Freitag, 27. November 2009

Wie redet Gott?

Predigt über die Frage: Wie redet Gott?
Liebe Gemeinde, liebe Gäste,
ich muss gleich am Anfang zugeben: Ich habe noch nie eine Schrift an der Wand gelesen, vom Finger Gottes geschrieben. Ich hätte sie mir manches Mal gewünscht, aber Himmelsgraffiti hat bei mir noch nicht stattgefunden. Ich habe auch nie eine deutliche innere Stimme gehört. Ich glaube dennoch, dass Gott redet, auch heute noch. Ich habe es auf viele andere Weisen erfahren. Ich glaube, dass das keine Einbildungen sind.
Und zwar glaube ich das deshalb, weil Gott von seinem tiefsten Wesen her jemand ist, der redet. Sein Wort, die Bibel, stellt ihn von Anfang an gerade so vor: Er spricht. „An Anfang schuf Gott Himmel und Erde ... und er sprach: Licht soll entstehen!“ Gott hat geschaffen, indem er etwas gesagt hat: Er sprach. Gott hat also von Anfang an nicht einfach eine Welt angefertigt, sondern er hat in sie etwas hineingesprochen. Er hat Information hineingelegt.

Ich finde, das merkt man der Schöpfung deutlich an. Man erkennt es nicht an den Steinen und am Sand. Aber an jedem Wesen, das lebt. Jedes Blatt, jede Bazille und jeder Mensch sowieso besteht aus Information. Der genetische Code ist eine unendlich komplexe Anordnung von Informationen. Jede Information hat ja einen Verfasser. Botschaften entstehen nicht aus sich selbst. Jeder Mensch hat also eingebaut eine Information, die bedeutet: He, das bist du. So sollst du sein. So kannst du sein. Solche Anlagen hast du, dies kannst du und anderes kannst du nicht. Als Christ glaube ich: Das ist eine Information des Schöpfers.

Wie redet Gott? Hier haben wir eine erste Möglichkeit gesehen, wie er redet: Er redet durch das, was er in jeden Menschen hineingelegt hat. Indem er mich geschaffen hat, hat er mir zugleich schon sehr sehr viel mitgeteilt über sich und mich. Wie ich sein soll. Welche Möglichkeiten ich mir gleich aus dem Kopf schlagen kann. Was ich vielleicht noch erreichen kann.
In der Bibel steht eine schöne Beispielgeschichte von Jesus dazu (Mt 25). Jesus hat erzählt: Ein Chef hatte dreien seiner Verwalter Geld anvertraut. Er wollte verreisen und sie sollten mit seinem Geld arbeiten. Der erste bekam 100.000 Euro, der zweite 40.000, der dritte 20.000. Das war nicht nur Geld. Darin lag ja auch eine Information über den Chef: Z. B. erstens – ich gebe dir viel. Zweitens – ich traue dir zu, dass du was daraus machen kannst. Drittens – du bekommst es persönlich abgemessen, so wie es zu dir passt. Diese Verwalter des Chefs hatten nicht nur einen anspruchsvollen Job bekommen, sondern eben damit zugleich auch diese Informationen.
Jesus wusste noch nichts von Erbgut, Chromosomen und DNA, aber ich meine, seine Geschichte passt auch darauf. Gott hat jedem von uns etwas mitgegeben. Und darin liegt eine Information. Z. B. diese: Erstens – Gott gibt mir sehr viel mit auf dem Weg ins Leben. Zweitens – er traut mir zu, dass ich was daraus machen kann. Und drittens – ich bekomme es persönlich zugeschnitten, so wie es gerade zu mir passt. Wie redet Gott? Wenn ich über mich selber nachdenke, wie ich bin, hat er schon sehr viel gesagt.
Und nun muss ich mein Leben lesen können. Ablesen, was er mir gesagt hat. Ich kann dann ungefähr ablesen, was vielleicht noch werden kann mit mir. Ich persönlich liebe Musik und bin musikalisch. Vielleicht kann ich also noch mal richtig gut werden auf meinem Saxophon. Ich kann auch ablesen, worauf ich gar nicht erst warten brauche. Wenn ich mich so angucke – den Ironman sollte ich in diesem Leben vielleicht eher nicht ausprobieren. Gott hat mir schon ganz viel gesagt. Ich muss mein Leben richtig lesen.
Diese Art Gottes zu reden ist wie das Herzstück. Dieses Puzzleteil steht in der Mitte. Aber natürlich hat Gott noch andere Weisen, wie er redet.

Gott redet z. B. durch andere Menschen. Er gibt jemandem eine Idee, was er mir sagen soll, und wenn der das tut, es mir sagt, dann kann das bei mir völlig ins Schwarze treffen oder mir eine ganz neue Richtung geben. In der Bibel wird ganz häufig berichtet, dass einer zum anderen ging und dem was sagte und der erkannte darin dann einen Hinweis von Gott. Das ist natürlich nicht jedes Mal so, wenn Menschen miteinander reden. Ich erzähle oft anderen meine Ideen; das ist nicht jedes Mal eine Botschaft Gottes für sie. Und die Ideen, die andere für mich haben sind auch nicht alle von Gott. (Wäre ja auch noch schöner!)
Aber in manchen wichtigen Momenten hab ich es schon so erlebt. Als Student hatte ich eine Zeit, wo ich mir sehr unsicher war, wie ich über mich denken soll und wie Gott über mich denkt. Ich habe an ihn geglaubt, aber ich hielt es für denkbar, dass er mich sieht als einen unfertigen, unreifen und verwirrten Menschen, mit dem er nicht zufrieden war. An einen unzufriedenen Gott zu glauben ist nicht so angenehm. Da kam ich mir doch recht angespannt vor, wenn ich an ihn dachte. Wir wohnten damals in einem Studentenwohnheim, und eines Morgens lag ein Zettel vor meiner Tür. Darauf stand ein Satz aus der Bibel, der sagte: „Gott freut sich über dich. Er bricht in Jubel aus, wenn er an dich denkt.“ Das war wie eine warme Brise für mich, dass Gott mich so sehen sollte. Ich kannte zufällig die Handschrift des Mitstudenten, der das geschrieben hatte, und fragte ihn, was das sollte. Der wusste gar nicht, wie es in mir aussah. Der hatte mich nicht einfach beobachtet. Er meinte nur, er hätte beim Beten die Idee gekriegt, mir diesen Zettel zu schreiben. Also hat Gott durch diesen Zettel ziemlich deutlich zu mir geredet.

