Mittwoch, 19. Mai 2010

Bibelstudie "Bestandsaufnahme" 8: Laodizea

8 Der Brief an die Gemeinde Laodizea, 3,14-22
Die Stadt Laodizea lag im Tal des Flusses Lykos – wie auch Kolossä. Eine andere Nachbarstadt war Hierapolis. Alle drei Städte werden im Kolosserbrief erwähnt; die Gemeinden dort waren durch Paulus’ Lehre geprägt, aber wohl nicht von Paulus gegründet (eher von Epaphras). In Laodizea versammelte sich die Gemeinde (auch?) im Haus der Nympha (Kol 4,15)
Benannt war die Stadt nach der Frau des Königs, der sie gegründet hat (Laodike). Zwischen ihren Nachbarstädten hatte Laodizea eine besondere Position. Kolossä war von der Natur ausgestattet mit Quellen, die kaltes, Frisches wasser lieferten. Hierapolis dagegen hatte heilende Thermalquellen. Laodizea aber hatte gar keinen eigenen natürlichen Wasserzugang. Noch heute sieht man Ruinen von Wasserleitungen (Aquädukten und Steinröhren; Bild 1, Bild 2, Bild 3, Bild 4, Bild 5), mit denen die Stadt versorgt wurde. Durch den langen Transportweg in einem heißen Land wurde das Wasser, bis es in die Stadt kam, lauwarm. Die Wasserleitungen zeigen heute Spuren von Verkalkung – das Wasser darin war also nicht das reinste gewesen.
Eine Stadt in so ungünstigen Naturbedingungen zu gründen muss seine guten Gründe gehabt haben. Sie lag an einem wichtigen Verkehrskotenpunkt, außerdem in der Gegend von ergiebigem Weideland. Die Schafe, die dort gehalten wurden, waren eine spezielle Rasse mit schwarzer, besonders weicher Wolle. So wurde die Stadt berühmt für ihre besondere tiefschwarze Wollproduktion und hatte einen große Textilindustrie. Der daraus entstehende Reichtum machte die Stadt zu einem wichtigen Bankzentrum. Cicero schrieb von seinen Reisen, dass er seine Schecks in den Banken hier einlöste, und empfahl das auch seinen Freunden.
Schon aus anderen Städten haben wir von der Zerstörung durch Erdbeben gehört. Laodizea war zweimal betroffen. 17 n. Chr – sie wurde dann mit Hilfe kaiserlicher Gelder wieder aufgebaut. 61 n. Chr. aber, bei der zweiten Zerstörung, war sie so reich, dass sie keine Hilfe von außen annahm, wie der Historiker Tacitus schrieb: „In demselben Jahre wurde eine bedeutende Stadt Kleinasiens, Laodizea, durch ein Erdbeben zerstört. Doch half sie sich ohne irgendwelche Beihilfe unsererseits nur durch eigene Kraft wieder auf.“
Berühmt war die Stadt außerdem durch die Produktion von Medizin. Zum einen war das Salbe gegen Ohrenkrankheiten, zum anderen ein Pulver gegen Augenerkrankungen, das mit Öl vermischt ebenfalls eine Salbe ergab.

Ganz offenkundig greift der erhöhte Christus die speziellen Gegebenheiten dieser Stadt auf, wenn er an sie schreiben lässt.

8.1 Wer redet zur Gemeinde – wie zeigt sich Christus?
In Jes 65,16 wird Gott der „Gott des Amen“ genannt – Gott ist der Amen, Gott ist die Treue in Person. Das nimmt Christus gleichermaßen nun für sich in Anspruch. Er ist zuverlässig durch und durch.
Treu war er auch schon, als er „vor Pontius Pilatus das gute Bekenntnis bezeugt hat“ (1Tim 6,13). Die Bezeichnung „treuer Zeuge“ erinnert an Jesu Passion. Als er schon in Offb 1,5 so genannt wurde, kam gleich die Erinnerung an die Auferstehung hinzu: „Erstgeborener von den Toten.“. Hier nun, in diesem Brief, heißt er der „Anfang der Schöpfung Gottes“: Das deutet zurück auf die ursprüngliche Schöpfung und vielleicht auch auf die Neuschöpfung durch die Auferweckung. Jedenfalls umgreift Christus die ganze Geschichte – als der, „der ist und der war und der kommt“ (1,4).
Christus ist die Achse durch den ganzen folgenden Brief. Er sagt nacheinander: Ich bin, ich kenne, ich will, ich komme, ich gebe.

8.2 Was in der Gemeinde falsch lief
Die Anklage Christi an diese Gemeinde, ist komplett und umwerfend. Die gesamte Gemeinde steht unter Anklage. Es gibt weder „einige“ noch einen Rest (wie in anderen Gemeinden), der ausgenommen wäre.
Der Vorwurf des Herrn: Die innere Verfassung der Gemeinde ist ebenso wie die naturgegebene Situation der Stadt – sie ist lauwarm. „Seid brennend im Geist“ (Röm 12,11) – Fehlanzeige. Mit Lauheit kann zunächst Halbherzigkeit und innere Trägheit gemeint sein. Christus „ist zu Gast in Laodizea, und sie schenken ihm seelenruhig lauwarm ein. Sie bedienen ihn mit ihrem trägen Dienst, mit ihren schleppenden Gottesdiensten, leiernden Gebeten und mit ihrer nachlässigen Seelsorge. [...] Alle Gemeindelauheit, alles träge und uninteressierte Wesen, auch Menschen gegenüber, verletzt ihn. Was einem seiner geringsten Brüder angetan wird, wird ihm angetan.“ (A. Pohl)

In dieser Beschreibung wird schon deutlich, dass es nicht nur um inneres Versagen geht, sondern auch ihre „Werke“, die eigentlich für Menschen da sein sollten, sind unbrauchbar. Die heißen Quellen der Nachbarstadt Hierapolis konnten Kranken zur Genesung helfen. Die klaren kalten Wasser der anderen Nachbarstadt Kolossä konnten müde Wanderer erfrischen. Die Gemeinde Laodizea „lieferte weder Erfrischung für die geistlich Verdorrten noch Heilung für die geistlich Kranken“ (Rudwick / Green). Die Gemeinde blieb ihren Dienst schuldig.
„Nicht nur Christus, auch der Satan weiß um den geistlichen Tiefstand der Gemeinde (vgl. 3,1). Darum lässt er sie vollständig in Ruhe. So verlautet nichts von Verführung oder Verfolgung, von Verleugnen, Abfall oder Erschütterung. Alles ist intakt und alles findet statt. Der Mitgliederstand gibt zu keiner Sorge Anlass. Ja, die lauen Glieder halten den Herrn Jesus Christus für so harmlos, dass die nicht einmal austreten“ (A. Pohl)

Später (V. 17) wird eine unerbittliche Folge von fünf Beschreibungen aufgezählt:
· elend
· erbärmlich
· arm
· blind
· nackt
Die Wurzel dabei wird die Blindheit sein: Wer damals blind war, verarmte, und wer arm war, konnte sich nicht kleiden.

