdeten und hassten. Er war nie selbstgerecht. Jesus hat wirklich alles daran gesetzt, dass er durch und durch klar ist. Jahrzehnte vor seinem öffentlichen Auftreten lebte er verborgen, hat seinen Charakter gebildet und bewährt. Und am Ende hat er – so sagt es die Bibel einmal – an dem, was er leiden musste, Gehorsam gelernt. Jesus, ein Lernender also auch noch zum Schluss. Jesus hat bei sich angefangen und dann die Welt verändert.
Können wir so sein wie er? Werden wir diese Klarheit, Glaubwürdigkeit, Aufrichtigkeit erreichen? Nun, Jesus sagt: „Jeder wird, wenn er ausgebildet ist, sein wie sein Meister.“ Wir haben die Möglichkeit, uns von Gott ausbilden zu lassen. Jesus benutzt hier ein Wort, das volle Tauglichkeit ausdrückt. Einen Handwerker, der seine Kunst versteht und das vollständige Werkzeug im Koffer hat, den würde man so beschreiben. Jesus verwendet nun dieses Wort für seine Schüler – für uns.

4. Jesu Schüler: wirkungsvoll ausgerüstet
Wir können solche werden, die Gott fit macht, wirkungsvoll, ausgerüstet. Wir werden dann sein wie unser Meister Jesus. Wie passiert das?
Indem wir nicht auf andere warten, sondern uns selbst verändern. Zulassen, dass Gott bei uns ansetzt.
Wir werden tauglich, wenn wir nicht rechnerisch auf Gerechtigkeit setzen, sondern auf Güte.
Wir werden fitte Jünger, wenn wir vielleicht das Verhalten anderer beurteilen. Selbst das ist schon heikel. Aber keinesfalls die ganze Person des anderen verurteilen!
Wir werden wirkungsvoll, wenn wir nicht ängstlich auf unsere Reserven achten, ob wir auch noch gut genug wegkommen, sondern wenn wir uns darauf verlassen: Gott wird uns voll ausfüllen mit Güte. Denkt an die Kaffeedose.
Die Barmherzigkeit, die Jesus an uns sehen möchte, ist keine Schwäche. Nicht der Weg des geringsten Widerstandes. Sondern sie ist eine Stärke. Eine echte Kompetenz. Wir Schüler Jesu sind ausgebildete, qualifizierte Menschen – weil Gott in uns Güte ohne Ende investiert hat.
Lasst uns so hoch von uns denken: Wir haben Kompetenzen, die nur Schüler Jesu haben. Wir kennen die Medizin unseres Meisters für unser Miteinander und für das Miteinander in allen anderen Beziehungen. Lasst uns die Medizin einnehmen. Lassen wir uns füllen mit Gottes Güte. So wird unser Miteinander zur Medizin für die Welt.
Und das Schönste: Wir werden Jesus ganz ähnlich. Wir werden wie er, viel mehr als gerecht, wir werden nämlich barmherzig. „Kein Jünger steht über dem Meister. Jeder aber wird, wenn er ausgebildet ist, sein wie sein Meister.“ Dafür lohnt es sich zu leben!
Amen.
Ulrich Wendel