Gehen wir weiter zu eine anderen Art, wie Gott auch reden kann. Diese Art ist für mich ziemlich untypisch, aber manchmal war sie trotzdem wichtig auch für mich. In der Bibel steht an einer Stelle dies hier:

14 Gott redet doch! Er tut es immer wieder, mal sanft, mal hart – man achtet nur nicht drauf! 15 Zur Nachtzeit, wenn die Menschen ruhig schlafen, in tiefem Schlummer auf den Betten liegen, dann redet Gott durch Träume und Visionen. Ijob 33

Gott redet nachts durch Träume. Ich finde das eigentlich ziemlich zweifelhaft. Man träumt sich doch alles mögliche zusammen. Jeder Mensch träumt, angeblich jede Nacht, auch wenn er sich dann an nichts erinnern kann. Ich träume meistens Kraut und Rüben. Von Gott ist da wenig drin. Trotzdem hat Gott auch schon meine Träume benutzt, um zu mir zu sprechen. Ich hatte viele Jahre lang so wiederkehrende Schreckensbilder. Eins davon war: Ich stehe vor dem Kleiderschrank und finde nicht das passende anzuziehen und muss gleich aus dem Haus und bin nicht angezogen. Oder ich entdecke im Schank alte Kleidung von früher und sortiere alles durch und kann und kann nichts auswählen. Als ich dann nachdachte, warum diese Bilder in den Träumen immer wieder kommen und was sie bedeuten, kam ich darauf: Irgendeine tiefsitzende Ur-Angst ist das wohl. Nackt dazustehen, dumm dazustehen. Ungeschützt. Ich bin unpassend – so ähnlich heißt wohl diese Ur-Angst. Das waren nun meine eigenen Träume. Dadurch hat Gott noch nichts gesagt zu mir. Aber im Laufe der Zeit entdeckte ich dann Bibelworte, die wie eine ganz exakte Antwort auf meine Ur-Angst sind. Jesus hat ja die Beispielgeschichte vom verlorenen Sohn erzählt. Der war irgendwann auf den Hund gekommen und wollte zurück zum Vater. Er hatte sich auf eine Menge Vorwürfe gefasst gemacht. Aber der Vater tut etwas ganz anderes: Er läuft ihm entgegen, holt ihn nach Hause und lässt ihn den besten Anzug anziehen. Perfekt eingekleidet anstatt abgerissen dastehen. Das tut der Vater – Jesu Beispiel für Gott. Noch viele andere solcher Bibelworte habe ich gefunden, die dieses Bild enthalten: vollständig eingekleidet. Das ging über mehrere Jahre, dass ich auf solche Bibelworte gestoßen bin. Mich hat das tief berührt, weil es eine Antwort auf meine Träume war.
Wie redet Gott? Durch Träume – oder wie in meinem Fall: indem er zeigt, dass er meine Träume kennt, meine Ur-Ängste, und darauf antwortet. Hey, es ist alles okay. Du bist nicht unpassend. Für mich eine sehr intime Botschaft von Gott. Ich habe versucht, mein Leben zu lesen: meine Träume – und wie Gott die kommentiert.

An diesem Beispiel wird übrigens auch sehr deutlich, dass die Arten, wie Gott redet, sich meistens gegenseitig ergänzen. Sie greifen ineinander wie die Puzzleteile. Meine Träume allein waren nicht von Gott, die waren nur von mir. Aber zusammen mit der Bibel haben sie plötzlich eine sinnvolle Botschaft ergeben. Ich glaube, das ist sehr typisch und von Gott auch so gedacht: Was wir Menschen erleben, ist nicht ganz eindeutig. Es ist nicht ganz scharf gestellt. Aber im Vergleich mit der Bibel ergibt sich dann ein schärferes Bild. Die Bibel als Gottes Wort ist viel präziser als die anderen Arten, wie wir Gott hören. Denn in der Bibel stecken ja die Erfahrungen von Frauen und Männern Gottes aus Tausenden von Jahren drin – und es sind nicht einfach nur menschliche Eindrücke, die drin stehen. Sondern Gott hat sich ja bei denen gemeldet. Die Bibel hat einen erheblichen Vorsprung vor allen unseren Erfahrungen mit Gott. Weil sie so wichtig ist, sollte sie in diesem Puzzlebild gleich an mehreren Stellen vorkommen. Hinzu kommt da noch, dass es bei mir persönlich die Weise ist, wo ich Gott am häufigsten höre. Das ist jetzt so mein persönlicher Zuschnitt, aber selbst wenn man da meine Eigenart abzieht, bleibt immer noch ein gehöriger Vorsprung der Bibel. Sie ist Maßstab dafür, ob eine Sache von Gott geredet ist oder nicht.

Viele Christen nennen oft noch eine weitere Art, wie Gott zu den Menschen redet. Und zwar meinen sie das Gewissen. Das Gewissen sagt uns, was wir tun sollen und was wir lassen sollen und da habe Gott, so meinen manche, schon bei der Schöpfung quasi eine Antenne in uns eingebaut. Das Gewissen als Stimme Gottes. Wer sein Leben lesen will, muss demnach auf sein Gewissen hören.
In Wirklichkeit sieht es damit etwas komplizierter aus, und ich spreche mal kurz über dieses Bespiel, das Gewissen, weil es eben viele Stimmen in uns gibt, die von Gott sein können, aber längst nicht von Gott sein müssen. Für mich ist das Gewissen wie so ein Karton, in den ganz viel hineingepackt ist. Jeder Mensch hat wohl so ein Grundgespür dafür, was richtig gut wäre und was ganz übel ist. Bei fast jedem Menschen meldet sich das Gewissen, wenn er z. B. einen anderen von der Brücke schubsen sollte. Aber in diesem Karton sind noch viel mehr Dinge drin. Die Erziehung prägt das Gewissen sehr stark. Wenn mein Vater mir dauernd erzählt, Lügen ist okay und wer schlau ist, lügt – dann ist mein Gewissen auch entsprechend geformt. Auch die Kultur, in der ich lebe, formt mein Gewissen. In unserer Kultur kann man einander ziemlich deutlich sagen, was man denkt, so lange es nur ein bisschen höflich ist. In den asiatischen Kulturen wäre es ein Affront, deutlich zu sagen: Das will ich lieber nicht. Da muss man ganz andere Höflichkeitszeremonien beachten. Entsprechend klingelt dann auch das Gewissen oder eben nicht. Gott ist jedenfalls nicht der einzige, der beim Gewissen mitgemischt hat. Das Gewissen ist ein Karton, der von allen möglichen Seiten gefüllt wird. Ein schlauer Mensch hat mal gesagt: „Das Gewissen, dieser ohnmächtige und verwirrte Zeuge Gottes in uns“. Ein Zeuge Gottes schon: Das Gewissen macht irgendwie schon Aussagen von Gott. Aber es ist ein ohnmächtiger und verwirrter Zeuge. Das muss man beachten.
Viele Menschen hören in ihrem Gewissen: Du darfst im Leben nichts für dich fordern. Du musst lieber geben als nehmen. Viele leben sehr bedrückt und getrieben mit so einer Einstellung. Manche brennen total aus davon. Wer nun meint, das Gewissen wäre die Stimme Gottes, der würde ja schließlich zu dem Ergebnis kommen: Gott saugt mich aus. Gott macht mich kaputt. Das aber ist Gottes Art überhaupt nicht. Gott ist ja von seinem Wesen her derjenige, der immer zuerst anredet und gibt. Der sich verschenkt. Bloß – woher wissen wir das? Aus unserem Gewissen erfahren wir das meist nicht. Da brauchen wir andere Quellen. Klarere Informationsquellen.