Beachtlich ist dies: Offenbar gab es in dieser Gemeinde kein falsches Bekenntnis, keine Irrlehre. In den Gemeinden, wo dies der Fall war, haben die Briefe es auch klar angesprochen. Hier verlautet keine Lehr-Korrektur. Das aber bedeutet: Die geistliche Gesundheit einer Gemeinde steht und fällt nicht allein mit der rechten Lehre! Man kann in Bekenntnisfragen vollkommen korrekt sein, die zutreffenden Formulierungen aufsagen, richtige Kenntnisse haben und diese durchaus überzeugt vertreten – und dennoch geistlich ausgehöhlt, ja tot sein!

8.3 Die Selbsteinschätzung der Gemeinde
Erschütternderweise sah die Gemeinde sich selbst völlig anders – eher im Einklang mit dem äußeren Wohlergehen der Stadt. Drei Selbstdiagnosen sprach sie aus:
· reich
· wohlhabend (als Dauerzustand)
· brauche nichts
Wie die Stadt nach dem zweiten Erdbeben sich aus eigenen Kräften helfen konnte, so meint auch die Gemeinde dazustehen. Diese Fehleinschätzung ist ein altes Lied, das in Gottes Volk immer wieder angestimmt wurde und das von den Propheten angeprangert wurde:

Efraim aber sagte: Wie reich bin ich geworden! Ich habe mir ein Vermögen verschafft. Bei all meinem Erwerb wird man keine Schuld an mir finden, die Sünde wäre. Hos 12,9

4 So spricht der HERR, mein Gott: Weide die Schlachtschafe! 5 Ihre Käufer schlachten sie, ohne es zu büßen, und ihre Verkäufer sagen: Gelobt sei der HERR: Ich bin reich geworden!, und ihre Hirten, sie haben kein Mitleid mit ihnen. 6 Ich werde kein Mitleid mehr haben mit den Bewohnern der Erde! Spruch des HERRN. Sondern sieh, ich lasse jeden einzelnen Menschen in die Hand seines Nächsten fallen und in die Hand seines Königs, und sie werden die Erde verheeren, und ich werde sie nicht aus ihrer Hand retten! Sach 11

Das hätte Warnung genug sein können. Noch tiefer enthüllt sich die Falschheit dieser Gemeinde aber, wenn die Offenbarung später das Bild der antigöttlichen Stadt Babylon zeichnet – und diese Stadt redet genauso hochmütig und selbstsicher:

7 Was sie an Pracht und Luxus genossen hat, das gebt ihr nun an Qual und Trauer! Denn in ihrem Herzen sagt sie: Als Königin sitze ich auf dem Thron, und Witwe bin ich nicht, und Trauer werde ich nie sehen. 8 Darum werden die Plagen über sie kommen an einem einzigen Tag: Tod und Trauer und Hunger, und im Feuer wird man sie verbrennen, denn mächtig ist Gott, der Herr, der sie richtet. Offb 18

Es wird deutlich, dass zwei Schäden oft Hand in Hand gehen: Blindheit und Selbstgerechtigkeit, Selbstrechtfertigung. Wer blind ist, sagt: „Ich brauche nicht ...“ – und wer sagt: „Ich habe es nicht nötig“, bleibt blind.

8.4 Was Christus zu tun androht
Schon zuvor haben wir an anderen Gemeinden gesehen, dass die Christus zum Gegner bekommen können: „Ich komme über dich ...“ auch diese Gemeinde droht Christus angewidert auszuspucken. Es kann keine Rede davon sein, dass jede Gemeinde zu jeder Zeit Christus für sich hätte und Christus auf ihrer Seite – das wäre wieder falsche Selbstsicherheit. Hier in Laodizea stellt sich Christus noch stärker gegen die Gemeinde: „Im Blick auf vier Gemeinden sprach der Herr: Ich habe etwas wider dich! Hier heißt es: Du bist mir widerlich! Das ist der Gipfel der Verurteilung.“ (A. Pohl)
Es gibt also Situationen, wo gepredigt werden muss: „Nichts ist gut in ... Nichts ist gut an diesem Ort!“

8.5 Was Christus jetzt sofort tut
Die Drohung ist noch nicht durchgeführt. Zuvor stellt Christus anderes in Aussicht. Das beruht auf seiner Einschätzung. Unter den fünf Diagnosen war auch das Wort „erbärmlich“. Wer erbärmlich ist, dessen muss man sich erbarmen, und genau das tut der erhöhte Herr! Er nennt seine Motivation: „Wen ich liebe ...“ (V. 19). Hier benutzt er nicht das Wort für die göttliche, schenkende Liebe (agápe), sondern für die freundschaftliche Liebe, in der Zuneigung mitschwingt (philía). Freundschaft zu dieser Gemeinde! Immer noch! Christus benutzt dieses Emotionswort, um fortgesetzt um sie zu werben.

In der Stadt der Händler und Bankiers geht Christus so weit, selbst als Händler aufzutreten, der seine Waren anbietet: Gold, weiße Kleider, Augensalbe. Die Gemeinde müsste wahr werden und sich demütigen, erkennen, dass sie das eben doch braucht. Die Metropole der Medizin braucht selbst Arznei. In der Stadt der Textilproduktion braucht man Kleidung, die nun dort gerade n zu bekommen ist: Schwarze Wollgewänder machten die Stadt berühmt, aber in Wirklichkeit werden weiße Gewänder gebraucht (die Kleidung der vor Gericht Freigesprochenen). Das bekommt die Gemeinde nicht aus eigenen Reserven, sondern nur von ihm.

Christus bietet zu kaufen an, ohne dass er einen Preis nennt (allenfalls die entschlossene Buße wäre der Preis). Vielleicht deutet er – nach Jes 55 – an, dass der Preis für den momentanen Lebensstil hoch ist, schmerzlich teuer, während sein Angebot gar nichts kostet:

1 Auf, geht zum Wasser, all ihr Dürstenden, und die ihr kein Silber habt, geht, kauft Getreide, und esst, und geht, kauft Getreide, nicht für Silber, und Wein und Milch, nicht für Geld! 2 Warum bietet ihr Silber für etwas, das kein Brot ist, und euren Verdienst für das, was nicht sättigt? So hört mir zu, und esst Gutes, damit ihr eure Freude habt am Fett. 3 Neigt euer Ohr, und kommt zu mir! Hört, dann werdet ihr leben ... Jes 55

Die unermessliche Liebe als Beweggrund wird Christus noch weiter unterstrichen im Siegerspruch (V. 22, s.u.). Schon hier ist klar: Seine von innen völlig zerstörte Gemeinde ist von Christus nicht aufgegeben.

