Mittwoch, 27. Januar 2010

Bibelstudie "Bestandsaufnahme" 1

Bestandsaufnahme: Christus sieht nach seinen Gemeinden
Unter diesem Titel folgt in den nächsten Wochen eine Serie von Bibelgesprächen über die sieben Gemeindebriefe aus Offenbarung 2 und 3.
Gesprächsfragen für eine Gruppe sind grün makriert.

1 Der Herr ergreift das Wort
Text: Offb 1,9-20
Der Prophet Johannes ist an einem einsamen Ort und wird dort vom Heiligen Geist ergriffen. Er begegnet dem Reden Gottes und bekommt danach Botschaften für sieben einzelne Ortsgemeinden in Kleinasien. Diese Botschaften sind eine Bestandsaufnahme der Gemeinde Jesu durch ihren Herrn Jesus. Bevor wir diese einzelnen Botschaften betrachten, machen wir uns klar, wer der ist, der diese Botschaften sagt.
Johannes hört und sieht etwas von Gott. „Etwas von Gott“: Es ist noch nicht sofort klar, wer genau ihm begegnet. Das Bild enthüllt sich erst nach und nach. Erst gegen Ende hin wird der göttliche Sprecher erkennbar.
Die Beschreibung dessen, der Johannes begegnet, ist getränkt von alttestamentlichen Ausdrücken. Aber die Formulierungen werden nicht einfach wiederholt, sondern formen sich zu einem neuen Ganzen.
Die Gestalt, die der Prophet sieht, gleicht zunächst einem Menschen, „einem Menschensohn“ (V. 13). Das ist oft eine Ehrenbezeichnung für Christus. Es kann aber auch – und so ist es hier – einfach bedeuten: wie ein gewöhnlicher Mensch.
Sehen wir uns nacheinander einzelne Züge des prophetischen Vision an:

1.1 Der mitten zwischen den Leuchtern ist
Bevor wir erfahren, wie er aussieht, sehen wir seinen Ort: Der Sprechende ist mitten zwischen den sieben Leuchtern. (V. 12f.). Diese Leuchter sind ein himmlisches Symbol für die Gemeinden (V. 20). Der Herr hat also seinen Ort gewählt mitten in den Gemeinden. Er stellt sich buchstäblich zu ihnen (vgl. auch 2,1). Diese Gemeinden waren damals gefährdet, verfolgt, den Regierungsmächten ausgeliefert und vom Judentum an die Seite gedrängt. Man hätte fürchten können, die Gemeinde Jesu wären nur eine vorübergehende Randerscheinung. Der Herr aber zeigt das ganze Gegenteil: Er macht sie zum Mittelpunkt und hält sich in ihrer Mitte auf.
Auch die Christen selbst hatten Anlass zur Furcht wegen des Drucks. „Sollten sie ihren Anspruch nicht doch zurücknehmen und so ihren Frieden mit Juden und Heiden machen? Gegenüber einer solchen Flucht stellt die Offenbarung grundsätzlich fest: Ihr seid der goldene Leuchter, ihr seid das messianische Volk, ihr seid erwählt, erlöst und zu Priestern Gottes in der Welt gemacht (1,5-6)!“ (A. Pohl).

1.2 Der gegenwärtige Richter
Wenn der Herr beschrieben wird (V. 13-15), blenden sich Bilder aus dem Danielbuch ein (Kap 7 und 10). Die Beschreibungen zeigen Merkmale des Hohenpriesters und des Richters. Die Betonung liegt dabei auf dem Richter. Das zeigen z. B. die weißen Haare. Bei Daniel ist so Gott auf dem Richterthron beschrieben. Besonders auch das scharfe Schwert, das aus seinem Mund kommt, ist Zeichen für das Richterurteil.
Wir müssen nun aber sehen, was für ein Richter es ist – wann er im Laufe der Weltgeschichte sein Amt ergreift. Hier, zu Beginn des Offenbarungsbuches, ist es nicht der endzeitliche Richter der ganzen Welt. Sondern der gegenwärtige Richter seiner Gemeinden! Denen steht er gegenüber. Der Lauf der Welt ist noch längst nicht am Ende. Das Böse in der Welt hat noch großen und bedrohlichen Raum. Das Schwert des Herrn richtet sich noch nicht gegen alles Böse. Wohl aber gegen das Böse in der Gemeinde Jesu. „Das Gericht fängt an am Hause Gottes.“
Es ist schwer zu fassen: Christen sind ja durch Jesus freigekauft. Die Verurteilung ist aufgehoben und nichts kann sie mehr verklagen (siehe Römer 8). Auch muss keiner fürchten, Gott würde eine Strafe verhängen, nachdem Gott ja bereits die allerhärteste Strafe vollstreckt hat: an seinem Sohn am Kreuz, der alle Strafe auf sich gezogen hat.

Und dann soll die Gemeinde Jesu doch wieder vor einem Richter stehen? Wie passt das zusammen?

Blicken wir zurück zum irdischen Jesus. Auch er hat nicht nur begnadigt, sondern gelegentlich ein Richterurteil gefällt: z. B. gegen die Menschen in Judäa (Lk 13,5) oder im Gleichnis gegen den hochmütigen Pharisäer (Lk 18,14). Er hat von der Sünde gegen den Heiligen Geist gesprochen und einzelnen Städten aus Galiläa Gericht angedroht (Mt 11,20-24). Das waren aber nie endgültige Urteile, sondern „Wenn-Urteile“: Wenn jemand so weitermacht, dann wird ihn das Urteil treffen. (Das „Wehe“ über die galiläischen Städte ist keine Festlegung, sondern eine warnende Drohung.)
Ebenso ist es gegenüber den Gemeinde in Offb 2+3: Nie wird gesagt, dass eine Strafe unausweichlich ist. Sondern wenn man nicht umkehrt, dann trifft das Urteil zu. Der gegenwärtige Richter verhängt gegen seine Gemeinden kein Strafgericht, sondern ein Buß-Urteil, ein Warn-Urteil.

Wie könnte eine heutige Gemeinde den richtenden Christus erfahren? Wie könnte er sich ihr heute zeigen? An welchen Beobachtungen (im Gemeindeleben; in der Verkündigung; in äußeren Umständen vielleicht?) könnte sie ihn erkennen?

1.3 Der die Sterne in seiner Hand hält
Der Herr hält sieben Sterne in seiner Hand (V. 16). Was löste dieses Bild in den Menschen damals aus?
Damals erkannte man am Himmel gerne gerade sieben Sterne: Das Siebengestirn, also das Sternzeichen des kleinen oder großen Bären; oder man sah Sonne, Mond und fünf Sterne zusammen.
Auf Münzen wurde nun damals auch der römische Kaiser abgebildet, wie er seine Hand unter die sieben Sterne hält: der Kaiser als Herrscher der Welt. Auch der persische Gott Mithras wurde so abgebildet: mit dem Bärengestirn in der rechten Hand.
Die Vision von Johannes zeigt eine sehr selbstbewusste Gegen-Demonstration: Der Herrscher der Welt ist in Wahrheit unser himmlischer Herr! Denken wir wieder an die angstmachende Bedrohungslage der Gemeinden. Das römische Reich hatte seine Verwaltungen und Beamte überall, besonders auch in den Städten, an die dann die sieben Briefe gehen. Aber das ganze römische Reich und die Welt darüber hinaus ist in der Hand des Herrn!
Das bedeutet nicht einfach nur Geborgenheit. Es ist ja der Richter, der diese Sterne hält. Aber damit ist eben auch der unter dem Gericht, der die Gemeinde Jesu bedroht! Im Bild des Sterne-Halters wird letztlich ein Machtkampf angezeigt. Das Bild sagt nicht: Die Macht des römischen Reiches ist gar nicht so schlimm. Sondern: Sie ist groß, aber angemaßt, denn Herr ist Jesus. Auch hier gilt: Zwischen den kämpfenden Mächten lebt es sich nicht gemütlich-geborgen. Aber die Glaubenden sind hinübergezogen zur mächtigeren Seite.

Im Folgenden wird nun „der Herr“ für den Propheten näher erkennbar: Es ist der, der tot war und auferweckt wurde (V. 18). Nun erst, an dieser Stelle, kann Johannes sicher sein: Jesus Christus ist es, der mit mir spricht. Die Schlussfolgerung daraus ist wiederum tröstlich: Der aus dem Tod auferweckt wurde, hat den Schlüssel zum Totenreich; er kann zu- und aufschließen! Alle macht ist in seiner Hand.

1.4 Leuchter und Sterne – himmlisches und irdisches Bild der Gemeinde
Am Ende der Vision steht ein Doppelbild: Leuchter und Sterne (V. 20).
Das Bild der Leuchter ist recht klar: Jeder Leuchter steht für eine der sieben konkreten Gemeinden. Sie sind ja der Ort, an dem der Herr ist.

Die Sterne sind etwas schwerer zu deuten. Zunächst werden sie mit den jeweiligen „Engeln“ der Gemeinde gleichgesetzt. Wer sind die Engel der Gemeinden? Jeder der sieben Briefe in Kap. 2 und 3 geht ja an den „Engel“ der Gemeinde. Jeder der Briefe zeigt ganz klar: Angeredet ist die ganze Gemeinde. Und zwar die irdische Ortsgemeinde.

Zwar hat man vermutet, „Engel“ könnte einfach „Bote“ bedeuten. Also der Verkündiger der Gemeinde wäre angesprochen. Aber das kann nicht zutreffen weil eben jeweils immer die ganze Gemeinde gelobt oder getadelt wird und zur Umkehr aufgerufen wird. Der einzelne aus der Gemeinde soll jeweils hören, was der Geist „den Gemeinden“ sagt, nicht dem Gemeindeleiter (2,7 und öfter). Die „Du“-Anrede der sieben Briefe zielt sachlich auf das „ihr“ der Gemeinde. So sieht man es z. B. in 3,10 („was du erleiden musst ... –> [nämlich:] –> von euch werden welche ins Gefängnis kommen) oder in 2,5 (wenn du nicht umkehrst, wird der Leuchter [= die irdische Ortsgemeinde] umgestoßen werden). Es ist ja nicht der „Leuchter des Gemeindeleiters“, der zu Fall kommt. Die Auslegung „Engel = Bote = Gemeindeleiter“ muss also ausscheiden. Dies um so mehr, als im Sprachgebrauch der Offenbarung „Engel“ sonst niemals ein menschliches Wesen meint.
Gewichtig ist auch folgende Tatsache: die Gemeinden und die Gemeindelehre des Neuen Testaments kennt vielerlei Amtsträger wie Älteste, Aufseher, Diakone. Niemals aber ist im NT ein einzelner der Gemeinde gegenübergestellt oder vorangestellt. Immer ist es eine kleine Gruppe von Ältesten, Diakonen, Aufsehern. Auch von daher ist es biblisch-theologisch nicht haltbar, einen einzelnen Gemeindeleiter („Bote“) als Alleinverantwortlichen für die Gemeinde zu sehen.
Die Frage von Adolf Pohl kann also klar mit einem Nein beantwortet werden: „Kann wirklich einem Glied der Gemeinde allein alles aufgetragen werden: Verkündigung, diakonischer Dienst, Prüfen der Geister, Buße tun, Gemeindezucht, Treubleiben?“ Das wäre unbiblisch.