Gott redet also auf verschiedene Arten. Durch manche redet er recht deutlich und durch andere ziemlich undeutlich. Durch das Gewissen redet Gott oft undeutlich, wenn man nicht genau weiß, wie Gott wirklich ist.

Klarere Informationsquellen brauchen wir. Wo finden wir die?
Ich möchte noch einmal zurückkommen auf die Beispielgeschichte von Jesus, die ich am Anfang der Predigt erzählt habe. Ein Chef wollte verreisen und hat dreien seiner Verwalter sein Geld anvertraut. Jedem so viel, wie der jeweils bewältigen konnte. Sie sollten damit arbeiten, sie sollten was draus machen. Am Ende wollte der Chef wiederkommen und Bilanz ziehen.
Jesus hat die Geschichte so weiter erzählt: Die ersten beiden Verwalter kamen am Tag der Bilanz und sagten: Hier, Chef, du hast mir so und so viel als Investitionssumme gegeben und ich habe noch einmal so viel draus gemacht. Dein Geld hat gut für dich gearbeitet. Und der Chef hat sie gelobt und hat sie gleich befördert. Der dritte Verwalter aber hatte es anders gemacht. Er hatte die Investitionssumme in eine Box verschlossen und vergaben – er wollte bloß nichts durch ungeschickte Geldanlage verspielen. Und als Begründung hat er folgendes gesagt:
„Herr, ich wusste, dass du ein harter Mann bist. Du greifst ab, wo du nichts investiert hast, und sammelst ein, wo du nichts ausgeteilt hast. Deshalb hatte ich Angst und habe dein Geld vergraben. Hier hast du zurück, was dir gehört.“
Natürlich war der Chef damit total unzufrieden – dafür hatte er dem Verwalter das viele Geld ja nicht anvertraut. Dieser Verwalter hatte ihn total missverstanden. So hat Jesus es erzählt. Ich frage mich: Wie kommt dieser dritte Verwalter überhaupt darauf, seinen Chef so zu sehen? Wieso hatte er solche Angst und hielt ihn für einen so harten Typen? Alle drei Verwalter hatten doch denselben Chef kennen gelernt und zu allen dreien hatte der dasselbe gesagt. Alle drei hätten ihren Chef sozusagen lesen könne, sein Verhalten lesen und seine Worte. Aber einer der drei hat völlig andere Schlussfolgerungen gezogen. Er hatte ein negatives Bild vom Chef, während die anderen das Verhalten und die Worte ihres Chefs viel positiver gedeutet hatten. Wer hatte nun recht?
Was hat denn in der Geschichte dieser Chef von sich gezeigt? Er ist reich – aber er sitzt nicht auf seinem Geld. Er ist in der Lage, es aus der Hand zu geben. Er kontrolliert nicht ständig nach. Er hat einen Blick für die Menschen, denn er hat nicht alle über einen Kamm geschoren, sondern jeden nach dessen Möglichkeiten und nach dessen Potential eingesetzt. Individuell, maßangefertigt. Und am wichtigsten: Der Chef hat allen dreien etwas zugetraut. „Ich halte euch für fähig! Ihr könnt was draus machen!“ Zwei der Verwalter haben ihn auch so verstanden. Der Dritte aber nicht. Für ihn war der Chef anscheinend nicht eindeutig. Er hat die Worte und das Verhalten anders gelesen – und sich dabei völlig verschätzt.
Ich glaube, so geht es vielen Menschen mit Gott. Wenn man das eigene Leben lesen könnte, dann könnte man durchaus einen gütigen Gott dahinter erkennen: Er hat jeden von uns geschaffen, maßangefertigt. Keiner von uns muss unglücklich sein, weil er vielleicht nicht so ist wie die anderen. (Andere gibt es doch genug!) Gott hat jeden von uns unverwechselbar gewollt. Gott hat unendlich viel in jeden von uns hineingelegt und uns zugetraut, dass wir etwas daraus machen. Vorschussvertrauen. Das lässt auf einen liebevollen Schöpfer schließen.
Bloß stellen wir uns Gott dennoch oft anders vor: Manchmal grausam, manchmal nur desinteressiert. Wir sind – so wie der dritte Verwalter – leider nicht immer imstande, unser Leben richtig zu lesen. Wir ziehen Fehlschlüsse.
Deshalb ist es so wichtig, klare Informationsquellen zu haben. Ich habe schon erwähnt, dass die Bibel für mich eine solche ist. Aber es geht um noch mehr. Es kommt nicht nur darauf an, wie Gott zu Ihnen und mir redet, auf welche Weisen, durch welche Puzzleteile. Es kommt auf den richtigen Rahmen an – also: wer Gott für Sie ist. Beim dritten Verwalter stimmte der ganze Rahmen nicht: Er hielt seinen Chef für hart und unberechenbar.