Auf ein einziges verzichtet Christus: darauf, sich selbst in diese Gemeinde hineinzudrängen. Er steht lediglich vor der Tür, klopft und ruft. Mehr nicht. „Obwohl es ihm nicht an Schlüsseln fehlt (1,18; 3,7), überlässt er das Öffnen den Menschen selbst.“ (Pohl) Die Wahl liegt bei der Gemeinde. Bleiben sie bei ihrer Selbsteinschätzung und Selbstrechtfertigung?

8.6 Was die Gemeinde tun muss
Um die Blindheit zu überwinden, ist zweierlei nötig: Umkehr und sich zu ereifern (V. 19b). Beide Aufforderungen stehen in unterschiedlichen Zeitformen. Die Umkehr, Buße wäre eine entschlossene punktueller Maßnahme (tu es jetzt!).
Sich zu ereifern steht in einer Sprachform, die Dauer meint: Versetze dich in einen Zustand des Eifers. Dabei ist vielleicht nicht ein „Feuereifer“ Gemeinde, wie wenn Kinder sich in ein Spiel versenkt haben und gar nicht herauszurufen sind. „Eifer“ hat in der Bibel oft den klang eines Aufbegehrens, sich Ereiferns. Die Zürcher Übersetzung von 2007 schreibt: „Empöre dich!“
Auch solche Kräfte und Emotionen müssen zur rechten Zeit, am rechten Ort möglich sein – sie sind sogar geboten. Jesus hat zwar in seiner Verkündigung oft gezeigt: Buße ist Freude. Aber der Weg zu dieser Freude kann durchaus durch den engen Pass der Empörung führen – und zwar der Empörung über sich selbst! Dem auszuweichen hieße, die Buße wieder nur lauwarm serviert bekommen zu wollen. Die neutestamentlichen Verkündiger zeigen sehr wohl, wie nötig eine richtige Selbst-Empörung ist:

8 Indes, auch wenn ich euch mit meinem Brief betrübt habe, bedauere ich es nicht. Auch wenn ich es bedauert habe – ich sehe ja, dass jener Brief euch betrübt hat, und sei es nur für eine kurze Zeit –, 9 so freue ich mich doch jetzt, nicht weil ihr betrübt wurdet, sondern weil die Betrübnis euch zur Umkehr geführt hat. Denn es war Gottes Wille, dass ihr betrübt wurdet, und so seid ihr durch uns zu keinerlei Schaden gekommen. 10 Denn die Betrübnis, die nach dem Willen Gottes ist, bewirkt eine Umkehr zum Heil, die niemand bereut. Die Betrübnis der Welt aber führt zum Tod. 11 Denn seht, ihr seid nach dem Willen Gottes betrübt worden: Wie viel Einsatz hat dies doch bei euch ausgelöst, ja Bereitschaft zur Entschuldigung, Entrüstung, Gottesfurcht, Sehnsucht, Eifer, Willen zu gerechter Bestrafung. In allem habt ihr euch in der Sache als schuldlos erwiesen. 2Kor 7

8 Naht euch Gott, und er wird sich euch nahen! Reinigt eure Hände, ihr Sünder, und läutert eure Herzen, ihr Zweifler! 9 Wehklagt nur und trauert und weint! Euer Lachen verwandle sich in Klage und eure Freude in Kummer! 10 Erniedrigt euch vor dem Herrn, und er wird euch erhöhen. Jak 4

8.7 Was Christus der Gemeinde verspricht
Der Gemeinde steht nicht nur Mahlgemeinschaft in Aussicht. Das war damals im Orient die alltägliche schöne Form der Verbundenheit und des Willkommens. (Der Ausdruck ist so allgemein und die Praxis so vertraut, dass man nicht notwendig ans Abendmahl denken muss.)

Sondern auch die Throngemeinschaft, die Christus mit dem Vater hat, teilt er mit seiner durch Buße geheilten Gemeinde. Eine außerordentlich hohe Verheißung für die außerordentlich stark geschädigte Gemeinde!
Den Thron einzunehmen – das könnte ein Hinweis darauf sein, dass die Gemeinde endlich fähig würde, ihren Dienst an der „Welt“ auszuüben: Dazu hatte Christus ja seine Jünger berufen, dass sie einstmals Gerechtigkeit in die Welt bringen sollten, von ihrem Throndienst ausgehend (Lk 22,30). Mehr noch aber liegt in dieser Verheißung eine Gnaden- und Liebeszusage:
„Ihr mit mir auf meinem Thron, so wie ich mit meinem Vater auf seinem Thron“ – Das heißt nichts Geringeres als dies: Christus öffnet die intime Liebesgemeinschaft zwischen seinem Vater und sich für seine Nachfolger! Eben so hat er es schon früher gebetet:

Und ich habe ihnen deinen Namen kundgetan und werde ihn kundtun, damit die Liebe, mit der du mich geliebt hast, in ihnen sei und ich in ihnen. Joh 17,26

Hat eine Gemeinde wie Laodizea eine solch kostbare und unerhört große Verheißung verdient? Verdient natürlich nicht – verdient hätten die Treuen das aber auch nicht. Aber einer lauen Laodizea-Gemeinde sollte hier deutlich werden, dass sie nichts zu verlieren hat, wenn sie sich der Wahrheit stellt. Christus demaskiert, Christus mutet die Demütigung zu (um der Wahrheit willen), aber nicht um kaputt zu machen. (Kaputt ist die Gemeinde sowieso schon total.) Sondern das Ziel der Buße ist die Rückkehr in die Liebe des Vaters.

Montag, 10. Mai 2010

Predigt: „Ich muss mich entscheiden – wo ist mein Kompass?“

Predigt über Kol 1,3-11
Liebe Gemeinde,
wir haben vorhin zum Muttertag die Mütter in den Mittelpunkt gestellt. Wer von uns nur ein bisschen nachdenkt, muss Hochachtung vor dem bekommen, was Mütter leisten. Zwar machen Mütter nicht die ganze Erziehungsarbeit allein – aber sie verbringen doch einen Großteil ihrer Zeit damit. Über den Lehrerberuf hat mal jemand gesagt: Als Lehrer musst du in jeder Minute eine Menge an Entscheidungen treffen. Man steht in der Klasse – und Minute für Minute dies entscheiden, so reagieren, jenes anstoßen. Ich denke, für Mütter gilt das genauso. Inmitten der Kinder müssen sie laufend entscheiden. Hingehen, wenn einer plärrt, oder selber zurechtkommen lassen? Jetzt eine Strafe androhen, wenn das Kind etwas nicht tut – oder lieber eine Belohnung, damit es das tut? Oder gar nichts von beiden? Und wenn es mit Freunden fröhlich lärmend von draußen kommt – soll ich erst schnell den Teppich aufrollen, damit er nicht schmutzig wird, oder den Schrank mit den Keksen überwachen oder die Kinder lieber sofort ins Bad zum Händewaschen umleiten? Oder wieder nichts von all dem und sie einfach herzlich umarmen, egal wie dreckig sie sind?