Deshalb ist sowohl Stern als auch Engel wohl ein Symbol für die Gemeinde, wie sie sich aus Gottes Welt darstellt. Der Prophet ist ja „vom Geist ergriffen“ (V. 10) und sieht deshalb mehr als nur die irdische Ortsgemeinde; er sieht sie so wie der Herr sie sieht. Dafür steht das Symbol „Engel“. Die Gemeindeengel sind „die himmlischen Doppelgänger bzw. Gegenüber der Sieben Gemeinden, die so also mit den Gemeinden selbst identisch sind.“ (R. H. Charles) „Sie sind die als Engel gedachten Repräsentanten der irdischen Gemeinde.“ (T. Holtz) „Die ‚Engel‘ sind reine Symbolfiguren; wie ja auch die Leuchter in der Christusschau [...] oder wie die Tiere, Gegenstände und Gestalten in anderen Visionen.“ (A. Pohl) Der Engel ist die himmlische Seite der Gemeinde – also gerade nicht der irdische Gemeindeleiter, die kirchliche Autoritätsperson!

Warum dieses Symbol? Wenn man nach der Bedeutung des Gemeindeengels fragt, kann man wie der Ausleger U. B. Müller sagen: „Johannes schreibt an die Gemeinden als ganze, und zwar so, dass er sich an die himmlischen Repräsentanten [= Engel] richtet. Möglicherweise wollte er vermeiden, sich an die faktisch existierenden irdischen Vertreter, den Presbyter oder den Bischof, zu wenden. Diese wird es schon gegeben haben [...]. Johannes wollte diese ignorieren.“
(Biblisch-theologisch richtiger hätte U. B. Müller schreiben müssen: „irdische Vertreter: die Presbyter oder Bischöfe“.)

Beide Bilder, Leuchter und Engel, bedeuten letztlich dasselbe, nur mit anderer Betonung: die ganze Gemeinde.
Bei „Leuchter“ ist betont: die Gemeinde in ihrer Gemeinschaft mit Christus. Ihm ist sie zugewandt. Der bewegt sich ja zwischen den Leuchtern (vgl. auch 2,1). Er sorgt für sie (1,5-6). „Leuchter“ heißt: die Gemeinde, die Jesu Zuspruch erfährt.
Bei „Stern“ ist betont: die Gemeinde, die der Welt zugewandt ist und in der Welt lebt. Im der Welt sollen ja Christen leuchten wie die Sterne (Philipper 2,14; Eph 5,8ff.). Die Sterne sind in Jesu „Hand“ – er „handelt“ also durch sie an der Welt. Das ist die Aufgabe der Gemeinde. „Stern“ heißt: die Gemeinde, die Jesu Anspruch erfährt.

Daraus müssen wir als Gemeinde drei Schlussfolgerungen ziehen.
a) Gemeinde Jesu steht nie nur unter einem Zuspruch. Ebenso nie nur unter einem Anspruch. Sie bekommt nie nur Gaben und nie nur Aufgabe, sondern beides gemeinsam. Auch eine angefochtete Gemeinde braucht wirklich beides. Die Gabe, den Zuspruch, weil viele wunde Stellen und viele Ermüdungen erst wieder heil werden müssen. Aber auch den Anspruch, die Aufgabe, damit der erhöhte Herr wieder neu durch sie handeln kann.

b) Wenn die Botschaft des erhöhten Herrn bewusst nicht durch den „Briefkasten“ der Gemeindeleiter geht, sondern direkt an die ganze Gemeinde, dann heißt das: Vor Christus kann eine Gemeinde sich nicht vertreten lassen, auch nicht durch den Pastor oder den Ältesten. Vor Christus ist die ganze Gemeinde gestellt. Wenn der Herr und der Richter spricht, muss jede und jeder eine eigene Antwort geben.

c) Gemeinde ist durch Christus beschützt und bedroht zugleich. Als Stern / Engel ist sie in seiner Hand – geschützt. Als Leuchter steht sie in der Nähe Christi – und dann auch ihm gegenüber. Der Ausleger B. H. Forck schrieb (1964):

Die sieben Engel hält der Herr fest in seiner Hand. Die Leuchter können umgestoßen werden [siehe 2,5]. Mit anderen Worten: Jesus sorgt dafür, dass seine Gemeinde bestehen bleibt, auch wenn die Einzelgemeinde, weil sie sich trotz aller Warnung dem Wort und Zuspruch Christi nicht beugt, als Gemeinde Jesu Christi untergeht oder aufhört zu existieren. (B. H. Forck)

Was hilft einer angefochtenen Gemeinde, die Jesu Zuspruch braucht, dass sie dabei nicht taub wird für Jesu Anspruch? Wie können wir uns die Ohren weiter offen halten?

Montag, 25. Januar 2010

Predigt : „Wer bin ich schon, dass ...“

Predigt über Ex 3,11f.: „Wer bin ich schon, dass ...“
Liebe Gemeinde,
wenn jemand im Beruf richtig Karriere machen will, dann findet er eine Fülle von Ratgebern, Büchern, Seminaren. Außerdem gibt es Trainer, Coaches und dergleichen mehr. Bei einer Managementtrainerin habe ich über die zehn häufigsten Fallen für Frauen im Beruf gelesen. Gleich die erste dieser Fallen ist die „Bescheidenheits-Falle“. Sie wird so erklärt: „Wer bin ich schon, was kann ich schon? Das ist doch nichts Besonderes! Ich glaub, das kann ich nicht.“ Wer sich selbst also solche Sätze ständig sagt, der oder die tappt in die Bescheidenheitsfalle. Große Blockade für die Karriere.
Nun weiß ich nicht, wer von uns hier eine große Karriere vor sich hat. Aber auch abseits vom Beruf gibt es ja Stolperfallen, und auch im Alltag entdecken viele von uns, wie sie mit solchen Sätzen im Kopf leben: „Wer bin ich denn schon?“ – Wie sollte ich dies oder das schaffen – wer bin ich denn schon, dass ich mir das zutrauen könnte? Blockaden entsehen daraus, in der Familie, in Freundschaften. Die Lebensqualität leidet darunter, wenn z. B. jemand sich nicht traut, ein neues Hobby auszuprobieren. Und auch die Freundschaft mit sich selbst leidet – auch das ist ja eine wichtige und gottgewollte Beziehung in unserem Leben, die Freundschaft mit sich selbst.

„Wer bin ich schon?“ – dieser Satz steht auch in der Bibel. Und er findet dort seine passende Antwort. Mose hat diesen Satz gesagt und Gott gab ihm seine Antwort darauf. Hören wir auch heute einige Sätze aus der Berufungsgeschichte von Mose. Zu Mose hat Gott gesagt:

9 Jetzt ist die laute Klage der Israeliten zu mir gedrungen und ich habe auch gesehen, wie die Ägypter sie unterdrücken. 10 Und jetzt geh! Ich sende dich zum Pharao. Führe mein Volk, die Israeliten, aus Ägypten heraus! 11 Mose antwortete Gott: Wer bin ich, dass ich zum Pharao gehen und die Israeliten aus Ägypten herausführen könnte? 12 Gott aber sagte: Ich bin mit dir; ich habe dich gesandt und als Zeichen dafür soll dir dienen: Wenn du das Volk aus Ägypten herausgeführt hast, werdet ihr Gott an diesem Berg verehren. Ex 3

„Wer bin ich, dass ich das tun könnte?“ fragt Mose. Gott hat ihm eine unglaubliche Aufgabe gegeben. Mose hat einen übermächtigen Gegner bekommen – und unzählige Menschen, für die er Verantwortung tragen soll. Da stellt Mose eben die Frage, die viele von uns auch kennen: „Wer bin ich denn schon, dass ich das schaffen könnte?“
Was könnte Gott wohl darauf antworten? Sollte er sagen: Ach Mose, in dir steckt mehr als du denkst! Versuch es nur, du wirst es schon entdecken! –? Oder: Du kennst dich doch aus in Ägypten. Du bist doch da aufgewachsen. Du bist mein bester Mann für diesen Job. Oder: Ich werde es dir schon rechtzeitig beibringen, was du können musst. Bald bist du fit dafür. Gott antwortet nichts von alledem. Sondern seine Antwort heißt:

„Ich werde mit dir sein!“

Mose hat auf seine Grenzen gesehen. Gott hat seinen Blick nun nicht auf Moses Fähigkeiten gelenkt, sondern von Mose weggelenkt auf Gott. So hat Gott geantwortet: „Mose, du willst, wissen, wer du bist? Ich sage dir, wer du bist: Du bist jemand, mit dem ich bin. So einer bist du. Das reicht für dich.“

Gott hat also die Frage von Mose eigentlich auf den Kopf gestellt. Mose fragte, wer er ist. Und Gott sagte darauf nicht: Mose, du bist ..., sondern: Mose, ich bin. Ich bin mit dir. Gott macht das ja manches Mal, dass er unsere Fragen auf den Kopf stellt, weil sie so herum erst richtig gestellt sind. Auch Jesus hat das oft getan. Jemand fragte Jesus: Wer ist denn mein Nächster? Und Jesus antwortete zu guter Letzt auf die Frage: Wem bist du denn ein Nächster? Wir fragen Gott oft: Warum passiert mit dies und das? Warum lässt du das zu? Und Gott antwortet uns nicht auf das Warum. Aber er zeigt, wozu das führen kann. Frag nicht, warum es kam, sondern frag, wozu es gut sein kann. Gott stellt unsere Fragen auf den Kopf – und das erst ist die wahre Antwort. So auch bei Mose. Wer bin ich? Alles was du über dich wissen musst, ist, dass Gott mit dir ist.
Eins hat Mose mit jeder und jedem von uns gemeinsam. Mose war von Gott zu einer Aufgabe berufen. Jede und jeder von uns ist das auch. Unsere Berufungen sind ganz unterschiedlich und haben meist einen viel kleineren Umfang. Soweit ich weiß, ist niemand von uns für eine ganze Nation verantwortlich. Aber jede und jeder hat ihre und seine spezielle Berufung.