Was wir brauchen, ist eine präzise Selbstauskunft von Gott. Wir Christen sehen die ganz klar in Jesus. Jesus Christus ist das zuverlässige Spiegelbild von Gott. Wir müssen uns von ihm sagen lassen, wie Gott ist – wir müssen Jesus den Rahmen setzen lassen. Jesus hat Gott gezeigt als unendlich barmherzigen und mitfühlenden Vater. Gott hat durch Jesus Selbstauskunft gegeben. Deshalb wird Jesus in der Bibel auch genannt: Das Wort. Er ist DAS Wort. Er setzt den Rahmen.
Wenn der Rahmen klar ist, dann gibt es innerhalb dessen viele verschiedene Möglichkeiten, wie Gott redet. Zu jedem von uns spricht Gott anders. Wir müssen lernen, unser Leben zu lesen. Und wo immer Dinge unscharf sind, da werden sie schärfer, wenn wir auf DAS Wort hören: Jesus Christus.
In meinem Leben werden bestimmt noch viele Puzzleteile hinzu kommen. Bei Ihnen sicherlich auch. Es ist spannend und es ist ein Stück Glück, da dran zu bleiben und das eigene Leben zu lesen. Ich hoffe für mich und ich wünsche es Ihnen, dass der Rahmen immer klarer wird: ein barmherziger, liebevoller, mitfühlender Vater, so wie Jesus Christus ihn gezeigt hat.

Montag, 16. November 2009

„Zorn zwischen Gottes Geist und Teufel“

Predigt über Eph 4,22–5,2: „Zorn zwischen Gottes Geist und Teufel“
Liebe Gemeinde,
neulich hab ich im Gespräch ein beeindruckendes Fremdwort gelernt: „Prokrastination.“ Ich habe drei Anläufe gebraucht, um es aufzuschreiben. Prokrastination ist die Bezeichnung für den Hang, Arbeiten aufzuschieben bis zuletzt. „Aufschieberitis“ sagt man auch. Man kommt erst richtig in Gang mit einer Pflicht, kurz bevor sie erledigt sein muss. Lernen erst in der Nacht vor Prüfungsbeginn. Einkauf erst wenn der Kühlschrank leer ist. Ich selber würde es weit von mir weisen, an Prokrastination zu leiden ... allerdings ... die Steuererklärung mache ich meist erst nach der ersten Mahnung.
Manche Menschen fühlen sich einigermaßen wohl dabei, alles auf den letzten Drücker zu machen. Ohne eine festen Termin würden sie nie anfangen. Termindruck ist erst die Starthilfe. Andere leiden unter dem Aufschieben. Und wieder andere könnten sich gar nicht vorstellen, erst anzufangen, wenn’s schon fast brennt – viele fühlen sich gut mit einem langfristigen Arbeitsplan. Eigentlich kann ja jeder es machen wie er will, solange er zufrieden ist.
Es gibt aber einige Bereiche, da darf man nichts aufschieben. Sonst geht was kaputt. Ich sage nur: Zähne putzen! Kinder würden das am liebsten aufschieben. Warum nicht bis Samstag Abend warten und dann so lange putzen, dass es für die ganze Woche reicht? Geht nicht. Beim Zähneputzen kennen wir Eltern keine Ausnahme. Es wird drei mal täglich zum festen Termin geputzt. Sonst geht was kaputt, und es nach einer Woche nachholen ist dann zu spät.
Ich selber habe das als Kind und Jugendlicher nicht so richtig praktiziert. Mit Ende 20 war dann eine große Sanierung nötig. Mein Zahnarzt wurde zum Tiefbauarbeiter. Ich habe noch im Ohr, wie er mir erklärte, was beim Essen mit den Zähnen passiert: Säureangriff! Das klang total dramatisch. Aber dass ich mich vorher zu wenig um diesen Säureangriff gekümmert habe, das war dann ja auch dramatisch, wie ich mit offenem Mund unter der Lampe lag.
Es gibt also Dinge, die darf man nicht aufschieben. Da muss man einen Termin haben. Wie beim Zähneputzen.
Wir hören heute aus der Bibel von einem anderen Lebensbereich, der ebenfalls feste Termine braucht – sonst geht etwas kaputt. Und zwar ist das der Zorn. Hören wir auf Paulus, was er der Gemeinde in Ephesus schrieb:

22 Legt den alten Menschen ab, der in Verblendung und Begierde zugrunde geht, ändert euer früheres Leben 23 und erneuert euren Geist und Sinn! 24 Zieht den neuen Menschen an, der nach dem Bild Gottes geschaffen ist in wahrer Gerechtigkeit und Heiligkeit.
25 Legt deshalb die Lüge ab und redet untereinander die Wahrheit; denn wir sind als Glieder miteinander verbunden. 26 Lasst euch durch den Zorn nicht zur Sünde hinreißen! Die Sonne soll über eurem Zorn nicht untergehen. 27 Gebt dem Teufel keinen Raum!
28 Der Dieb soll nicht mehr stehlen, sondern arbeiten und sich mit seinen Händen etwas verdienen, damit er den Notleidenden davon geben kann. 29 Über eure Lippen komme kein böses Wort, sondern nur ein gutes, das den, der es braucht, stärkt und dem, der es hört, Nutzen bringt. 30 Beleidigt nicht den Heiligen Geist Gottes, dessen Siegel ihr tragt für den Tag der Erlösung. 31 Jede Art von Bitterkeit, Wut, Zorn, Geschrei und Lästerung und alles Böse verbannt aus eurer Mitte! 32 Seid gütig zueinander, seid barmherzig, vergebt einander, weil auch Gott euch durch Christus vergeben hat. 5,1 Ahmt Gott nach als seine geliebten Kinder 2 und liebt einander, weil auch Christus uns geliebt und sich für uns hingegeben hat als Gabe und als Opfer, das Gott gefällt. Eph 4/5