Mütter müssen Entscheidungen treffen – sie besonders. Viele andere von uns auch, im Beruf oder sonst wo. Manche Entscheidung ist schnell gefasst, und wenn sie falsch war, kommt das auch schnell wieder in Ordnung. Andere Entscheidungen haben längere Auswirkung und müssen gut überlegt sein. Wir Christen tragen manchmal schwer an großen Entschlüssen, weil wir Gottes Willen treffen möchten.
Die jungen Christen in den Gemeinden zur neutestamentlichen Zeit mussten sich ebenfalls im Alltag vielfältig entscheiden. Sie hatten zu Jesus gefunden. Was bedeutete das für ihre Ehen? Ihre Familien? Wie verhalten sie sich gegenüber ihren Sklaven? Wie gegenüber ihren Freunden, die zum griechischen Göttertempel gingen? Wie sollten sie mit ihren Vorgesetzten umgehen? Müsste man nicht die Armen in der Gemeinde unterstützen? Aber wenn – wie viel Geld sollte man abgeben? Und ergreift man als Christ in der politischen Volksversammlung eigentlich das Wort? Entscheidungen waren nötig – als Christ wurde das Leben wahrhaftig nicht leichter. Und uns, die wir 2000 Jahre später leben, geht es ja immer noch so. Persönliche Entscheidungen, gemeindliche Entscheidungen – das macht oft Mühe. Und muss es auch: Es geht ja um nichts Geringeres als um Gottes Willen!

Im Gebiet der heutigen Türkei, im Tal des Flusses Lykos lebte die kleine, junge Gemeinde von Kolossä. Die bekam von Paulus einen Brief. Gleich zu Anfang erinnerte Paulus daran, wie es denn angefangen hatte mit Christus in Kolossä. Und er erinnert an die Kräfte, an die positive Energie, die damals wirksam war und die jetzt noch weiterwirkt. Was Paulus als Briefbeginn schreibt, ist mehr als nur eine freundliche blumige Einleitung. Für Christen aller Zeiten sind vielmehr deutliche Kraftfelder benannt. Kraftfelder, Mgnetfelder, an denen sich unsere Kompassnadel ausrichten kann, so dass wir entscheidungsfähig werden. Es ist nicht eine einzelne Richtungsangabe, sondern ein ganzes Kraft-Feld. Es besteht aus einem Bündel von Kräften Gottes, und alle gemeinsam ziehen unsere Kompassnadel an. Hören wir auf Kol 1,3-11:

So beginnt Paulus seinen Brief an die junge Gemeinde. Er blickt zurück auf den Anfang – so war es – und blickt auch nach vorn – so wird es. Und das meiste, was er schreibt, nennt er zweimal, sowohl beim Rückblick als auch beim Ausblick. Für die Christen wird damit deutlich: So wie Gott es bei uns angefangen hat, so soll es auch weitergehen. Wir sollten nicht stehen bleiben, sondern Gott weiterhin sein Werk an uns tun lassen.
Als Christ zu leben war nicht leicht inmitten einer heidnischen Stadt und bei zunehmender Verwirrung auch innerhalb der Gemeinde. Aber hier in diesen Zeilen sind die Kraftfelder enthalten, die die Gemeinde braucht. Vier von ihnen möchte ich zeigen:

1. Das Gebet
„Jedes Mal, wenn wir für euch beten, danken wir Gott ...“ – „Deshalb hören wir auch seit dem Tag, an dem wir davon erfahren haben, nicht auf, für euch zu beten.“ Diese Gemeinde wird von Betern begleitet. Alles, was die Christen beachten müssen und was die Gemeinde zu tun hat, ist von einer Quelle gespeist: vom Gebet. Damit beginnt Paulus. Er verspricht sich also nichts vom Machen und er selber zeigt sich auch nicht als Macher. Sondern als Beter.
Dieses Kraftfeld ist in die Gemeinde von Beginn an eingepflanzt und eingewurzelt worden. Das lag an einem weiteren Beter. Paulus nennt den Namen dessen, der die Gemeinde gegründet hat: Epaphras. „Euer Lehrer in all diesen Dingen war Epaphras, unser geliebter Mitarbeiter und ein treuer Diener Christi, der sich mit ganzer Kraft für euch einsetzt.“ Der war der Gründungsvater der Gemeinde. Mittlerweile ist er nicht mehr dort. Paulus hat ihn in eine andere Arbeit gerufen. Aber Epaphras wirkt dennoch weiter auch in Kolossä. Wie das, wo er doch gar nicht mehr da ist? Als Beter. Paulus schreibt später in seinem Brief: „Epaphras lässt euch grüßen, der ebenfalls einer von euch ist. Dieser Diener von Jesus Christus tritt als ein unermüdlicher Kämpfer für euch ein, indem er darum betet, dass ihr euch als geistlich reife Menschen bewährt, deren ganzes Leben mit Gottes Willen übereinstimmt.“ (Kol 4,12) Epaphras betet, ausdauernd, er macht sich richtig Arbeit damit. Damals lehrte er die Gemeinde, jetzt betet er – der Lehrer ist ein Beter. Also wiederum kein Macher.

Heute ist der Sonntag „Rogate“ – „Betet!“. Paulus und sein Mitarbeiter Epaphras zeigen uns, wovon Gemeinde Jesu lebt: aus dem Gebet. Aus der Fürbitte. Auch die ganze Gemeinde soll sich einklinken in das Gebet: „Betet mit aller Ausdauer, voll Dankbarkeit gegenüber Gott und ohne in eurer Wachsamkeit nachzulassen.“ (Kol 4,2)
Wir sind als Marburger Gemeinde auf einem Weg, der uns natürlich auch immer neue Entscheidungen abverlangt: Was wollen wir fördern? Was wollen wir hintanstellen? Wir müssen uns darüber sehr klar sein, wie wir unsere Entscheidungen treffen. Woran wir uns ausrichten. Aus Gottes Wort hören wir heute: Unser Weg muss aus dem Beten entspringen. Nur betend erkämpfte und aus dem Gebet herausgewachsene Entscheidungen werden Bestand haben. Alles andere können wir gleich aussortieren.
Ich bin froh über alle Gelegenheiten in unserer Gemeinde, wo wir uns zum Beten treffen. Das ist eine Stärke! Der neue Gebetskreis hier alle 14 Tage Dienstagvormittags ist wichtig, er vermehrt das gemeinsame Beten. Das brauchen wir. Und danach brauchen wir die Verbindung: vom Gebet hinüber zu unseren Entscheidungen und Beschlüssen. Das ist ein Kraftfeld, an dem unsere Kompassnadel sich ausrichtet.