Manche sind Mami für ein Kind oder zwei oder manchmal mehr. Mama sein – das ist so eine Sache, für die es ja auch keine richtige Ausbildung gibt. Und sehr schnell stößt man an die Grenzen. In den ersten Jahren sind es oft Müdigkeitsgrenzen. Später Schlagfertigkeitsgrenzen – was ist bloß die weise Antwort auf diesen Teenagerspruch? Ja, auch Weisheitsgrenzen: Was wäre die angemessene und verständliche Konsequenz, wenn mein Kind dies nicht getan hat? Noch später sind es Loslassgrenzen: Gelingt es, den Sohn oder die Tochter wirklich ins eigene Leben zu entlassen? Mama sein – eine enorm anspruchsvolle Berufung. Eine Bekannte von uns sagt: Ich weiß nicht, warum Gott mich zur Mutter gerade dieses Kindes gemacht hat – es braucht eine so besondere Begleitung, die kann ich kaum geben. Mit anderen Worten heißt das ja: Wer bin ich denn, dass gerade ich für dieses Kind Sorge tragen könnte? – Aber wie antwortet Gott denn nun auf solche Fragen? „Ich werde mit dir sein – so eine bist du.“

Andere sind von Gott dazu berufen, ein Segen für ihre Gemeinde zu sein. Einfach erst mal da sein als Segensträger. Bei so einer Berufung könnte man sich wundern: Es gibt doch andere, die viel begabter sind. Andere stehen nicht so am Rand wie ich und könnten doch viel besser ein Segen sein. – Aber nicht alle dieser anderen sind unbegrenzt lang in der Gemeinde. Es entstehen Lücken, und da hinein beruft Gott eben weitere seiner Kinder als Segensträger. Gott setzt ja sowieso nicht nur auf die, die automatisch im Mittelpunkt stehen. Gott spielt seinen Segen ja oft vom Rand her ein. Warum solltest du also nicht auch diese Berufung leben, ein Segen für deine Gemeinde zu sein? Du weißt doch wohl, wer du dabei bist? Gott wird mit dir sein.

Eine andere Berufung für viele ist es, ein Licht im Beruf zu sein. Ein Licht? Ich bin doch wahrlich keine große Leute, könnte man einwenden. Aber Gott will andere ja auch nicht blenden durch starke Scheinwerfer. Sondern er braucht einfach Lichter. Menschen, auf die die Kollegen sich verlassen können. Männer und Frauen, die ihr Wort halten. Leute, die nicht mitmachen, wenn in der Pause über andere gelästert wird. Jesusleute, die ihren Arbeitstag beginnen mit dem stillen Gebet: „Jesus, heute arbeite ich im Grunde für dich. Alles, was ich tue, mit Worten oder Taten, will ich in deinem Namen zu tun versuchen.“ Solch eine Berufung ist alles andere als einfach. Es fordert manchmal sehr heraus. Wer kann das ausfüllen? Menschen, zu denen Gott sagt: Ich werde mit dir sein – sieh dich einmal so!

Berufungen von Gott. Manche von uns beruft Gott, etwas für die Enkelgeneration zu bedeuten. Seien es die eigenen Enkel oder einfach die im Alter der Enkel. Junge Leute ermutigen. Ihnen den Rücken stärken durch Gebet und mutmachende Worte. Auch das traut sich nicht jeder zu. Die Lebenswelt der Enkelgeneration ist doch so total anders als die eigene, so technisch und handy- und internetgeprägt – wer soll sich da noch auskennen? Nun, wer kann das wirklich, Ermutiger für diese Generation sein? Leute können es, die von Gott die Antwort hören: Egal was du kannst oder nicht – ich werde mit dir sein.

Schließlich haben ziemlich viele Leute aus unseren Reihen von Gott die Berufung bekommen, Ehefrau oder Ehemann zu sein. Ein Selbstgänger? Ja, ein schlechter Ehemann kann man von selbst werden ... aber auch nach Jahren noch Liebe und Respekt zeigen, auch nach Jahren den Partner noch zu entdecken als den, der er heute ist, mit allen Veränderungen; den Partner nicht in das Bild pferchen, das früher vielleicht einmal passte oder in das Bild, das man selbst am liebsten hätte – auch das ist eine anspruchsvolle Berufung. Als ich heiratete, wusste ich von all dem nur graue Theorie. Aber ich erinnere mich an den Morgen nach unserer Hochzeit. Ich war recht früh wach, meine Frau noch im Bad, später sollten noch einige Hochzeitsgäste zum Spätfrühstück kommen und die Reste vom Fest aufessen helfen. Ich saß im Sonnelicht in der Tür zur Terrasse und dachte: So, jetzt bist du verheiratet ... und ein Lied fiel mir ein von einer Schallplatte. Der Refrain ging: „Sorg dich nicht, mein lieber Sohn!“ Das war ein ganz freundlicher Ein-Fall von Gott, mir dieses Lied jetzt einfallen zu lassen. Eine Ermutigung für mich frischen Ehemann, noch grün hinter den Ohren. Eine Antwort wie die an Mose: „Ich werde mit dir sein!“

Berufung. Mose bekam seine Berufung und jede und jeder von uns ebenfalls eine ganz eigene Berufung. Wie Gott mit uns dabei umgeht, das ist eine sehr große Entlastung. Er misst Mose und Menschen wie Mose nicht nach dem, was wir können. Sondern Gott zeigt auf eine ganz andere Qualifikation. Diese Qualifikation heißt: „Ich werde mit dir sein.“

Wie hat Gott das bei Mose denn umgesetzt? Wie hat Gott sich denn zu Mose gestellt? Was hat Gott getan und was musste Mose noch tun?
Gott hat die Aktivitäten in ganz spezieller Weise angeordnet. Es klingt zuerst ein bisschen unlogisch. Gott sagt zuerst: „Ich bin herabgestiegen, um sie [...] aus jenem Land hinaufzuführen.“ (Ex 3,8) Also Gott führt sein Volk heraus. Wenig später aber sagt Gott es so zu Mose: „Und jetzt geh! Ich sende dich zum Pharao. Führe mein Volk, die Israeliten, aus Ägypten heraus!“ (3,10) Also soll Mose das Volk herausführen. Wer führt denn nun, Gott oder Mose? Wer macht’s?
Im Grunde macht Gott es. Er lenkt das Herz des Pharao hin und her; er teilt später das Meer, so dass sein Volk hindurch kann. Das tut Gott. Mose aber soll immer wieder hingehen und es ansagen: „Gott tut bald was, Pharao, also lass uns gehen – lass Gott das tun, was er tun will.“ Das ist Moses Aufgabe: Von Gottes Aktivität reden und den Pharao dafür gewinnen. Auch das Volk für diese Sicht gewinnen. Gott tut es, aber er beteiligt Mose daran. Es kommt mir so vor, als würde Gott den Mose als Auslöser einsetzen. Auslöser: Es braucht einen, der den Anfang setzt, der das Folgende auslöst. Das Folgende tut Gott, aber er will seine Aktivität durch Mose auslösen lassen.
Es ist wie z. B. bei einer Lawine. Hinter einer Lawine steckt eine gewaltige Energie. Aber diese Energie schlummert, bis jemand sie auslöst. Ein ungeschickter Skifahrer z. B. Nicht der Skifahrer bewegt all die Schneemassen ins Tal herunter. Das macht die Schwerkraft, und der Skifahrer kann kein bisschen dazu tun. Aber er kann es auslösen.
Solche Vorgänge sind nicht immer zerstörerisch wie eine Lawine, das gibt es auch in positiver Wendung. Ich weiß nicht, wer von euch schon mal einen Leserbrief an eine Zeitschrift geschrieben hat. Wahrscheinlich sind es nicht viele. Man nimmt es sich viel öfter vor, als man es dann tut. Es gibt Zeitschriften, aus denen ich schon viele gute Artikel gezogen habe. Viele haben mich positiv weitergebracht und ich denke, man müsste das denen eigentlich mal schreiben. Eigentlich hat sich da schon bei mir viel Wertschätzung und Dankbarkeit angesammelt. Und dann kommt vielleicht der eine besonders berührende Artikel, der mich noch stärker bewegt als alles vorher. So, jetzt ist es so weit, jetzt muss ich mich wirklich mal hinsetzen und es aufschreiben. Das war dann der Auslöser. Ich bringe meine ganze bisherige Dankbarkeit und Wertschätzung in meinen Leserbrief ein. Aber sie kommt nicht allein aus diesem letzten Artikel, sondern sie kommt aus all dem, was jahrelang voraufgegangen ist. Eine Dankbarkeitslawine sozusagen, die aber auch ihren Auslöser brauchte.

So ähnlich handelt Gott manchmal. Er hat sich unendlich viel Gutes vorgenommen, aber er lässt es nicht immer automatisch über uns kommen. Sondern er setzt Menschen als Auslöser ein. Und da ist Mose dann im Spiel und wir Menschen wie Mose. Gott gibt mir und dir Aufgaben, Verantwortungsbereiche, Berufungen. Sie sind oftmals wirklich eine Nummer zu groß für uns. Ein Segen für meine Gemeinde sein? So viel Segen hab ich gar nicht in mir. Ein einfühlsamer Ehemann sein? Oft habe ich doch nur mit mir selbst am meisten Mitgefühl. Lebenslang guter Ehemann – eine Nummer zu groß. Aber wenn Gott Menschen beruft, möchte er keine, die alles selber komplett ausführen. Keine Allroundtalente, die Bäume ausreißen können und nicht zu stoppen sind. Gott setzt Menschen anders ein. Als Auslöser. Die Berufenen sind gehorsam, wagen etwas, und damit lösen sie Gottes Aktivität aus. Er handelt dann. Er tut das Seine hinzu – manchmal langsam, aber kräftig wie ein sanfter Sonnenaufgang. (Und welche Energie hat auch ein Sonnenaufgang, wärmend, Leben schaffend!) Manchmal ist es auch massiver von Gott, wie eine Lawine voller Segen. Diese große Energie aber liegt bei Gott und kommt von ihm. Du und ich, wir müssen nicht mehr tun als auf Gottes Weisung achten und etwas wagen und den Rest dann auslösen. Mose war solch ein Auslöser. Deshalb stimmt es – er führte das Volk in die Freiheit. Aber was Mose auslöste, war viel größer als er selbst, es war Gottes Aktion. Deshalb stimmt es: Gott führte das Volk in die Freiheit.