Paulus schreibt an eine Gemeinde und greift ins tägliche Leben. Es geht um Zorn, Bitterkeit, Geschrei und alles mögliche andere Böse. Das kommt vor, natürlich, oft. Das kennen wir und auch damals in den Gemeinden war es keine Überraschung, dass man zornig wurde, laut, auch bitter. Ich kann uns hier gleich am Anfang eine gute Nachricht sagen: Zorn ist keine Sünde! Zorn ist menschlich. „Wenn ihr zornig werdet, dann sündigt dabei nicht“, sagt Paulus. Man kann also zornig sein und noch nicht gleich schon damit sündigen. Es liegt noch ein Schritt zwischen Zorn und Sünde. Zorn ist menschlich.
Er macht keinen Spaß. Er bringt Stress. Aber er kommt eben vor. Es ist wie mit den Zähnen. Wenn ich Weingummi esse oder diesen löslichen Cappuccino mit 80 % Zucker trinke, dann kommt der Säureangriff. Er kommt, bestimmt fünf mal am Tag. (Bei mir sieben Mal.) Das ist nicht schön für die Zähne, aber es passiert. Das ist normal. Ebenso der Zorn. Jeder Zorn ist wie ein Säureangriff. Nicht nur dem gegenüber, auf den ich zornig bin. Sondern auch ein Säureangriff auf meine Seele. Das greift sie an, das bringt Stress. Aber es passiert. Es ist täglich normal. Zorn ist noch keine Sünde.
Bloß muss der Zorn dann ziemlich bald wieder abgebaut werden. Sonst macht er was kaputt. Nicht schon der erste Angriff zerstört. Aber wenn der Zorn bleibt, richtet er Schaden an. Wie bei den Süßigkeiten. Die Säure greift an, aber das ist erst dann schlimm, wenn sie bleibt. Wenn sie nicht abgebaut wird. Dann greift es die Zähne an. Es hilft also nur eins: ein engmaschiger Termin, der nicht lange aufgeschoben wird. Ein fester Zeitpunkt, regelmäßig und angewöhnt, wo ich die Zähne putze. Dann wird die Säure abgebaut, die Zahncreme bringt Fluor heran, der Zahnschmelz wird wieder gestärkt. Das klappt wunderbar, wenn ich die Termine einhalte. Mehrmals täglich. Säurenangriff gestoppt, Zerstörungskraft wurde abgebaut.

Für den Säureangriff des Zorns setzt Gottes Wort ebenfalls einen regelmäßigen Termin. „Die Sonne soll über eurem Zorn nicht untergehen.“ Also nicht schon nach jeder Hauptmahlzeit, aber beim Tagesabschluss soll ich meinen Zorn abbauen. Ihn loslassen. Bevor die Sonne untergeht, geht der Zorn unter. Ich soll ihn nicht mit in den Schlaf nehmen. Das ist die tägliche Pflege, die meine Seele braucht.

Paulus sieht es hier übrigens ziemlich einseitig. Er betrachtet nur die eine Seite dessen, der erzürnt wurde. Zorn ist ja oft eine zweiseitige Angelegenheit. Ich habe ja Grund zum Zorn. Man hat mich gereizt oder geärgert. Der andere war doch Auslöser, der müsste erst mal seinen Fehler einsehen. Aber Paulus betrachtet nur die eine Seite der Angelegenheit: mich, der ich mich habe erzürnen lassen. Ich kann ganz viel für mich tun, um meinen Zorn abzubauen, egal wie der andere sich verhält. „Jede Art von Bitterkeit, Wut, Zorn, Geschrei und Lästerung und alles Böse verbannt aus eurer Mitte!“ Das kann ich für mich machen. Ich kann aus meinem Herzen all das rauswerfen. „Seid gütig zueinander, seid barmherzig, vergebt einander, weil auch Gott euch durch Christus vergeben hat.“ Das kann ich einseitig tun, unabhängig von anderen Menschen: ich kann Güte bekunden, ich kann Vergebung gewähren. Und zwar zum festgesetzten Termin: bei Tagesabschluss. Aufschieben würde schaden, so wie es den Zähnen schadet, das Putzen aufzuschieben.

Wir haben in den Bibelgesprächen intensiv darüber diskutiert, ob das immer so geht: bei Sonnenuntergang, am Ende eines jeden Tages. Oder ob Paulus die Latte da zu hoch hängt. Braucht nicht mancher Zorn erst Zeit, um zu verrauchen? Kann man es denn immer gleich nach ein paar Stunden abschütteln? Es ist wohl gut, diese Zeitangabe nicht immer allzu wörtlich zu nehmen. Sonst wäre es ja im Winter noch schwerer, wo die Sonne früher untergeht, und Sommer wäre die Jahreszeit, wo wir länger zornig sein dürften. So ist es bestimmt nicht gemeint. Also – wer gute Gründe hat, den Zorn noch eine Weile bei sich zu behalten, der kann das tun. Man wird sich wohl immer wieder einmal sagen müssen: Jetzt noch nicht. Bloß – dann muss man sich auch sagen, wann denn dann. Wenn es ein „Zu-früh“ gibt, dann doch auch ein „Jetzt-gerade-richtig“. Den Zeitpunkt muss man finden. Und dann auch nutzen. Eins ist sicher: Von alleine passiert meist gar nichts. Von alleine wird die Seele sich nur selten melden, um zu sagen: Hallo, jetzt bin ich so weit. Da muss ich schon bewusster drauf achten. In Sachen Zorn geht es wohl den meisten von uns so wie den Studenten mit Aufschieberitis. Sie kommen erst in Wallung, wenn der Abgabetermin kommt, und wenn es nie einen Abgabetermin gäbe, wenn sie es immer selbst aussuchen dürften, dann würden sie wohl gar keine Seminararbeit geschrieben kriegen. Der Termin hilft, sich aufzuraffen. Ebenso beim Zorn. Ein Abgabedatum hilft, sich aufzuraffen. Und wenn dieses eine Abgabedatum nicht richtig ist, weil die Seele noch nicht so weit ist, dann muss man ein anderes Abgabedatum finden. Von alleine wird sich meist nichts tun.

Zorn ist noch keine Sünde. Zorn ist menschlich und alltäglich. Der Säureangriff passiert immer wieder. Der Zorn ist von der Sünde noch einen Schritt weit entfernt. Aber wann wird Zorn zur Sünde? Wenn er aufbewahrt wird. Wenn er sich einnistet und sich in Groll verwandelt. Zorn ist das eine, lang andauernder Groll das andere. Groll ist wie Zahnbelag, der nicht geputzt wird. Dann bleibt die Säure und dringt ein und zerstört. Geht das länger so, liegt der Nerv irgendwann frei. Aufbewahrter Groll ist wie Zahnbelag und macht in der Seele Karies. Schwarze Löcher.
Und noch mehr. Paulus wird an dieser Stelle richtig ernst. „Die Sonne soll über eurem Zorn nicht untergehen. Gebt dem Teufel keinen Raum!“ Beide Sätze folgen aufeinander und bilden eine Gedankenfolge. Bewahrt den Zorn nicht lange auf und gebt nicht damit dem Teufel Raum! Das aber heißt: Wenn ich meinen Zorn aufbewahre und zum Groll werden lasse, dann gebe ich dem Teufel Raum. Der Zorn kommt nicht vom Teufel. Der verfestigte Zorn, der Groll auch nicht. Aber der Groll öffnet dem Teufel die Tür. Irgendwann sind meine Vorwürfe, meine Bitterkeit, mein Grimm – irgendwann ist das mehr als mein Groll. Irgendwann ist es Groll plus Teufel. Auch den Teufel kann ich wieder los werden. Aber da muss ich schon sorgfältig aufpassen. Wenn der Teufel erst mal Raum bei mir gefunden hat, könnte es ja sein, dass ich irgendwann Gefallen finde am Groll. Er ist ja der Vater der Lüge, der Verdreher schlechthin, und er kann mich dahin bringen zu glauben, ich hätte ein Recht auf meine Vorwürfe und sie würden meinem Leben erst richtig Schwung geben. Ein Teufelskreis.
Liebe Gemeinde, Zorn ist noch keine Sünde, aber aufbewahrter Zorn ist ein Spiel mit dem Feuer! Er gibt dem Teufel Raum! Das ist eine klare Ansage aus Gottes Wort.