2. Die Strömungskraft des Evangeliums
Das ist das nächste Kraftfeld: Die Strömungskraft des Evangeliums. Das Evangelium ist wie ein Fluss. Er hat die Stadt Kolossä einmal erreicht. Er hat einige Menschen mitgenommen. Sie haben sich dieser Strömung ausgesetzt. Und nun? Nun strömt die Botschaft von Jesus weiter und bahnt sich ihr Bett, auch weiterhin in der Gemeinde. Von daher ist es nicht schwer, den Weg zu finden: einfach der Strömungskraft des Evangeliums folgen.

In den Zeilen von Paulus ist es sehr auffällig, dass er wiederum nicht von sich schreibt, wie von Machern: ‚Als wir zu euch kamen, haben wir euch Christus gebracht, und nun sollt ihr auch weitergehen und darauf achten, dass ihr Christus überallhin mitnehmt.‘ Nein, so nicht – als ob Paulus und dann die Gemeinde diejenigen wären, die alles anbahnen und durchziehen. Paulus schreibt vielmehr so: „Die Botschaft der Wahrheit, das Evangelium, ist zu euch gekommen.“ Wie wenn es eine Person wäre, ein Besucher. Das Evangelium selber kam. Paulus – er kam mit und bezeugte es. Aber das Evangelium war die Kraft, die aus sich strömte. Und dann? „Genauso, wie dieses Evangelium überall in der Welt Früchte trägt und sich immer weiter ausbreitet, genauso tut es das auch bei euch.“ Das Evangelium bahnt sich also weiterhin innerhalb der Gemeinde sein Flussbett. Und die Christen? Am besten, sie gehen mit, folgen dem Strom. Noch einmal: Nicht sie müssen sich im Gewirr der vielen Möglichkeiten ihren Weg bahnen, sondern der Weg ist bereits gebahnt: von der Botschaft über Jesus.

Der müssen wir folgen. Dem Evangelium, das voran geht, folgen wir. Was aber ist das – das Evangelium? Die Kolosser damals hatten es gehört. Wir heute lesen es. Die Berichte von Jesus Christus und von seinen Boten, das Leben Jesu und sein Tod und seine Auferweckung und was das dann alles bedeutet – das lesen wir heute. In der Bibel. Wenn wir dem Evangelium folgen, müssen wir es lesen, immer wieder. Und zwar natürlich nicht nur die vier Evangelien, sondern Gottes Botschaft in dem ganzen Buch. Wenn wir wissen wollen, wonach wir uns richten sollen, dann müssen wir vorher lesen. Und dann verstehen. Das erfordert manche Mühe. Aber ohne diese Mühe werden unsere Entscheidungen zu reinen Gefühlssachen – und das tut uns oft nicht gut. Geben wir uns doch Mühe beim Lesen von Gottes Wort – ohne diese Mühe würden unsere Gemeinden zerfallen. Eine erschreckende Aussicht – Gemeinde zerfallen! Aber diese Prognose sage nicht ich, sondern der Begründer des deutschen Baptismus, Johann Gerhard Oncken, hat es gesagt:

Wir haben nur eine Waffe, das ist das gute alte Buch, und eine andere Waffe hat in unseren Augen gar keinen Wert. Das Wort des lebendigen Gottes, das ist der Grund, auf dem wir stehen und stehen wollen. Sollen unsere Gemeinden vernichtet werden, so kann es nur durch ein Mittel geschehen: Die Bibel müsste auf unseren Märkten verbrannt werden.

Bibeln verbrennen – das vernichtet unsere Gemeinde. Kein Mensch hierzulande würde öffentlich unsere Bibeln verbrennen. Aber wenn wir sie zugeklappt lassen und nicht zu Rate ziehen, dann kommt es auf’s Gleiche hinaus. Wie also finden wir zu Entscheidungen? Bibeln aufklappen, lesen, zu verstehen suchen. Entehren wir doch Gottes Wort nicht durch Denkfaulheit!
Wir richten uns nach der Bibel, wir folgen ihrer Botschaft, dem Evangelium – warum noch mal? Wie war das? Weil das Evangelium eine Strömungskraft hat und sich seinen Weg unter uns bahnt. Es strömt sowieso. Wir können uns mitnehmen lassen oder aber den Strom hindurchziehen lassen. Das Evangelium strömt. „Genauso, wie dieses Evangelium überall in der Welt Früchte trägt und sich immer weiter ausbreitet, genauso tut es das auch bei euch.“

3. Tun, was dem Herrn gefällt!
Das nächste Magnetfeld, um unsere Kompassnadel auszurichten: Ihr sollt „seinen Willen in vollem Umfang erkennen. Dann könnt ihr ein Leben führen, durch das der Herr geehrt wird und das ihm in jeder Hinsicht gefällt.“ Was also macht Gott Ehre? Was gefällt ihm? Was macht ihm Freude? Alles, was Gott nicht gefällt, können wir gleich schon aussortieren.
Diese Leitfrage: Was passt zu Gott? – ist heute in unserer Kultur ziemlich fremdartig. Unsere Kultur des 21. Jahrhunderst legt allen Wert auf eine andere Frage, nämlich: „Was passt zu mir?“ In unserer Gesellschaft ist jeder fast im Zugzwang, sein eigenes Leben zu vermarkten. Du brauchst eine originelle E-mail-Adresse, einen Klingelton, den möglichst kein anderer hat, eine Homepage sowieso, du wählst dir deinen Stil aus unzähligen Möglichkeiten aus – der moderne Mensch von heute ist ständig dabei, ein Profil anzulegen und zu pflegen. Das Leben – eine Castingshow.
Wir als fromme Christen sind da meist einige Jahre hinterher hinter solchen Trends ... aber entscheiden wir unsere Angelegenheiten wirklich so anders? Was passt zu mir? – Das ist wohl doch eine heimliche Leitfrage. Manchmal auch: Wer passt zu uns? Es muss uns schon gefallen, was jemand vorschlägt, und wenn gar nichts hilft, dann heißt es eben schlicht: Das wollen wir nicht!