Wieder sehen wir, dass Gott uns nicht endlos belastet, wenn er uns beruft. Sondern wiederum ist es eine Entlastung: Du musst nicht mehr sein als ein Auslöser. Und noch mal die Erinnerung an die entscheidende Qualifikation. Sie besteht in Gottes Zusage: Ich will mit dir sein.

Ich hoffe und bete, Gottes gute Nachricht ist bis hierher ganz tief bei allen angekommen. Wir müssen aber auch in dieser Predigt nun zum Schluss noch einen Schritt gehen, der unbedingt dazu gehört. „Ich bin mit dir“ – ein Satz voller Evangelium. Ein Satz, der uns sagt, wer wir in Wahrheit sind. Aber auch ein verführerischer Satz. Die Verführung besteht darin, dass wir ihn nicht von Gott hören, sondern dass wir ihn uns selber sagen: Gott ist mit uns. Gott mit uns – gerade in unserem Land wissen wir, wie sehr dieser Satz missbraucht wurde. Auf den Gürtelschlössern der Soldaten der Weltkriege stand dieser Satz. Gott soll mit denen sein, die töten wollen. Und auf diesem Bild hier, was unter dem verdeckenden Punkt zu sehen ist, kann sich jeder denken. Gott ist mit uns – ein verführerischer Satz.
Und nicht nur bei Kaisertreuen und bei Nazis und nicht nur bei Überpatrioten. Sondern es gibt auch die ganz fromme, die christliche Variante: „Gott hat gesagt, er segnet uns schon. Er wird schon bei uns sein – was soll uns noch passieren? Wir ziehen fröhlich unsere Straße – unsere Straße! – und Gott sagt: Ich bin bei euch.“

Das ist zu billig. Das wäre ein frommer Persilschein. Denn wir müssen schon darauf achten, zu wem Gott es damals sagte. Gott sagte es zu Mose, den er gerade senden wollte. Gott sagte es zu einem Berufenen, der in seine Aufgabe eintritt. Gott hatte es nicht zu dem resignierten und bürgerlichen Mose gesagt, der vorher in Midian die Schafe hütete und nur sein stilles Privatglück genoss. Erst dem beauftragten Mose sagte Gott: Ich bin mit dir. So auch heute. Gott gibt keine Generalverheißung für selbstzufriedene Privatchristen, sondern er sagt sich denen zu, die in seinem Namen hingehen.
Unsere Sprache hat dafür eine sehr sinnvolle Unterscheidung. „Ich bin bei dir“, das heißt: Wo du stehst oder sitzt, wo du gerade bist, da bin ich bei dir. Etwas anderes ist der Ausdruck: Ich bin mit dir. Darin liegt Bewegung. Begleitung auf dem Weg. „Ich bin mit dir“, das sagt man zu keinem, der im Sessel sitzt. Nun übersetzen unsere verschiedenen deutschen Bibeln den Satz Gottes an Mose immer so: Ich bin „mit“ dir. Gott begleitet den, der auf dem Weg ist. Es heißt nicht: Mose, ich bin „bei“ dir. Unsere Sprache unterscheidet da fein.
Gott gibt uns Menschen wie Mose also eine Verheißung. Und zwar deshalb, weil er uns vorher eine Berufung gab. Aber Gott will uns nicht in Sicherheit wiegen. Wer gewiegt wird, schläft bald ein. Das ist nicht Gottes Absicht.

Hören wir also Gottes Versprechen als Leute, die auf dem Weg sind! Auf dem Weg zur Familie, zu der sie berufen sind. Auf dem Weg an den Arbeitsplatz, an den Gott uns als Licht beruft. Oder unterwegs in einer Gemeinde, für die wir ein Segen sein sollen. Auf diesen Wegen werden Hindernisse genug kommen. Ausweglose Momente. Dann kommt die Frage auf: Wie soll ich das bewältigen? Wer bin ich denn schon?
Gottes Antwort: Ich werde mit dir sein. Ich setze dich gerne ein als Segensträger. Als Auslöserin und Auslöser für meinen Segen. Und dann kommt meine Energie zur Wirkung. Dann bringe ich, Gott, etwas in Bewegung.
Gott setzt seine Leute als Auslöser ein. Und zwar Menschen, die genau wissen, wer sie in Wahrheit sind. Ihre Qualifikation ist Gottes Zuspruch: Ich werde mit dir sein – so eine, so einer bist du.
Amen.

Montag, 18. Januar 2010

Bibelarbeit: Das verstockte Herz

Mose und Pharao: Wenn ein Herz sich verstockt
Motto:
Mehr als auf alles gib acht auf dein Herz, denn aus ihm strömt das Leben. Spr 4,23

Ergänzend zur Predigtreihe über Exodus 3 hier eine Bibelarbeit über eine Einzelheit des biblischen Berichts.

Moses Kampf um Befreiung des Volkes: es ist ein Kampf gegen den Pharao und dessen Herz. Am Anfang hat Gott gesagt: Er werde das Herz des Pharao verstocken, um sich durch Wunder als überlegen zu beweisen. Das klingt hart, ja zynisch: Gott steuert den Pharao, er macht ihn unfähig zur Einsicht und bestraft ihn dann auch noch dafür? Braucht denn Gott willenlose Marionetten, um sich daran als Gott zu beweisen? Was wäre das für ein Gott?

Im NT scheint Paulus es ähnlich zu sehen:
15 Denn zu Mose sagt er: Ich werde Erbarmen zeigen, wem ich Erbarmen zeigen will, und Mitleid haben, mit wem ich Mitleid haben will. Röm 9, vgl. Ex 33,19

Dieses brutale Bild von Gott ist aber so nicht richtig! Wie so oft hilft es auch hier, die Bibel genauer und vollständig zu lesen. Und zwar den Bericht über Moses Konflikt mit Pharao in Ex (2Mose) 3-15.

Zuerst fällt auf: Gott verstockt nicht aus heiterem Himmel jemanden, der es sonst eigentlich gut gemeint hätte.
Sondern Gott kennt (vorgreifend) den Willen des Pharao: dessen eigenen Willen (Ex 3,19). Schon zuvor hatte dieser Mann ja die Hebräer als Sklaven unterdrückt: aus Angst vor Machtverlust. Pharao war also bereits auf dem Weg des Unrechts. Er hatte sich auf diesen Weg begeben.
Wenn wir den Bericht nun weiter lesen, stoßen wir auf vier verschiedene Beschrei-bungen des Pharao:
  • Er handelt selbst unrecht
  • Gott verstockt sein Herz, Gott ist also der Aktive
  • Das Herz des Pharao ist bzw. bleibt verstockt. Das ist im Hebräischen durch eine Verb-Form ausgedrückt, die aktives Handeln beschreibt. Das Herz des Pharao ist hier das handelnde Subjekt.
  • Der Pharao selbst verstockt sein Herz, er ist also der Aktive.
Der Bericht bringt nun diese vier verschiedenen Deutungen in bunter Folge. Am Anfang scheint es so, als wäre Gott der Aktive, der Pharao festlegt. Aber später wird deutlich, dass der Pharao selbst entscheidenden Anteil hat.

Wer steuert das Herz des Pharao?


Vermischte Einflüsse
Was bedeutet es, wenn der Bericht zwischen den bestimmenden Faktoren ständig hin- und herspringt?
Zunächst: Das menschliche Herz ist eben von vielen Einflüssen bestimmt. Es unterliegt auch dem Willen des Menschen. Aber der Wille des Menschen ist nicht das einzig Bestimmende. Wenn im biblischen Bericht formuliert wird: „sein Herz war verstockt“, dann klingt es fast so, als sei das neben dem Willen des Menschen passiert. Es ist etwas anderes, als wenn gesagt wird: „Er entschied sich, so und so zu handeln.“ Das Herz des Menschen kann sich sozusagen selbständig machen, es kann eine gewissen Eigendynamik annehmen. Der Mensch hat nicht jederzeit vollen Zugriff auf sein Herz.

Verschlagener als alles andere ist das Herz, und unheilbar ist es, wer kann das verstehen? Jer 17,9

Wer bestimmte Vorentscheidungen trifft, der lenkt sein Herz in eine Richtung, von der er es dann manchmal nur noch schwer wieder abbringen kann.

Und Gottes Einfluss? Er lenkt das menschliche Herz nicht jedes Mal zum Guten. Er lenkt es auch nicht zum Bösen, wenn vorher noch keine böse Absicht im Herzen gewesen war. Dennoch spricht der biblische Bericht Exodus 3 ja auch vom Einfluss Gottes. Das ist wohl so zu verstehen: Wer sein Herz in eine falsche Richtung laufen lässt, bei dem nimmt Gott das dann auch ernst und zu dem kann Gott dann sagen: „So wie du wolltest, so sollst du nun. Dein Wille geschehe!“ Diese Wahrheit kommt m. E. in der Formulierung zum Ausdruck: „Ich aber werde sein Herz verhärten“ (4,21).

Es ist nicht alles festgelegt!
Beachtenswert: Nicht nur das Herz von Pharao ist verstockt, sondern immer wieder auch das seiner Führungsleute (z. B. Ex 9,34; 10,1). Dennoch kann man gerade an ihnen sehen, dass sie nicht von vornherein festgelegt sind. Vielmehr hat jeder Wahl- und Entscheidungsfreiheit: Ex 9,20f.
20 Wer von den Dienern des Pharao das Wort des HERRN fürchtete, ließ seine Knechte und sein Vieh in die Häuser flüchten. 21 Wer aber das Wort des HERRN nicht zu Herzen nahm, ließ seine Knechte und sein Vieh auf dem Feld. ( Ex 9)

Wenn es zu spät ist
Der Pharao ging schließlich an der Verstockung zugrunde. Er musste Gottes Volk frei lassen, also Gottes Ansichten ausführen, aber gegen seinen Willen, gezwungen. Und auch dann noch überlegte er es sich anders – und ging unter (Ex 14,8.18.28). Die vielfach beeinflusste Verstockung dieses Mannes resultierte im Gericht.
Man kann sich das im Bild vorstellen wie ein Flugzeug, das in eisiger Sturmnacht den falschen Kurs fliegt. Eine Zeitlang gibt er Gelegenheit zum Umsteuern. Aber irgendwann ist das Steuerruder eingefroren und der jetzt gewählte Kurs ist unkorrigierbar. Das Flugzeug muss in der Einöde notlanden oder wird zerschellen.