Am besten, es kommt gar nicht erst so weit. Am besten, ich beachte die Abgabetermine. Am besten ich mache es wie mit den täglichen Säureangriffen auf meine Zähne: Die kann ich nicht umgehen, aber ich kann sie unschädlich machen.

Unser Körper hat dabei übrigens eine wunderbare Einrichtung. Schon bevor ich meine Zähne putze, ist mein Körper bereits dabei, die Säure unschädlich zu machen und die Zähne zu reparieren. Das ist so in mir drin. Und zwar passiert das durch den Speichel! Der Speichel ist leicht alkalisch, also das Gegenteil von Säure. Er neutralisiert die Säure ein bisschen. Dazu braucht er Zeit. Zwischen den Säureangriffen muss ich Pausen machen, also Zeiten ohne Süßigkeiten. Dann tut der Speichel sein gutes Werk und neutralisiert die Säure. Und er macht noch etwas: Er transportiert Mineralstoffe in den Zahnschmelz. Remineralisierung heißt das. (Noch ein tolles Fremdwort! ’Tschuldigung!) Also – in mir ist die Reparatur schon angelegt. Der Schöpfer hat Kräfte in mich eingefügt, die den Schaden begrenzen und die Zerstörungskraft abbauen.
Gilt das auch für den Säureangriff des Zorns? Allerdings! Der Neuschöpfer hat Kräfte in mich eingefügt, die den Schaden begrenzen und die Zerstörungskraft abbauen. Welche Kräfte sind das? Es ist der Heilige Geist. Davon ist im Bibelwort die Rede: „Beleidigt nicht den Heiligen Geist Gottes, dessen Siegel ihr tragt für den Tag der Erlösung.“ Ich kann den Heiligen Geist, diese Erneuerungskraft, zwar betrüben. Aber damit ist ja auch gesagt: Der Heilige Geist ist erst mal in mir. Er wohnt in mir. Davon kann ich ausgehen. Wenn ich also mit Zorn zu tun habe, dann ist es gut, mich den Erneuerungskräften zu überlassen, die schon da sind. Dass ich mich dem Heiligen Geist überlasse. Dazu braucht er Zeit zwischendurch – Zorn soll also kein Dauerzustand sein (wie ich auch nicht pausenlos Sirup trinken soll). Aber wenn ich dem Heiligen Geist Raum verschaffe, dann kann der Zorn nicht mehr zerstören. Eingepflanzte Erneuerungskraft!
Unser Bibelwort nennt noch eine weitere Kraft, die schon längst für uns bereit steht: Es ist Jesus Christus. „Zieht den neuen Menschen an, der nach dem Bild Gottes geschaffen ist.“ Der neue Mensch – der Mensch, der Gott gefällt: den muss ich nicht erst erschaffen. Den bringe nicht ich hervor. Der ist schon geschaffen. Nach dem Bild Gottes: Jesus Christus ist das wahrhaftige Bild Gottes. Er ist der neue Mensch. Wer immer auf Christus getauft ist, der hat Christus angezogen, sagt Paulus anderswo (Gal 3,27). Ich soll ihn nun immer wieder anziehen. Er liegt schon bereit, der neue Mensch, wie ein Kleidungsstück, in das ich nur noch schlüpfen muss.
Das ist die gute Nachricht: Ich muss es nicht von A bis Z selber leisten, dass der Zorn mich nicht zerstört. Es kommt nicht auf meine Leistung an. Ich muss mich nur den Kräften überlassen, die Gott schon gegeben hat. So wie meine Zähne schon durch die Wiederherstellungskräfte geschützt werden, die Gott in mir geschaffen hat.

Damit haben wir jetzt klar in den Blick bekommen, wo unser Zorn steht. Er steht zwischen Gottes Geist und Teufel. Wenn ich Zorn aufbewahre, bekommt der Teufel Raum. Wenn ich aber Gottes Geist Raum gebe, verliert der Zorn seine Zerstörungskraft. Ich muss die richtige Seite wählen. Aufbewahrter Groll ist ein Spiel mit dem Feuer. Doch andererseits ist die Heilungskraft ganz nahe: Christus in mir, der neue Mensch. Ich muss die richtige Seite wählen. Dazu hat Gottes Wort eine Hilfe gezeigt: das Abgabedatum. Der gesetzte Termin. „Lasst euch durch den Zorn nicht zur Sünde hinreißen! Die Sonne soll über eurem Zorn nicht untergehen.“ Dann ist der Säureangriff gestoppt.

Bei unseren Kindern dulden wir kein Aufschieben, wenn es ums Zähneputzen geht. Nach jeder Hauptmahlzeit, termingerecht. Damit auf Dauer nichts kaputt geht. Wie können wir Eltern das unseren Kindern am besten beibringen? Mit Argumenten? Mit Belohnungen? Mit Strafen?
Am besten durch das Vorbild. Wenn wir’s tun, sehen das die Kinder an uns. Den Zorn begrenzen, damit er nicht zum Groll wird – welches Vorbild haben wir dafür? Paulus nennt uns das Vorbild:
Seid gütig zueinander, seid barmherzig, vergebt einander, weil auch Gott euch durch Christus vergeben hat. Ahmt Gott nach als seine geliebten Kinder und liebt einander, weil auch Christus uns geliebt und sich für uns hingegeben hat.
Christus war überzeugt, dass es richtig ist, so zu leben: barmherzig, voller Liebe. Vergebungsbereit. Er hat alles auf diese eine Karte gesetzt, weil er überzeugt war von der Heilungskraft der Barmherzigkeit. Er hat so gelebt. Gibt es ein glaubwürdiges Vorbild? Für uns bleibt dies zu tun:
Seid gütig zueinander, seid barmherzig, vergebt einander, weil auch Gott euch durch Christus vergeben hat. Ahmt Gott nach als seine geliebten Kinder und liebt einander, weil auch Christus uns geliebt und sich für uns hingegeben hat.
Amen.