Gottes Wort schiebt all diese Fragen beiseite und stellt eine andere Frage in den Raum: Wie hätte Gott es eigentlich gern? Was erfreut ihn? Was gefällt ihm? Wenn wir mit allem Nachdruck diese Frage ergründen, dann ist für Geschmacksfragen eigentlich keine Zeit mehr.
Was macht Gott Ehre? Was ist seiner würdig? Was entspricht seinem Wesen? Nun, darüber kann man verschiedener Meinung sein. Aber wenn wir Paulus ein wenig weiter lesen im Kolosserbrief, dann stoßen wir auf eine genauere Beschreibung: „Der Sohn ist das Ebenbild des unsichtbaren Gottes.“ (Kol 1,15) Jesus ist Gottes Ebenbild. Wen wir also unsicher sind, was Gott den Ehre macht, was ihm gefallen würde – dann lasst uns doch möglichst so verhalten, wie Jesus war. Dann sind wir ganz nah an Gottes Herzen.

Ich wiederhole mich an dieser Stelle gern und sage noch einmal, was ich früher schon mal gepredigt habe: Unsere Bestimmung ist es, jesusförmig zu sein. Jesusförmige Männer, jesusförmige Frauen in einer jesusförmigen Gemeinde. Das gefällt Gott. Wenn wir also Entschlüsse fassen müssen, dann lassen wir es doch so kommen, dass es jesusförmige Entschlüsse sind. Eben so werden wir „seinen Willen in vollem Umfang erkennen. Dann können wir ein Leben führen, durch das der Herr geehrt wird und das ihm in jeder Hinsicht gefällt.“
Und ein letztes Kraftfeld für unsere Kompassnadel:

4. Wachstumskurs
Der Wachstumskurs ist uns vorgezeichnet. Jede Entscheidung ist richtig die das Wachstum fördert. Hören wir wieder auf Paulus: Er betet, dass „ihr imstande seid, stets das zu tun, was gut und richtig ist, sodass euer Leben Früchte tragen wird, und ihr immer weiter wachst, indem ihr Gott erkennt.“ Früchte tragen – immer weiter wachsen. Das ist uns aufgegeben.

Ich habe gerade einiges gelesen über das Leben eines früheren deutschen Politikers: Hermann Ehlers, 1954 verstorben. Er war zuletzt hochgeachteter Präsident des Deutschen Bundestages gewesen. Er kam aus einer ganz lebendigen Bibelkreisbewegung und lebte sein Christsein privat und öffentlich, in Kirche und Politik. Er war bekannt für seine geschliffenen Reden, manchmal auch für seine scharfe Zunge. Zuweilen hatte er ein aufbrausendes Wesen. Aber – so sagt es ein Wegbegleiter – er lebte in einem ständigen Prozess der bewussten Selbsterziehung. Theodor Heuss hat das gesagt. Diese Formulierung hat mich beeindruckt: ständiger Prozess der bewussten Selbsterziehung. Ein Mann des öffentlichen Lebens, der bei sich selber anfängt! Solche Politiker brauchten wir auch heute mehr. Ich meine, das ist ein gutes Beispiel für den Wachstumskurs, den Paulus für die Kolosser erbittet: „dass euer Leben Früchte tragen wird, und ihr immer weiter wachst, indem ihr Gott erkennt.“ Hermann Ehlers musste sich dann manches Mal entschuldigen oder etwas in Ordnung bringen. Aber das spricht nicht gegen, sondern für seinen starken Charakter. Ständige bewusste Selbsterziehung – daran sehen wir auch den Preis des Wachstums: nämlich die Veränderung. Wer sich nicht verändert, wächst auch nicht. Der Kirschbaum, der im Frühjahr so bleiben will, wie er ist, der wird im Sommer keine Früchte tragen. Veränderungsbereit sein – dann kann etwas wachsen.

Hm – „ständige Selbsterziehung“ ... eine einzige Sache stört mich daran: die Betonung des Selbst. Als ob es allein mit Konsequenz und Disziplin getan wäre. Die biblische Rede von der Frucht klingt anders. Die Kirschen wachsen nicht deshalb, weil der Baum sich anstrengt. Ich ändere mich nicht allein deshalb, weil ich es mir vorgenommen habe. Sondern der Heilige Geist schafft tiefe Veränderung. Wachstum und Früchte kommen von Gott. Exakt so sagt Paulus es den Kolossern: „Wie dieses Evangelium überall in der Welt Früchte trägt, genauso tut es das auch bei euch.“ Also das Evangelium trägt Früchte. Paulus richtet kein Gesetz auf, und sei es ein Wachstumsgesetz. Nein. Aber Paulus kennt Gottes Absicht und die Kraft des Evangeliums. Unsere Aufgabe ist nur: uns an Gott dranzuhängen, wenn der wirkt. Es zulassen und es begrüßen, dass Gott uns wachsen lässt. Und die Früchte dann hegen. Aber die Quelle ist bei Gott. Paulus sagt uns eine gute Nachricht: Hängt euch einfach an Gott dran, wenn der etwas aufkommen lässt. Und damit sind wir schon fast wieder bei der Strömungskraft des Evangeliums. Das wirkende Wort von Jesus ist auf Wachstum aus. Wachstumskurs – das ist ein weiterer Teil des Magnetfeldes, das unsere Kompassnadel anzieht.

Liebe Gemeinde, wir sind vorhin gestartet mit der Frage nach unseren Entscheidungen. Jeder von uns muss sie treffen. Mütter manchmal im Minutentakt. Die Christen in Kolossä mussten ihr neues Verhalten als Jesusleute bestimmen. Jeder von uns hat im persönlichen Leben Entschlüsse zu fassen – und wir als Gemeinde auch immer wieder. Aus dem Kolosserbrief haben wir vier Felder kennen gelernt, die uns Orientierung geben. Ich wiederhole sie noch einmal:

1. Das Gebet – betende Menschen können gute Entscheidungen treffen.
2. Die Strömungskraft des Evangeliums: Wohin nimmt dich Gottes Wort mit?
3. Was Gott gefällt und ihm Freude macht. Entscheidend ist nicht, was zu uns passt, sondern was zu ihm passt – was jesusförmig ist.
Und 4.: Wachstumskurs. Gott legt gute Früchte in uns an. Wenn wir Gottes Wachstum fördern, liegen wir schon mal richtig.

Der erste Punkt war das Gebet. Heute ist der Sonntag Rogate – Betet! Lasst uns deshalb ein Gebetslied singen und danach das tun – beten.