Gottes Absicht?
Ist es Gottes Absicht, durch Verstockung Menschen ins Gericht zu bringen?
Eine andere Möglichkeit wäre die Verstockung als „Höchstwarnung Gottes“. Der betreffende Mensch könnte erkennen, dass Rettung ausschließlich von Gott kommt, ohne jedes menschliche Zutun. „In diesem Gesamtrahmen besteht bei dem/den Verstockten – allerdings nur aufgrund von Gottes erneutem Eingreifen – die Möglichkeit der Umkehr.“ (H. F. Bayer, Das Große Bibellexikon Bd. 6, 2545f.).

Vorbeugen: Herzpflege!
„Mehr als auf alles gib acht auf dein Herz ...“ – Wie kann jemand, der sich auf Gott verlässt, so leben, dass er nicht irgendwann in eine Verstockung gerät?
  • Sich über seine wahren Beweggründe klar werden: Treibt mich irgend etwas Verborgenes an – eine Vermeidung, eine Vergeltung, ein Ehrgeiz, eine Angst?
  • Sich mit verlässlichen Menschen umgeben, die das Recht bekommen haben, einem rechtzeitig die Wahrheit zu sagen
  • Auf Gottes Signale im Leben achten: Passiert mir etwas, mit dem Gott mich vielleicht aufwecken oder aufschrecken oder zu sich locken wollte?
  • „Immunisierung“ verhindern! Wenn ich lange Zeit etwas über Gottes Willen weiß, es aber immer ausblende, nie zu tun beginne, dann kann ich auf diesem Gebiet immun für Gottes Willen werden. Gegenmittel: Mich zu gehorchen trauen, auch wenn es für mein Empfinden eigentlich zu gewagt ist.

Predigt "Gott stellt sich vor"

Predigt über Ex 2,23–3,15: „Gott stellt sich vor“
Liebe Gemeinde,
„Wo bleibt er denn? Gott?“ Auch schon mal so gedacht? Jetzt würde es ja langsam Zeit, dass Gott sich mal irgendwie meldet, mir hilft oder was ändert. Aber es rührt sich nichts. Was hat Gott bloß für eine Zeitrechnung? Nicht zu verstehen!
Ich habe öfter so im Laufe meines Lebens gedacht. Und bis heute hab ich vieles nicht verstanden an Gottes Zeitrechnung für mich. Aber beim Lesen der Bibel kapiere ich mittlerweile dies: Wenn „sich“ auch nichts rührt in meinem Leben – er rührt sich schon. Wenn die Lage sich nicht bewegt – Gott ist sehr wohl bewegt davon.
Wir haben in den letzten Wochen schon zwei Predigten über Mose gehört und wie Gott ihm begegnet ist. Dieser biblische Bericht wird uns noch eine Weile in den Predigten begleiten. Auch heute lese ich ihn: aus 2.Mose 2,23 bis 3,15.

23b Die Israeliten aber stöhnten unter der Arbeit und schrien, und von der Arbeit stieg ihr Hilferuf auf zu Gott. 24 Und Gott hörte ihr Seufzen, und Gott gedachte seines Bundes mit Abraham, Isaak und Jakob. 25 Und Gott sah auf die Israeliten, und Gott nahm sich ihrer an.
31 Und Mose weidete die Schafe seines Schwiegervaters Jitro, des Priesters von Midian. Und er trieb die Schafe über die Wüste hinaus und kam an den Gottesberg, den Choreb. 2 Da erschien ihm der Bote des HERRN in einer Feuerflamme mitten aus dem Dornbusch. Und er sah hin, und sieh, der Dornbusch stand in Flammen, aber der Dornbusch wurde nicht verzehrt. 3 Da dachte Mose: Ich will hingehen und diese große Erscheinung ansehen. Warum verbrennt der Dornbusch nicht? 4 Und der HERR sah, dass er kam, um zu schauen. Und Gott rief ihn aus dem Dornbusch und sprach: Mose, Mose! Und er sprach: Hier bin ich. 5 Und er sprach: Komm nicht näher. Nimm deine Sandalen von den Füssen, denn der Ort, wo du stehst, ist heiliger Boden. 6 Dann sprach er: Ich bin der Gott deines Vaters, der Gott Abrahams, der Gott Isaaks und der Gott Jakobs. Da verhüllte Mose sein Angesicht, denn er fürchtete sich, zu Gott hin zu blicken.
7 Und der HERR sprach: Ich habe das Elend meines Volks in Ägypten gesehen, und ihr Schreien über ihre Antreiber habe ich gehört, ich kenne seine Schmerzen. 8 So bin ich herabgestiegen, um es aus der Hand Ägyptens zu erretten und aus jenem Land hinaufzuführen in ein schönes und weites Land, in ein Land, wo Milch und Honig fließen, in das Gebiet der Kanaaniter und der Hetiter und der Amoriter und der Perissiter und der Chiwwiter und der Jebusiter. 9 Sieh, das Schreien der Israeliten ist zu mir gedrungen, und ich habe auch gesehen, wie die Ägypter sie quälen. 10 Und nun geh, ich sende dich zum Pharao. Führe mein Volk, die Israeliten, heraus aus Ägypten.
11 Mose aber sagte zu Gott: Wer bin ich, dass ich zum Pharao gehen und die Israeliten aus Ägypten herausführen könnte? 12 Da sprach er: Ich werde mit dir sein, und dies sei dir das Zeichen, dass ich dich gesandt habe: Wenn du das Volk aus Ägypten herausgeführt hast, werdet ihr an diesem Berg Gott dienen.
13 Mose aber sagte zu Gott: Wenn ich zu den Israeliten komme und ihnen sage: Der Gott eurer Vorfahren hat mich zu euch gesandt, und sie sagen zu mir: Was ist sein Name?, was soll ich ihnen dann sagen? 14 Da sprach Gott zu Mose: Ich werde sein, der ich sein werde. Und er sprach: So sollst du zu den Israeliten sprechen: Ich-werde-sein hat mich zu euch gesandt. 15 Und weiter sprach Gott zu Mose: So sollst du zu den Israeliten sprechen: JHWH, der Gott eurer Vorfahren, der Gott Abrahams, der Gott Isaaks und der Gott Jakobs, hat mich zu euch gesandt. Das ist mein Name für immer, und so soll man mich anrufen von Generation zu Generation. Ex 2/3

Die Geschichte ist kurzgefasst diese: Ein Volk war von einem Land ins andere gewandert aufgrund einer Hungersnot. Völkerwanderung – das haben wir alle mal im Geschichtsunterricht gehabt. Hier war es das Volk Israel. Im neuen Land, in Ägypten, wurden sie aber im Lauf der Zeit so mächtig, dass man sie unterdrückte. Hunderte von Jahren dauerte diese Unterdrückung. Aber irgendwann war das Maß voll. Der Gott, der sich schon lange zuvor einmal dem Stammvater, Abraham, vorgestellt hatte, dieser Gott meldete sich wieder zu Wort. Er rief einen einzelnen Mann, Mose, und der sollte das unterdrückte Volk in die Freiheit führen. Dieser Mose wusste vielleicht gar nicht so viel über den Gott der Vorfahren. Deshalb hat Gott sich noch einmal ausführlicher vorgestellt. Mose und die Israeliten sollten wissen, mit wem sie es nun zu tun hatten – welcher Gott sich da plötzlich um sie kümmern wollte.

Jetzt greift Gott also ein. Jetzt stellt er sich vor. Aber als ich den Bericht las und noch einmal las, habe ich mich gefragt: Wieso gerade jetzt? Wieso nicht eher? Das Elend dauerte doch schon lange. Vierhundert Jahre insgesamt lebte Israel in Ägypten, und die Unterdrückung dauerte dann sicher auch schon viele Generationen. Grund genug zum Eingreifen hätte es längst schon gegeben. Aber erst jetzt, irgendwann wie aus heiterem Himmel, meldet Gott sich. Merkwürdige Zeitrechnung!
Immerhin – jetzt stellt er sich vor. Jetzt erfährt Mose, was für ein Gott ihm da in den Weg gekommen ist. Auf diese Vorstellung Gottes wollen wir heute besonders achten. Gott will, dass wir bestimmte Dinge über ihn wissen sollen, und die sehen wir uns heute an.

„Mose aber sagte zu Gott: Wenn sie [...] mich fragen: Was ist sein Name?, was soll ich ihnen dann sagen? Da sprach Gott zu Mose: Ich werde sein, der ich sein werde. Und er sprach: So sollst du zu den Israeliten sprechen: Ich-werde-sein hat mich zu euch gesandt.“ Gott gibt seinen Namen preis. Er verrät, wie man ihn ansprechen kann. Gottes Name klingt sehr eigenartig: „Ich werde sein, der ich sein werde.“ Ich heiße „Ich werde sein“. Gott hat das zu Mose gesagt und der war Hebräer. Also müssen wir versuchen, diesen Namen Gottes mit hebräischen Ohren zu hören. Da klang das anders als wenn wir heute hören: „Ich werde sein, der ich sein werde, Punkt.“ Hebräer hörten in diesem Namen eine Bewegung: „Ich werde mich erweisen.“ – „Ich werde da sein, du wirst schon sehen.“ – Ich heiße: „Ich bin da.“ Manche übersetzen auch: „Ich bin für euch da.“ So also klingt Gottes Name: Er ist nicht an und für sich, sondern er ist zugewandt. Mit diesem Namen kann Mose zu den Israeliten gehen und ihnen sagen: Der uralte Gott, ich weiß jetzt, wie er heißt, nämlich: „Ich bin jetzt da, ich werde mich erweisen.“ Der will uns nun retten.

