Sonntag, 29. April 2012

Freiheit

Es war einmal ein Mann, dessen Seele zum Fliegen geboren war. Es war also kein besonderer Mensch. Der große Schöpfungs-Ausstatter, Gott, hat allen Menschen eine Seele gegeben, die zum Fliegen geboren ist.

Der Mann spürte seine Seele in sich und konnte merken, wenn sie sich emporschwang und flog. Doch eines Tages, von einer Sekunde auf die andere, wusste der Mann: Sie ist ja gar nicht frei. Meine Seele schwingt sich empor und fliegt, aber sie ist nicht frei.

Einmal ging der Mann abends vor dem Schlafengehen noch spazieren. Unter einer Laterne band er sich den Schuh zu und als er aufblickte, sah er oben, im Lichtschein der Laterne, Hunderte von Nachtfaltern. Alle waren in ständiger Bewegung. Sie schwirrten ums Licht, sie flogen, aber nie kamen sie von der Laterne fort.

Da wusste der Mann, was mit ihm los war: Er hatte die Seele eines Nachtfalters. Er ahnte die Freiheit. Er wusste, was es heißt zu fliegen. Aber seine Seele flog sich nicht frei. Sie kriegte die Kurve nicht. Sie wurde angezogen von immer denselben Gedanken, Urteilen, Meinungen, Gewohnheiten und Marotten. Immer von denselben Sorgen, Feigheiten und Ängsten.

Das wäre nicht weiter schlimm gewesen, wenn seine Seele nicht zum Fliegen geboren wäre. Doch sie war es und der Mann spürte: Sie fliegt zwar, aber sie fliegt doch nicht. Sie fliegt sich nicht frei.

Von da an vermied der Mann, abends an hellen Laternen vorbeizulaufen. Er wollte keine Nachtfalter mehr sehen. Aber während seiner Spaziergänge rief er zu Gott, dem großen Schöpfungs-Ausstatter, und fragte ihn: „Warum habe ich die Seele eines Nachtfalters?“

Nach einiger Zeit antwortete Gott ihm. Er sagte:

„Hast du es denn vergessen? Du hattest die Seele eines Nachtfalters. Früher. Aber ich habe sie doch neu geschaffen. Deine Seele war schon immer zum Fliegen geboren und als du dich ganz auf mich verlassen hast, habe ich sie neu geschaffen.

Du hast doch jetzt die Seele einer Seeschwalbe.“

Von Seeschwalben hatte der Mann schon gehört. Diese Vögel fliegen wie sonst kein Geschöpf. Sie legen in einem Jahr dreißigtausend Kilometer zurück. Sie brüten in der Arktis und vergessen nie, wo ihr Zuhause ist. Wenn es Herbst wird, fliegen sie los und ziehen zum äußersten Süden. Im Frühjahr brechen sie von dort wieder auf, verlassen das Polargebiet im Süden und kehren zurück zum Brutplatz.

Der Luftraum der ganzen Erde gehört ihnen. Sie sind wirklich frei. Sie sind zum Fliegen geboren und fliegen wie sonst niemand. Und sie gehen nicht verloren. Sie wissen, wo ihr Zuhause ist. Sie kriegen jede Kurve: nach draußen und zurück. Aufbruch und Heimkehr. Niemand zeichnet ihren Weg vor. Die Luft ist ihr Element. Sie kennen die Freiheit und sie finden heim.

„Ich habe deine Seele doch neu geschaffen,“ sagte der große Schöpfungs-Ausstatter, Gott. „Ich habe dir die Seele einer Seeschwalbe gegeben. Warum fliegt sie noch um das Laternenlicht? Warum ist ihr die Freiheit unbekannt? Warum nimmt sie nicht die Kurve? Ich habe deine Seele neu geschaffen. Hast du das denn vergessen?“