Bibelstudie "Bestandsaufnahme" 7: Philadelphia

7 Der Brief an die Gemeinde Philadelphia (3,7-13)
Für diesen Brief in diese Stadt ist es besonders aufschlussreich, die historischen Gegebenheiten zu kennen, denn sie spiegeln sich vielfach im Brief wider.
Zur geografischen Lage: Die Stadt war erst vor kürzerer Zeit (wohl bewusst) am Grenzpunkt dreier Länder angelegt worden: an der Nahtstelle zu Mysien, Lydien und Phrygien. Sie lag am oberen Ende eines langen Talzuges, der ca. 50 km lang bis zum Mittelmeer führte. Wichtige Handelsstraßen kreuzten sich hier. Die wichtigste Orientierung aber bestand in der „Öffnung“ zum unkultivierten Land Phrygien: Die Stadt solle quasi missionarisch die griechische Sprache und Kultur in dieses Land hineinbringen. Sie galt daher als „Tor zum Osten“.
Landschaftlich war die Stadt außerordentlich begünstigt dadurch, dass sie in fruchtbarem Vulkanbodengebiet lag – Weinbau hatte optimale Bedingungen. Heiße Quellen dort zogen Genesungssuchende an. Ein großes Problem aber beeinträchtigte die Stadt: Sie wurde als eine von 12 Städten 17 n. Chr durch ein Erdbeben zerstört, wie auch Sardes. Wie Sardes wurde Philadelphia zwar mit großer Finanzhilfe des Kaisers wieder aufgebaut, aber fortan war die Stadt erdbebengefährdet. Daher siedelten viele Bewohner aufs Land über und die verbliebenen Stadtbewohner waren stets auf der Hut und zur raschen Flucht bereit.
Der Name „Philadelphia“, „Bruderliebe“ stammte aus der Gründungsgeschichte der Stadt. König Eumenes hatte sie zu Ehren seines Bruders Attalos so genannt – diese Bruder Attalos hatte sich mehrfach als äußerst zuverlässig, loyal und treu gegenüber Eumenes gezeigt. So hatten römische Herrscher den Attalos ermutigt, seinen Bruder auszubooten und an seiner Stelle König zu werden – was Attalos nicht tat. Die Tugend der Treue also gehört zur Gründungs-Legende der Stadt.
Zu erwähnen ist noch die Sitte, dass die Stadt verdiente Bürger dadurch ehrte, dass ihnen eine Tempelsäule gewidmet wurde. Auf der stand der Name des Geehrten.

7.1 Wer redet zur Gemeinde – wie zeigt sich Christus?
Der erhöhte Christus wird hier mit den denkbar höchsten biblischen Würdetiteln bezeichnet: der Heilige, der Wahre. Im Jesajabuch sind das Beinamen Gottes selbst – hier trägt Christus sie.
Außerdem ist Christus der Träger des „Schlüssels Davids“. Diese Bezeichnung leitet sich aus Jes 22,20-23 ab (hier nachzulesen).

Dieser Eljakim wurde an Stelle des untreuen Schebna eingesetzt. Nun ist er der einzige, der noch auf- und zuschließen kann – als priesterlicher „Haus“-Verwalter. Schon das Judentum deutete diese Stelle messianisch – hier wird sie nun auf Christus bezogen.

All diese Facetten der Selbstvorstellung Christi ergeben in der Gemeindesituation einen tröstlichen Sinn. Die Gemeinde war bedrängt von einer Judenschaft mit ihren „Absperrversuchen“ (Pohl) – dass Christen in Gottes Gunst stünden, wurde von ihnen bestritten. Christen, die aus dem Judentum stammten, mussten den Synagogenausschluss hinnehmen. Hier sagt Christus nun: Er sei gewürdigt, die atl. Gottesbezeichnungen zu tragen; er sei der Messias; er sei bevollmächtigt, der Gemeinde Gottes Reich aufzuschließen. Die Bestreitungen der Judenschaft sind damit widerlegt. Wenn Christen auch aus der Synagoge ausgeschlossen werden, so ist ihnen der Zugang zu Gott doch aufgeschlossen.

Dieser Brief gilt also einer Gemeinde, die zu gering von sich denken könnte: als ob mit ihr nichts los wäre. Der erhöhte Herr zeigt dagegen, dass diese Sicht falsch ist!

7.2 Der Zustand der Gemeinde
Christus hat dieser Gemeinde nicht das Geringste vorzuwerfen! Die „Werke“ der Gemeinde, also ihre Gesamthaltung, sind Christus bekannt:
· Geringe Kraft – d.h. wohl wenig Einfluss und Durchsetzungsvermögen
· Festhalten an Jesu Wort
· Treues Bekenntnis zum Namen Jesu
· Standhaftigkeit gemäß Jesu Wort (V. 10)

Aus anderen Städten wissen wir, wie groß die Versuchung war, dem Jesus-Bekenntnis untreu zu werden. In der Stadt Philadelphia war zumindest der Dionysoskult prägend. Diese Gemeinde aber hat der Versuchung widerstanden. Die im Städtenamen aufbewahrte Brudertreue und Loyalität wird gerade von der kleinen Christenschar in dieser Stadt lebendig praktiziert.

Was würde es für uns bedeuten, an Jesu Wort festzuhalten? Auf welchen Aspekt müssen wir besonders achten?
>> unverfälschte Lehre?
>> mutiges öffentliches Bekenntnis?
>> tatkräftiger Gehorsam?

7.3 Christi Werk an dieser Gemeinde
Beim Lesen dieses Briefes fällt auf, wie konzentriert von den Aktionen Christi die Rede ist – und wie wenig vom Handeln der Gemeinde.
· Ich kenne
· Ich habe gegeben
· Ich gebe (V. 9 wörtl.)
· Ich werde machen (dass sie ...)
· Ich, ja ich habe geliebt
· Ich werde bewahren
· Ich komme
· Ich werde machen (V. 12)
· Ich werde schreiben
Zwei dieser Aktivitäten sind in der Vergangenheit geschehen, die anderen kommen in der Zukunft.

7.3.1 Was Christus tat
Eine offene Tür gegeben – dafür gibt es zwei Verstehensmöglichkeiten:

a) Ganz häufig im NT ist damit eine offene Gelegenheit Gemeinde, das Evangelium auszurichten. (Apg 14,27; 1Kor 16,9; 2Kor 2,12, Kol 4,3). Wenn Christus das meint, dann würde die Gemeinde darin auch die Geschichte ihrer Stadt wiedererkennen: Als „Tor zum Osten“ „Missionar“ sein für griechische Lebensart – und die Gemeinde eben auch für das Evangelium. Das würde einen guten Sinn ergeben.

b) Prägend ist aber auch noch die Selbstbezeichnung Christi als dem Träger des Schlüssels. Christus schließt auf, wo andere der Gemeinde die Tür zusperren wollen. Dann hieße „offene Tür“: vollen Zugang zum Heil zu Gottes Reich. – Diese Deutung würde sich noch enger an den Text des Briefes halten.

Außerdem hat – nach V. 9 – Christus der Gemeinde seine Liebe zugewandt. Das könnte die erste Erkenntnis Christi meinen, etwa bei der Entstehung der Gemeinde. Es wäre dann so etwas wie die „erste Liebe“ (vgl. 2,4). Oder der Satz ist aus der Rückschau formuliert: Die jetzt feindlichen Juden werden erkennen, dass Christus die Gemeinde geliebt hat – in der jetzigen Gegenwart, während die Juden dies noch bestreiten.