Gottes Name zeigt, wie er ist. Gott ist bewegt und er bewegt sich. Die Philosophen haben sich Gott anders vorgestellt. Aristoteles hat gemeint: Gott ist der unbewegte Beweger. Alles in der Welt bewegt sich und das muss doch eine Ursache haben – diese Ursache aber muss fest stehen, wenn sie in der Lage ist, den Rest in Bewegung zu setzen. Gott also als der unbewegte Beweger. Das ist eine griechische, eine westliche Sichtweise. Die hebräische Bibel sieht das völlig anders. Gott ist gerade der bewegte Beweger. Gott lässt sich bewegen von dem, was er bei den Menschen sieht. In dem biblischen Bericht kommen denn auch zahlreiche und vielfältige Bewegungen Gottes vor:
Gott hörte. Gott gedachte. Gott sah. Er kümmerte sich. Und dann sagt er es selber: Ich habe gesehen. Ich habe gehört. Ich habe die Leiden erkannt. Ich bin herabgestiegen. Ich führe heraus. Zu mir gedrungen ist das Schreien meines Volks. Ich habe gesehen. – Das sind alles Tätigkeitsworte, die ich gerade direkt aus der Bibel herausgesammelt habe. So in Bewegung ist Gott und all das bündelt er in seinem Namen: „Ich werde da sein als der, der ich für euch sein werde.“ Dieser Name besteht ja auch aus lauter Tätigkeitsworten. Ja, „Gott“ ist in der Bibel sozusagen ein Tätigkeitswort. Wenigstens sein Name – es ist ein Tätigkeitswort. Gott lässt sich bewegen und lässt sich deshalb auch in Bewegung bringen. Das sagt uns sein Name.
Zu anderen Gelegenheiten hat Gott sich ergänzend so vorgestellt: „Ich bin ein eifernder Gott.“ Gott, der Beweger, ist voller heiliger Leidenschaft. Also wiederum nichts mit „unbewegt“. Kein blutleerer Gedankengott. Sondern wie es der französische Naturwissenschaftler Blaise Pascal in einer Nacht der Gottesbegegnung umstürzend erfahren hat – er hat es später stammelnd so notiert: „Feuer – »Gott Abrahams, Gott Isaaks, Gott Jakobs“, nicht der Philosophen und Gelehrten.“ Das ist der Gott voller Eifer und Leidenschaft, im Feuer eben, wie Mose es auch am Dornbusch erfahren hat. Ein bewegter Beweger.

Diese Bewegung von Gott hat einen Kern, ein Herz. Das finde ich da, wo Gott sagt: „Ich kenne seine Schmerzen.“ Dies empfinde ich als das Herzwort: „Ich kenne ihre Schmerzen“. Von diesem Herzwort geht alle andere Bewegung aus.
Wenn Gott das als Namen gibt, wenn er so gesehen werden will, dann hat dieser Charakter von ihm auch Bestand. Es ist kein Spitzname, den man sich mal aus einer Laune heraus gibt und der einem schon sechs Wochen später peinlich ist. Gottes Name ist wohlüberlegt. Also auch heute will Gott so gesehen werden. Nicht nur für Mose spricht Gottes Name. „Der Herr gedachte seines Bundes“, den er damals für sein Volk in alle Ewigkeit geschlossen hat. Gott hat es nicht vergessen, was er versprochen hat. „Ich kenne ihre Schmerzen!“ So ist Gott. „Ich kenne deine Schmerzen!“
Also weiß Gott auch, wie lange schon unsere Schmerzen dauern, seien es Schmerzen im Körper oder in der Seele. Sei es eine Sackgasse im Beruf oder eine Beziehung, die brüchig wurde. „Ich kenne deine Schmerzen“ – das ist das Herzwort.

Aber nun kommt die Frage von vorhin wieder. Das Elend der Israeliten dauerte so lange – viele Generationen. Wenn Gott ihre Schmerzen kennt, warum greift er erst jetzt ein? Und in meinem und deinem Leben – diese merkwürdige Zeitrechnung! Allzu lange hat sich nichts gerührt. Wenn Gott meine Schmerzen kennt – wo war er denn die ganze Zeit?
Meine eigene Lebenserfahrung ist noch nicht so umfangreich vie die Lebenserfahrung vieler hier im Raum. Aber ein paar Falten im Gesicht hab ich ja auch schon und eine Reihe von Leuten habe ich begleitet. Mein momentanes Fazit ist: Die Zeitfrage ist bei Gott die unverständlichste Sache und wir Menschen kommen ganz oft bis zum Schluss nicht dahinter. In Fragen der Zeit vertun wir Menschen uns am häufigsten. Das war schon bei Jesus so, als die ersten Christen dachten, er käme sehr bald wieder, nach wenigen Jahren oder nach wenigen Generationen. Das hätten wir auch gedacht, wenn wir damals gelebt hätten. So ähnlich hatte Jesus sich ja auch geäußert. Aber dann kam es ja anders. Jahrtausendelang anders. Die Zeitfrage ist also diejenige, in der wir Menschen uns am häufigsten vertun. Wir können das nicht enträtseln. Auch in der Bibel war es sehr oft so. Gott gab helle klare Versprechen und hat dann mit der Erfüllung doch oft gezögert. An vielen Stellen finde ich keine Erklärung. Gott ist Gott – und viele seiner Gedanken bleiben uns fremd.

Aber zwei kleine Antworten aus unserem biblischen Bericht haben mich doch angesprochen.
Zum einen: Wir Menschen haben zwar viele Ideen, wann die richtige Zeit für Gott wäre, um einzugreifen. Wir meinen zu spüren, wann es fällig wäre. Aber wir kriegen es doch überhaupt nicht besser hin als Gott. Wie sehen doch nur einen winzigen Ausschnitt des Geflechtes, das Leben heißt. Wir stecken doch tief drin in diesem Geflecht. Wir können doch überhaupt nicht besser als Gott den richtigen Zeitpunkt finden! Wie war es bei Mose gewesen? Letzten Sonntag haben wir davon gehört. Er hatte ein großes Ziel, Gerechtigkeit, Freiheit, aber er legte einfach zu früh los. Die Zeit war noch nicht reif gewesen. Das Ergebnis? Ein Toter und ein Mörder auf der Flucht. Tatsächlich, uns ist Gottes Zeitrechnung unverständlich. Aber wenn wir am Drücker wären, würde wohl sehr bald heilloses Durcheinander herrschen, ausgelöst von Menschen, die doch zuerst ihre eigenen Interessen verfolgen. Lassen wir Gottes Zeitrechnung als Rätsel, aber lassen wir dieses Rätsel bei Gott!
Zum anderen: Auch wenn Gott sich lange Zeit nicht zu bewegen scheint und wenn er unsere festgefahrene Lage nicht beweglich macht – er ist dennoch von unserem Schicksal bewegt. „Ich kenne deinen Schmerz“ – das trifft zu. Auch der schweigende Gott ist ein bewegter Gott, auch der schweigende Gott kennt deinen Schmerz. Und auch wenn sich nichts rührt, ist es doch wahr: „Gott gedachte seines Bundes“. Gott hat nicht vergessen, was er versprochen hat. Gott ist es nicht entfallen, worauf er sich einmal festgelegt hat. Auch wenn Gott uns warten lässt, hat er die ganze Zeit sein Versprechen, seinen Bund im Bewusstsein. Gott ist nicht vergesslich und er bleibt nicht ungerührt. Als sein einziger und unvorstellbar geliebter Sohn am Kreuz starb, da hat Gott nicht eingegriffen, es war dafür nicht die richtige Zeit, aber es hat ihn doch wohl unendlich geschmerzt und er hat sich das doch nicht aus kalter Distanz angesehen. Gott hat in dem Moment nichts bewegt und war doch zutiefst bewegt. Und später, nicht jetzt, aber später war dann auch die richtige Zeit für Auferweckung.

Zwei kleine Antworten also aus dem biblischen Bericht. Dennoch bleibt es eben oft rätselhaft, wie Gott unsere Lebenszeit gestaltet und nicht jede Verwicklung löst sich aufs Schönste auf. Manchmal wohl, Gott ist gnädig und manchmal erkennen wir nach langer zermürbender Wartezeit, dass gerade nun das Timing doch stimmt. Aber diese Erfahrung ist uns nicht garantiert.

Wir müssen an dieser Stelle einen letzten Schritt für heute gehen und müssen noch mal zurückkehren zum Namen Gottes. „Ich werde sein, der ich sein werde“ – so nennt Gott sich. Wir haben gehört, darin liegt Bewegung. „Ich werde mich erweisen als der, der für euch da ist.“ Das klingt auch an in diesem Namen. Diese Verheißung schwingt mit.
Dennoch ist es natürlich zugleich ein Name, der sich nicht völlig fassen lässt. „Ich bin, der ich bin“ oder „Ich werde sein, der ich sein werde“, das klingt auch ein bisschen nach der Gleichung: 1 = 1. Ein Stuhl ist ein Stuhl. Mehr ist nicht zu sagen. Gott ist Gott. Dass Gott für uns da sein wird, das ist eine Verheißung, ein Nebenklang. Zugleich aber hat Gott zuerst und zuletzt von sich gesprochen: Ich bin, der ich bin. Wenn ich mich erweisen werde, dann bin ich es, der es zeigt. Gott gibt also einen Namen, der sich den Menschen zuwendet und sich zugleich zurückzieht. Gott macht sich ansprechbar, aber nicht fassbar. Gott gibt keine Formel, mit der man ihn jederzeit herbeibeschwören könnte. Gott will angesprochen werden, ja, aber eins wird er jedenfalls nicht tun: Er wird nicht zu unserer Verfügung stehen! Er ist für uns da, zu seiner Zeit, in seinem Eifer, aber er steht nicht zu unserer Verfügung. Deshalb ist die Rede vom eifernden Gott immer auch ein bisschen verstörend. Gottes Leidenschaft ist eine so starke Kraft, dass wir Menschen sie jedenfalls nicht bändigen können. Kein Gott für die gute Stube, den wir immer dann besichtigen könnten, wenn uns danach ist, und dann wäre er stets da und stünde zum Betrachten zur Verfügung. Sondern eben ein eifernder Gott. Er ist, wer er ist, und wenn wir überhaupt irgend etwas von ihm erfassen, dann nur, weil und wenn er sich erweisen wird. Ansprechbar, aber nicht fassbar.
„Ich werde sein, der ich sein werde“: Mit diesem Namen verspricht Gott, dass er sich uns zeigt. Aber dieser Name enthält keine Garantie, die wir mitnehmen könnten. Eine Garantie zum Mitnehmen könnte uns ja leicht von Gott weggehen lassen. Er bleibt dort in seinem Feuer und wir nehmen seine Garantie mit. Tschüss, bis später mal! Nein, so nicht. Eine Haltung also kann nicht von Gott kommen: menschliche Selbstsicherheit. Selbstsicherheit ist gottlos. Selbstsicherheit ist Sünde. Geborgenheit verspricht uns Gott – zu seiner Zeit. Aber niemals Selbstsicherheit.

Und dennoch wollte Gott nicht bei sich selbst bleiben. Dennoch ist er aus sich herausgegangen. Z. B. ins Feuer des brennenden Dornbuschs gegangen. Zu Mose gekommen. Gott hat sich vorgestellt. Weil er längst schon bewegt war vom Leben seiner Leute. Weil er jetzt endlich etwas bewegen will. Weil jetzt seine Leidenschaft durchbricht. Deshalb nennt er sich: „Ich werde sein, der ich sein werde.“ – „Ich werde da sein als der, der sich erweisen wird.“
Diesem Gott lasst uns folgen! Diesem Gott wollen wir erlauben, uns in Bewegung zu bringen. Diesem Gott lasst uns treu sein!
Amen.