Montag, 9. November 2009

Predigt über Lk 14,25-33: „Wie ‚teuer‘ ist Gottes Reich?“

Predigt über Lk 14,25-33: „Wie ‚teuer‘ ist Gottes Reich?“
Liebe Gemeinde,
das Predigtthema heute ist seltsam: Wie „teuer“ ist Gottes Reich? Ich bin darauf gekommen wegen eines Druckfehlers. In unserer Tageszeitung steht immer die biblische Losung des Tages, und vor einigen Jahren fand ich zu meinem großen Staunen dies hier:
„Jesus sprach: Selig seid ihr Armen, denn das Reich Gottes ist teuer.“
Das wäre natürlich bitter für die Armen, wenn sie das Reich Gottes nicht bezahlen könnten. Umgekehrt hat Jesus es gesagt: „Das Reich Gottes ist euer“, also gehört euch, gerade euch Armen. Man muss schon richtig lesen!
Allerdings hat es durchaus seinen Preis, wenn Gottes Herrschaft zu uns kommt. Gottes Reich erfasst unser Leben und verändert es. Das kostet uns schon einiges. Ich lese einen Bibelabschnitt vor, in dem Jesus die Kosten für Gottes Herrschaft aufzeigt:

25 Viele Menschen begleiteten ihn; da wandte er sich an sie und sagte: 26 Wenn jemand zu mir kommt und nicht Vater und Mutter, Frau und Kinder, Brüder und Schwestern, ja sogar sein Leben gering achtet, dann kann er nicht mein Jünger sein. 27 Wer nicht sein Kreuz trägt und mir nachfolgt, der kann nicht mein Jünger sein. 28 Wenn einer von euch einen Turm bauen will, setzt er sich dann nicht zuerst hin und rechnet, ob seine Mittel für das ganze Vorhaben ausreichen? 29 Sonst könnte es geschehen, dass er das Fundament gelegt hat, dann aber den Bau nicht fertig stellen kann. Und alle, die es sehen, würden ihn verspotten 30 und sagen: Der da hat einen Bau begonnen und konnte ihn nicht zu Ende führen. 31 Oder wenn ein König gegen einen anderen in den Krieg zieht, setzt er sich dann nicht zuerst hin und überlegt, ob er sich mit seinen zehntausend Mann dem entgegenstellen kann, der mit zwanzigtausend gegen ihn anrückt? 32 Kann er es nicht, dann schickt er eine Gesandtschaft, solange der andere noch weit weg ist, und bittet um Frieden. 33 Darum kann keiner von euch mein Jünger sein, wenn er nicht auf seinen ganzen Besitz verzichtet. (Lk 14)

Jesus erzählt hier zwei Gleichnisse. Das erste davon, das Gleichnis vom Bauherren, sollte von uns eine Medaille bekommen. Es ist in den letzten Monaten wohl einer der meistzitierten Bibeltexte in unserer Gemeinde. Das liegt auch auf der Hand: Wir machen uns Gedanken über unsere Gemeindegebäude und außerdem auch um unsere Gemeindekasse. Also hört man am besten auf Jesus, wenn er über Gebäude und die Baukosten spricht.
Nun ist es aber wie beim Druckfehler in der Zeitung: Wir müssen schon genau hinsehen, damit wir herausfinden, was Jesus wirklich sagen wollte. Genau hinsehen – da müssen wir uns ein kleines wenig Arbeit machen. Aber keine Angst: es ist gar nicht schwierig.
Ich möchte uns im ersten Teil der Predigt einladen in die Bibelwerkstatt. Wir wollen die Worte Jesu unter die Lupe nehmen und genau betrachten. Normalerweise passiert das nicht in der Predigt, sondern vorher am Schreibtisch des Predigers. Aber weil wir so oft dieses Bibelwort zitieren, sollten wir es einmal gemeinsam untersuchen. Manchem riecht das vielleicht etwas zu sehr nach Unterricht – und das Sonntag früh ... aber wem das so geht, der kann sich auf den zweiten Teil der Predigt freuen, wo ich persönlicher sagen will, wie wir mit dem Bibelwort Jesu leben können.

Also zunächst in die Bibelwerkstatt! Was hat Jesus im einzelnen gesagt? Wie sind seine Worte in der Bibel angeordnet?
Zuerst erfahren wir etwas über die Situation, in der Jesus das Wort ergriffen hat: viele Menschen ziehen mit ihm. Dann nennt Jesus einige Grundsätze: nicht jeder kann sein Jünger sein, sondern nur diejenigen, die bestimmte Entscheidungen treffen. Entscheidungen gegen die Familie und gegen das eigene Leben, Entscheidungen dafür, das Kreuz zu tragen.
Dann kommen zwei Gleichnisse. Beide wollen dasselbe sagen: Wer etwas bauen will, muss vorher ausrechnen, ob er genug Geld hat. Wer eine Schlacht gewinnen will, muss vorher ausrechnen, ob er genug Soldaten hat.
Und schließlich sagt Jesus noch einen Satz, was er mit den beiden Gleichnissen meint: wieder ein Grundsatz.
Der letzte Grundsatz fasst also alles zusammen und setzt die ersten beiden Grundsätze fort.
Warum hat Jesus die beiden Gleichnisse erzählt? Was wollte er damit sagen? Er wollte seine drei Grundsätze damit erklären.