7.3.2 Was Christus tun wird
Die Aussichten sind umfassend günstig:

a) Christus wird Menschen „geben“ – und zwar die gegnerischen Juden. Er wird „machen“, dass sie demütig anerkennen, wie geliebt die Gemeinde von Christus ist. In den Ausdrücken „geben“ und „machen“ ist festgehalten, dass die Gegner, die jetzt alle Möglichkeiten haben, in Wahrheit ganz Christi Zugriff ausgeliefert sind. Er hat das Heft des Handelns in der Hand.
Die Gegner sind hier bedeutsam benannt: Sie halten sich für echte Juden, sind es aber nicht. Für schriftkundige Juden ist das Versprechen Christi an seine Gemeinde besonders brisant: Eigentlich ist in der Heiligen Schrift verheißen, dass in der Zeit der Vollendung die Heiden zu Israel kommen werden (Jes 60). Israel wird der Zielpunkt der Geschichte sein. Diese Verheißung Gottes bleibt gültig – man wird die Erfüllung erleben! Bloß für die Gegner der Gemeinde Philadelphia gilt erschreckenderweise das Gegenteil: Sie werden zu den Christen kommen und sie anerkennen! Ihr Anspruch gegenüber der Gemeinde wird widerlegt werden. Freilich ist Christus der einzige, der die Schrift so souverän umdeuten kann!

Die Gegner der Gemeinde werden Lügner genannt. Zwar könnte man auf die Idee kommen, Jesus halte sie für Menschen des Teufels („Synagoge Satans“). Das sind sie aber nicht allein deshalb, weil sie Juden wären. Sie sind nicht komplett verworfen nur aufgrund ihres Judentums. Sondern deshalb, weil sie sich ihrer echten Bestimmung als Juden, als Volk Gottes, entzogen haben. Wahrhaftige Juden wären keineswegs „Synagoge Satans“. Außerdem zeigt die angekündigte Umkehr der Juden, dass Juden in Christus Sicht eben dies können: umkehren. Also keine Rede von einer Verwerfung ganz Israels! „Die Glieder der Synagoge sind nicht abgeschrieben, so wenig Petrus abgeschrieben war, als der Herr zu ihm sagte: „Gehe hinter mich, Satan!“ (Mt 16,23).“ (Pohl) (Vgl. Näheres zu Smyrna, Abschn. 3.2.2!)

Weshalb werden diese Juden umkehren?
Die Gemeinde Jesu wird anerkannt werden – aufgrund welcher Qualifikation?

Hier nicht wegen ihrer Treue. Sondern aufgrund dessen, was Christus an ihr tut – er liebt sie, er (so wird es stark betont).

Wer unsere Gemeinde als Gast oder neugieriger Beobachter besucht:
>> Wie kann er merken, dass wir von Christus geliebt sind?
>> Woran ist es erkennbar?
>> Wie sieht es konkret aus, dass wir uns in Christi Liebe aufhalten und bewegen?
>> Wo merkt man unser Empfangen, nicht nur unser Tun?

b) Christus wird die Gemeinde „aus“ der Stunde der Versuchung bewahren. Zwar meinen einige Ausleger, diese Gemeinde (nur speziell Philadelphia) würde gar nicht erst in die endzeitliche Versuchung gelangen – sie „hat ihre Feuerprobe bereits bestanden und bedarf keiner weiteren mehr“ (U.B. Müller nach Bousset). Aber sprachlich meint das „aus der Versuchung“, dass sie eben vorher „drin“ war. Anders klingt es auch nicht mit Joh 17,15 zusammen. Die große Versuchung trifft zwar „alle Bewohner der Erde“, aber für die Nichtchristen unter ihnen wäre die Bedrängnis ja kaum eine Versuchung – sie folgen Christus ja sowieso schon nicht. Demnach ist auch die Mehrzahl der Christen von dieser endzeitlichen Versuchung betroffen (U.B. Müller nach Bousset).
Versuchungen haben die Gemeinde auch bisher schon zu bestehen gehabt: Kompromisse mit dem Götzenkult, Beteiligung an Prostitution, Flucht vor dem Leiden. Das Buch der Offenbarung kündet noch schärfere, endgültige Versuchungen an. Christus wird die dort hindurchretten, die sich jetzt schon treu zu ihm bekennen.

c) Wer treu bleibt, wird zu einer Säule im Tempel gemacht – Tempel hier als Bildwort für die vollendete Anbetungsherrlichkeit. Das könnte eine stabile, tragende Säule sein, so wie es in Jes 22,23 anklingt. (Allerdings ist dieser feste Pflock, Eljakim, auf lange Sicht doch nicht so stabil: Jes 22,24+25). Oder – so Pohl – es ist eine freistehende Säule als „Zeuge“ gemeint, in Zeichenfunktion. Das könnte mit den Gedenk-Säulen in den heidnischen Tempeln Philadelphias zusammenhängen.
Wichtig ist: Wer einmal so im Tempel Gottes steht, wird dort bleiben dürfen und nicht fliehen müssen. Diese Flucht war das Lebensgefühl der erdbebenbedrohten Philadelphier. In der Vollendung wird das Schnee von gestern sein: „Ich werde bleiben im Hause des Herrn immerdar.“

d) Ein neuer Name wird verliehen (ähnlich wie in Pergamon, 2,17). Den Glaubenden steht es für alle eindeutig „ins Gesicht geschrieben“, dass sie zu Gott gehören (was die Judenschaft nicht anerkennen konnte). Der Gottes-Charakter dieser „Beschriftung“ wird dreifach genannt:
· Der Name des Gottes Christi
· Der Name von Jerusalem, der Stadt des Gottes Christi
· Der neue Name Jesu selbst
Obwohl hier Vater und Sohn anklingen, ist das neue Jerusalem kaum – trinitarisch – auf den Heiligen Geist bezogen. Eher könnte man die Dreiheit dessen erkennen, „der da war (Gott) und der da ist (Christus) und der da kommt (die neue Stadt)“ (1,4).

Im Rückblick zeigt dieser Brief, wie Christus die bedrängte Situation einer Gemeinde ganz in ihr Gegenteil verkehren kann – was andere als Makel, als Schwäche sehen, ist vor Gott sehr anerkannt und gewürdigt. Die Gemeinde lebt vom Handeln Christi, und wo sie sich treu darauf verlässt, ist der Appell zu eigener Aktivität kaum hörbar. (Wenn sie sich nicht darauf verlassen hätte, wäre sie zu energischer und entschlossener Umkehr gerufen worden. Es wäre aber die Umkehr nicht zu einem Gehorsamsleistung gewesen, sondern eine Umkehr zu Christi Handeln. Das ist das Evangelium dieses Briefes.)