Montag, 11. Januar 2010

Predigt „Den roten Faden im Leben finden“

Predigt über Ex 3,1-10: „Den roten Faden im Leben finden“
Liebe Gemeinde,
im letzten Jahr gab es hier in Marburg den Seelsorgekongress. Er hatte das Thema „Der rote Faden in meinem Leben“. Es ist gar nicht so einfach, den zu finden. Unser Leben verläuft meist durch viele verschiedene Abschnitte. Einige bauen aufeinander auf, aber andere scheinen gar nichts miteinander zu tun zu haben. All unsere Lebensstationen machen uns insgesamt zu dem, der wir sind. Wenn wir da einen roten Faden entdecken würden, würden wir auch besser mit uns selbst klar kommen. Deshalb gibt es viele Seelsorgeangebote, die dieses Thema haben: „Der rote Faden in meinem Leben“, und eben auch den Kongress letztes Jahr.
Wenn wir schon nur selten den Überblick haben über den roten Faden: Kennt Gott ihn dann wenigstens? Schauen wir mal in das Leben eines Mannes, der eine sehr zerrissene Vergangenheit hat und der lange Jahre den Faden eigentlich gar nicht finden kann. Hören wir , wie Gott dem Mose begegnet.

1 Mose weidete die Schafe und Ziegen seines Schwiegervaters Jitro, des Priesters von Midian. Eines Tages trieb er das Vieh über die Steppe hinaus und kam zum Gottesberg Horeb. 2 Dort erschien ihm der Engel des Herrn in einer Flamme, die aus einem Dornbusch emporschlug. Er schaute hin: Da brannte der Dornbusch und verbrannte doch nicht. 3 Mose sagte: Ich will dorthin gehen und mir die außergewöhnliche Erscheinung ansehen. Warum verbrennt denn der Dornbusch nicht?
4 Als der Herr sah, dass Mose näher kam, um sich das anzusehen, rief Gott ihm aus dem Dornbusch zu: Mose, Mose! Er antwortete: Hier bin ich. 5 Der Herr sagte: Komm nicht näher heran! Leg deine Schuhe ab; denn der Ort, wo du stehst, ist heiliger Boden. 6 Dann fuhr er fort: Ich bin der Gott deines Vaters, der Gott Abrahams, der Gott Isaaks und der Gott Jakobs. Da verhüllte Mose sein Gesicht; denn er fürchtete sich, Gott anzuschauen.
7 Der Herr sprach: Ich habe das Elend meines Volkes in Ägypten gesehen und ihre laute Klage über ihre Antreiber habe ich gehört. Ich kenne ihr Leid. 8 Ich bin herabgestiegen, um sie der Hand der Ägypter zu entreißen und aus jenem Land hinaufzuführen in ein schönes, weites Land, in ein Land, in dem Milch und Honig fließen, in das Gebiet der Kanaaniter, Hetiter, Amoriter, Perisiter, Hiwiter und Jebusiter. 9 Jetzt ist die laute Klage der Israeliten zu mir gedrungen und ich habe auch gesehen, wie die Ägypter sie unterdrücken. 10 Und jetzt geh! Ich sende dich zum Pharao. Führe mein Volk, die Israeliten, aus Ägypten heraus! (Exodus 3)

Wir haben in der Adventszeit eine Predigt über diesen Bericht gehört. Ich hatte den Blick dabei auf den heiligen Gott gelenkt: Sehen wir ihn wie Dornen oder wie Feuer? Gefährlich abweisend wie ein Dornbusch oder leidenschaftlich brennend wie das Feuer? So, voller glühender Liebe, ist der heilige Gott.
Heute lasst uns mal auf den Menschen Mose sehen. Am Ende begegnet ihm Gott. Und Gott gibt ihm einen unglaublichen Auftrag. Er soll das Volk Gottes aus der Unterdrückung herausführen. Ab jetzt ist sein Leben ganz auf diesen Auftrag ausgerichtet. Jetzt hat er einen roten Faden. Aber wie lange hat es gebraucht, bis es so weit war – bis er so weit war. Blicken wir mal zurück in das bisherige Leben von Mose.

1. Entwurzelt
Mose war von Beginn an ein entwurzelter Mensch, heimatlos, oder besser gesagt: mit zwei oder drei Heimaten – und das sind ein paar zu viel.
Geboren war Mose ja als Hebräer in Ägypten. Die Hebräer lebten dort. Mittlerweile waren sie unterdrückt als Zwangsarbeiter. Eine sehr unwillkommene Volksgruppe im Kulturland Ägypten. Der Herrscher des Landes, der Pharao, ging sogar so weit, dass er alle neugeborenen Jungen töten lassen wollte, damit die Hebräer nicht so zahlreich werden. Auch Mose hätte also gar nicht leben sollen. Eine dunkle Last über seinem Leben von Geburt an.
Mose selbst wird nicht getötet. Er wurde ja im Körbchen am Nil ausgesetzt. Die Tochter des Pharao fand ihn – und fand ihn wohl so süß, dass sie ihn behalten wollte. Also wuchs Mose nun am Herrschaftshof auf. Eben noch sollte er sterben – jetzt wurde er aufgezogen als ägyptischer Prinz. Mit der Unterdrückung der Hebräer hatte er erst mal nichts zu tun, ihm ging es glänzend. Allen anderen Hebräern nicht.
Doch als Mose dann erwachsen war und immer mehr davon mitbekam, was im Lande passierte, da spürte er, wie er zwischen den beiden Welten stand. Er war geschont, er war bevorzugt und empfand doch, dass die versklavten Hebräer seine Brüder waren. Er hatte mit ihnen nichts zu tun und hatte eben doch etwas damit zu tun. Er war ihnen trotz aller Fremdheit doch verbunden. Das kann einen Menschen wirklich zerreißen. Wenn jemand zu viele Wurzeln hat, ein bisschen hier welche und ein bisschen da, dann hat er in Wirklichkeit gar keine Wurzeln. Keine jedenfalls, die tief genug reichen. Migranten könne wohl am besten nachempfinden, wie Mose sich fühlte. Mose war wie ein Migrant zwischen den Kulturen.
Zugleich war Mose ein moderner, heutiger Mensch: Man sagt über unsere gegenwärtige Gesellschaft, dass jeder sich selbst erfinden muss. Es gibt kaum noch vorgegebene Muster, an denen man sich orientieren könnte. Jeder ist verdammt, der Designer seines Lebens zu sein. Auch Mose musste ohne jede Orientierung herausfinden, wer er denn sein könnte. Also ein ganz moderner Mensch, der gut auf unserem Marburger Uni-Campus herumlaufen könnte.
Zerrissen! Es war nicht seine Schuld. Es lag ja an den dramatischen Lebensumständen nach seiner Geburt. Er war diesen Umständen einfach ausgeliefert. Wir neigen ja manchmal dazu zu denken: Wenn jemand sein Leben nicht auf die Reihe kriegt, wenn jemand haltlos ist, dann hat er wohl irgend was falsch gemacht. Dann war er zu charakterschwach, um sich echte Substanz zu verschaffen. Aber das stimmt ja ganz oft gar nicht! Mose konnte für seinen Start überhaupt nichts dafür. Entwurzelt, zwischen den Welten ... So war es eben. Roter Faden? Fehlanzeige.

2. Gute Absicht, falsche Wege
Irgendwann hat Mose seine ursprüngliche Wurzel wieder gespürt: Ich bin doch eigentlich ein Hebräer! Ich gehöre doch auch zu den Zwangsarbeitern da, die sich abrackern müssen für die Ägypter – wie ich halberlei ja auch einer bin. Aber Prinz hin oder her, diese Sklaven sind meine Brüder. Als Mose eines Tages mit ansah, wie ein Hebräer vom ägyptischen Aufseher geschlagen wurde, da ging er hin und schlug den Ägypter tot. Jetzt, endlich, war er zurückgekehrt auf die Seite der Hebräer.
Warum hat Mose das wohl gemacht? Nur eine momentane Aufwallung an Wut? Sicher war mehr dahinter. Sicher war es auch ein Empfinden für Gerechtigkeit. Es war ungerecht, wie der Ägypter den hebräischen Sklaven quälte. Also hat Mose das richtig gestellt. Ausgleichende Gerechtigkeit. Stellvertretend vielleicht für die vielen anderen gequälten Hebräer. Und das hat Mose sich seitdem offenbar vorgenommen. Jetzt einschreiten und zur Rede stellen, wenn Ungerechtigkeit passiert!

War das so falsch, was Mose gemacht hat? Gerechtigkeit – ist das nicht ganz im Sinne Gottes? Ja, hat Gott nicht dann später zu Mose fast das Gleiche gesagt: „Ich habe diese Ungerechtigkeit gesehen, ich greife jetzt ein und mache der Unterdrückung ein Ende! Führe du mein Volk aus Ägypten heraus!“ Aha. Gott hat dasselbe Ziel. Befreiung. Gerechtigkeit. Hat Mose also nicht geradezu das Werk Gottes getan, als er sich für den gequälten Hebräer einsetzte?
Die Absicht von Mose war gut. Das Ziel war nicht weit entfernt von Gottes Ziel – wenn auch Mose sicher damals noch gar nicht an Gottes Ziele dachte. Dem Mose stand nur sein eigenes Ziel vor Augen. Also die Absicht war gut. Der Weg aber war falsch.
Den Ungerechten umbringen, den Täter töten: Dieser Weg war falsch, weil er aus falschen Beweggründen kam. Mose hatte entschlossen gehandelt, aber bloß aus seiner eigenen Zerrissenheit heraus. Mose fühlte sich hin- und hergerissen zwischen Ägypten und den Hebräern. Er spürte ganz stark den großen Riss in seiner Lebensgeschichte. Seine Lebenswunde pochte und puckerte. Und von da aus wollte er das gute Ziel erreichen. Aber wenn wir etwas tun, und sei es etwas Gutes, aber wir tun es angetrieben von einer Verletzung, dann geht es schief. Wenn wir bewegt sind von dem, was wir erlitten haben und uns von dieser Wunde motivieren lassen, dann richten wir Unheil an. Wer sich engagiert, weil er verletzt wurde, der kann letztlich nur selber andere wieder verletzen. So war es bei Mose. Er war noch nicht heil geworden. Er war noch nicht so weit. Er hat zu früh losgelegt. Das Unrecht – das war wohl reif. Das schrie zum Himmel. Aber Mose, er war noch nicht reif. Also hat er nur getötet anstatt echte Gerechtigkeit zu schaffen.

Der rote Faden in meinem Leben, vielleicht auch in deinem Leben: Er ist an manchen Stellen wohl so verworren, so verknotet oder auch so aufgesplisst, weil ich verwundet wurde. Weil man mir böse mitgespielt hat. Natürlich will ich, dass andere das nicht so erleben müssen wie ich. Jemand erzieht dann z. B. seine Kinder zur grenzenlosen Freiheit, weil er selber bedrückend eng erzogen wurde. Oder umgekehrt. Ich sage anderen nie, was sie eigentlich hören müssten an Korrektur, weil ich selber gegängelt wurde. Oder weil ich in meinem Leben nie ein positives Beispiel erlebt habe, wie man einander in Liebe und Heiterkeit die heilsame Wahrheit sagen kann. Da ist eine Lücke, und deshalb versuche ich es eben so gut zu machen wie ich kann. Immer aber ist dann eine Lebenswunde der Beweggrund. Bloß nicht das wiederholen, was mir passierte ... Aber ich bekomme nichts nachhaltig Gutes zustande, wenn ich nur aus der Verletzung heraus handle. Mein roter Faden ist eben noch ganz verworren.

Mose hatte gute Absichten, aber ging den falschen Weg. Zur falschen Zeit. Er war noch nicht so weit. Und er handelte nur aus sich heraus, ohne Gott. Gott hatte ihm noch keinen Auftrag gegeben. Wenn dann Gott seinen Auftrag geben wird, dann hat er ein ganz ähnliches Ziel: Befreiung und Gerechtigkeit. Aber Mose hat gehandelt, bevor er den Auftrag bekam. Das ging schief. Und ein weiterer dicker Knoten hat sich in seinen Lebensfaden geschlungen.
Und jetzt?

3. Resigniert
Jetzt lebt Mose zurückgezogen ganz woanders. Im Lande Midian, jenseits von Ägypten und vom Land der Hebräer. Wie kam er dorthin?
Nun, er hatte es in Ägypten ein zweites Mal versucht: Den Sklaventreiber zur Rede stellen. Aber der hat geantwortet: Willst du mich jetzt auch erschlagen, wie es neulich passiert ist? Mose musste merken, dass sein Mord beobachtet worden war. Also blieb ihm nur die Flucht. Der Prinz von Ägypten war er nun gewesen. Dieses Kapitel in seinem Leben wurde mit einem Schlag zugeklappt. Er setzte sich ab, eben ins Land Midian. Seinen Sinn für Gerechtigkeit nahm er mit. Als dort in der Fremde an einem Brunnen ein paar Männer eine Frau vom Wasser wegstießen, um sich Vorfahrt zu verschaffen, da griff Mose wieder ein. Hier wieder ganz der Alte. Er half der Frau zu ihrem Recht. Er wurde in deren Familie eingeladen. Er war ein willkommener Gast. Schließlich heiratete er sogar dort ein. Und jetzt? War er einfach Teil seiner neuen Familie. Angestellt beim Schwiegervater. Schafhirte. Ein gutes Auskommen. Endlich ein stilles Glück. In Sicherheit vor den Verfolgern. Und das Elend seiner hebräischen Brüder nicht mehr vor Augen. Jetzt gab es keinen Anlass mehr einzugreifen. Die Ungerechtigkeit, die ihn so empört hatte, war weit weg. Jetzt kommt sein Leben endlich in ruhiges Fahrwasser.
Allerdings – entwurzelt ist Mose um so mehr. Nach den Hebräern und Ägypten jetzt schon seine dritte Heimat. Midian. Zwar hat er hier nun Familie, aber seinen ersten Sohn nennt er "Gerschom": das heißt "Fremdling". So fühlt Mose sich. Aber gut, was soll man machen, das Leben spült einen nun mal umher – – jetzt hat Mose Job, Frau und Kinder, jetzt kann er doch seinen Frieden finden.
Mose hat zurückgesteckt. Die hohen Ziele sind passé. Die Ideale, für die er kämpfte, sind Geschichte. Das war einmal. Das hat nichts gegeben. Es ist so viel schiefgegangen – lieber Finger weg von solchen Flausen. Das Leben hat offenbar nicht mehr bereit für ihn als eben Familie, Job, ruhiges Auskommen, häusliches Glück. Mehr ist nicht drin.
Mose hat zurückgesteckt. Resigniert. Vielleicht sogar voller Zufriedenheit. Vierzig Jahre lang lebt er ruhig vor sich hin. Aber ist das wirklich alles?

Und der rote Faden in deinem Leben? Hast du ihn nach allen Verwirrungen und Verknotungen dann irgendwo festgebunden und zurückgelassen? Aus der Traum? Lieber den mickrigen Spatz in der Hand als irgend eine hochfliegende Taube auf dem Dach? Es waren eben doch nur Träume von früher?
Aber hatte Gott denn nicht doch von sich aus etwas hineingelegt in dein Leben? Das, was dich einmal begeistert hat – war das denn wirklich nur eine Schnapsidee? Du warst damals vielleicht noch nicht so weit, du warst noch nicht reif genug. Aber wann denn dann? Jetzt vielleicht?
Und die Irrungen und Wirrungen in deinem Leben – waren sie wirklich nur eine Geschichte des Scheiterns? Gott hat zugelassen, dass man dir böse mitgespielt hat. Gott hat die Verwundungen zugelassen. Aber wollte er nicht noch etwas daraus machen? Nachdem er deine Wunden versorgt hat – sollten sie nicht gerade zu einer besonderen Stärke werden? Zu deiner speziellen Lebenserfahrung, die dich eben zu einem lebenserfahrenen Menschen macht?

Mose hatte zurückgesteckt. Aber damit ist seine Geschichte noch längst nicht zu Ende.

4. Gott beruft gerade einen wie Mose!
Jetzt übt Mose seinen Beruf aus, er hütet die Schafe seines Schwiegervaters. Und an irgendeinem namenlosen Tag findet er diesen Dornbusch. Er brennt, aber verbrennt nicht. Gott spricht zu ihm aus diesem Busch – der Gott, der heilig ist wie das Feuer. Der voller brennender Leidenschaft ist. Es ist Leidenschaft für sein geliebtes Volk. Er hat lange genug angesehen, wie es unterdrückt wird. Jetzt will er eingreifen. Jetzt ist die Zeit reif. Jetzt ist auch Mose reif. Denn Gott will es nicht aus heiterem Himmel heraus tun – sein Volk befreien –, nicht durch einen Blitzstrahl oder so, sondern durch Mose. Durch diesen Mann mit gerade dieser Geschichte: verworrener roter Faden, entwurzelt, gute Absichten, aber falsche Wege, schließlich zurückgesteckt. Den beruft Gott.
Warum gerade so einen? Hat der denn nicht alles verspielt? Ein vom Leben verletzter Mann. Ein Mörder. Ein Flüchtling. Ein Resignierter. Hätte es nicht bessere Werkzeuge für Gott gegeben? Seelisch gesunde Menschen? Ohne ein Menschenleben auf dem Gewissen? Leute, die nicht ihre Hoffnung schließlich weggeworfen haben?
Gott wollte gerade einen wie Mose. Gott hat es so ausgesucht. In Mose selber waren nicht viele Gründe. Die Gründe für diese Auswahl liegen in Gott. Und seine Geschichte, die Geschichte Gottes, ist voll von solchen Berufungen: Er sucht sich die defekten Menschen aus, die unvollkommenen, die versagenden. Gott wird in ihnen stark. Andere Voraussetzungen sind nicht nötig.

Aber gerade das, was Mose verletzt hatte, kann nun zu seiner Stärke werden. Er ist entwurzelt? Zwischen den Kulturen hin- und hergerissen? Jetzt beruft ihn Gott gerade dazu, in beiden Kulturen zu arbeiten. Den Hebräern verbunden, aber gesandt zum Pharao von Ägypten. Mose weiß, wie der Pharao tickt. Die Zerrissenheit von Moses Leben kann Gott gerade ummünzen in eine besondere Fähigkeit. Moses Wunden müssen erst heilen. Das hat seine Zeit gebraucht. Aber jetzt findet Gott, Mose wäre so weit.
Und der Gerechtigkeitssinn von Mose? Er hatte durchaus Unheil angerichtet. Aber Mose wird bald ein großes Volk führen und er muss es zusammenhalten, muss auch Recht sprechen. Jetzt, nachdem Gott ihn berufen hat, nachdem dies sein Beweggrund ist, jetzt wird es er können.
Und das Gespür für die richtige Zeit? Mose hatte es längst nicht immer. Er war Gott zuvorgekommen. Aber nachdem Gott ihn dennoch berufen hat, wird er nun, wenn er das Volk aus Ägypten führt und später durch die Wüste leitet, wird er nun genau merken, wann Gottes Zeit ist. Er wird auf Gott achten und das tun, was Gott ihm sagt. Nicht immer klappt das. Manchmal wird er immer noch zu weit gehen. Auch jetzt ist Mose nicht sündlos und vollkommen. Aber er hat seine Lektion gelernt und macht sich ganz abhängig von Gott.
Gott beruft gerade einen wie Mose. Die wahre Berufung seines Lebens beginnt erst jetzt. Der rote Faden in seinem Leben – jetzt wird er sichtbar. Jetzt bilden sogar die Knoten und Aufspaltungen ein Muster. Gott beruft diesen Mann und führt dadurch sein ganzes Volk zum Ziel.

Ich möchte heute morgen jedem von uns Mut machen: Gott bringt sein Werk voran mit Menschen wie Mose. Mit Menschen wie dir. Wir müssen nur Gottes Berufung erkennen. Berufung – das ist längst nicht nur etwas für Glaubenshelden wie Johannes Paul II. und Martin Luther King und Bill Hybels und Ulrich Parzany. Berufung, das legt Gott in das Leben von defekten Menschen wie Mose und mir und dir.
Erwarte bitte etwas von deinem Leben. Gib dich bitte nicht zufrieden mit deinem stillen häuslichen Glück! Erwarte, genauer gesagt, etwas von Gott. Setz dich nicht zur Ruhe, wenn er dich ruft. Und wo auch immer du noch kein Muster sieht bei deinem roten Lebensfaden: Frage Gott danach. Warte auf seine Zeit, aber warte aktiv. Besprich dich mit reifen Christen und bete: Bitte Gott, dass er es deutlich macht.
Mose: Er hat dir nichts voraus. Gott hatte seine spezielle Geschichte mit ihm. Und hat seine spezielle Geschichte mit mir und dir. Es gibt Grund, erwartungsvoll zu sein.
Amen.