Nun schauen wir genauer auf die Gleichnisse. Wie funktioniert ein Gleichnis? Es enthält ein Bild oder auch eine Geschichte. Jesus hat ja viele Geschichten aus dem Alltag erzählt. Diese Geschichten hatten eine Bedeutung. Also der Klartext, auf den Jesus eigentlich hinauswollte.
Jedes Gleichnis besteht damit aus zwei Teilen: dem Bild und der Bedeutung. Manchmal hat Jesus selber gesagt, welche Bedeutung er meint. Oft hat er es aber auch nicht gesagt – die Zuhörer konnten es sich schon denken.
Ein Gleichnis funktioniert nun so: Das Bild ist nur ein Bild. Das Bild ist meist nicht dasselbe wie die Bedeutung. Die Bedeutung liegt nicht einfach schon im Bild. Sondern das Bild wird übertragen – man trägt hinüber vom „Bild“ in die „Bedeutung“. Man darf beides nicht verwechseln. Den Jüngern von Jesus ist das einmal passiert: sie haben bei einem Gleichnis das Bild mit der Bedeutung verwechselt. Jesus hatte gesagt: Nehmt euch bloß in Acht vor dem Sauerteig der Pharisäer. Die Jünger dachten: Sauerteig? Brot backen? O weia, wir haben ja vergessen, Brot mitzunehmen. Jesus wollte uns das sagen. Aber Jesus hat geantwortet: Unsinn. Ich rede doch nicht vom Brot. Brot kann ich aus ein paar Krümeln machen, das habt ihr doch erlebt. Nein, ich rede von den Pharisäern. Vor denen nehmt euch in acht, sonst steckt ihr euch mit deren Denkweise an, so wie ein bisschen Sauerteig den gesamten Brotteig durchsäuert.
Das Bild war also der Sauerteig. Die Bedeutung des Bildes war die Denkweise der Pharisäer. Aber die Jünger hatten gedacht, das Bild, der Teig, wäre schon die Bedeutung. Sie dachten: Jesus gibt Anweisung zur Vorratshaltung mit Brot. Sie haben es verwechselt. (Mt 16,5-12)

Nun haben wir also heute in der Predigt zwei Gleichnisse von Jesus. Das Gleichnis vom Bauherren und vom König, der Krieg führen will. Das Bild ist jeweils klar: Jemand will einen Turm bauen, jemand will seine Feinde besiegen. Aber das sind eben nur Bilder. Fangen wir mit dem zweiten an: Jesus wollte natürlich nicht Anweisungen für Könige in Ausbildung geben, die vielleicht noch nicht wissen, wie man die Truppenstärke berechnet; Jesus wollte keine Feldherren beraten, wie sie am effektivsten eine Schlacht gewinnen. Wer aus diesem Gleichnis Jesus eine biblische Militärtaktik ableitet, hat sich völlig vertan. Was Jesus sagt, wissen Militärs ja sowieso.
Und das erste Gleichnis: Jesus wollte also auch keine Anweisung für angehende Bauherren geben, die vielleicht noch nicht wissen, wie man ein Bauprojekt plant. Er wollte keine Tipps geben, als ob man beim Hausbau erst den Finanzplan klar haben muss und dann den Bagger bestellt. Wer aus diesem Gleichnis eine Handbuch biblischer Bauplanung ableitet, hat Jesus missverstanden. Wäre ja auch überflüssig: Bauherren wissen sowieso, was Jesus hier sagt.
Nun gehört aber das Gleichnis vom Turmbau, wie gesagt, zu den meistzitierten in unserer Gemeinde. Aber bitteschön: Fragen wir doch danach, was Jesus mit diesem Gleichnis sagen wollte. Benutzen wir es nicht einfach als Argument für unsere Bauplanungsdebatten. Dafür wollte Jesus uns keinen Nachhilfeunterricht geben. Vor ungefähr 20 Jahren kam ein Buch heraus, das sich mit der Kommunikation zwischen Frauen und Männern befasst. Es wurde schnell populär. Es hieß: „Das hab ich nicht gesagt!“ Eine häufige Erfahrung, wenn man miteinander redet. „Du hast mich nicht verstanden. Das hab ich nicht gesagt!“ Wenn wir das Gleichnis vom Turmbau im Munde führen, um unsere Gebäudefragen zu klären, dann müsste Jesus eigentlich genau dies rufen: „Das hab ich nicht gesagt!“ Ich hab doch mit meinen beiden Gleichnissen was anderes gemeint! Ich habe doch meine drei Grundsätze mitgegeben. Das ist der Klartext, das ist die Bedeutung.

Und jetzt verlassen wir die Bibelwerkstatt. Lasst uns jetzt zur Bedeutung gehen, die Jesus gemeint hat. Wenn wir das tun, dann fällt mir allerdings noch mal der Druckfehler aus der Zeitung ein. „Das Reich Gottes ist teuer“? Ja, Jesus spricht davon, dass es viel kostet, ihm nachfolgen. Das ist sein Thema. Wenn jemand nicht sein leben gering achtet, kann er nicht sein Jünger sein. Jesus ruft Leute, die ihr ganzes Leben völlig auf ihn und seine Botschaft abstellen. Jesus sucht Nachfolger, die Jesus konkurrenzlos anerkennen als Meister, Lehrer, Schrittmacher, Freund, Lebensarzt, Seelsorger, Retter. Menschen, für die Jesus all dies ist, konkurrenzlos, die sind Nachfolgerinnen und Nachfolger Jesu. Jesus hatte viele Leute um sich herum. Viele waren aber auch nur Zuschauer. Denen sagt Jesus: Es kostet schon sehr viel, mir nachzufolgen – überlegt euch, ob es euch das wert ist.

Welchen Preis meint Jesus? Er sagt, man solle „Vater und Mutter, Frau und Kinder, Brüder und Schwestern, ja sogar sein Leben gering achten.“ Man soll sein Kreuz tragen. Man soll auf seinen ganzen Besitz verzichten.
(Jesus formuliert sogar sehr scharf: „Wenn jemand zu mir kommt und nicht Vater und Mutter, Frau und Kinder, Brüder und Schwestern, ja sogar sein Leben ‚hasst‘, dann kann er nicht mein Jünger sein.“ Das klingt nun völlig widersinnig. Diejenigen, die ich liebe, soll ich hassen, sagt der Christus, der doch die Liebe zu den Nächsten und den Feinde und die Liebe zu Gott über alles stellte?
Jesus meinte damit keinen Hass, so wie wir Menschen hassen. Wir können dieses Wort, das Jesus benutzt, verstehen, wenn wir vergleichen, wie die Sprache der Evangelien es sonst verwendet. Und dann merken wir, was Jesus meint:)
Wer ihm folgen will, muss alle anderen Beziehungen in seinem Leben zurückstufen. Es geht Jesus nicht um Hass als Emotion, sondern es geht Jesus darum, wer mein Leben wirklich bestimmt. „Zurückstufen“ ist das beste Wort für diese Botschaft von Jesus. Jeder Mensch lebt zwar in Beziehungen, die meisten haben „Vater und Mutter, Frau und Kinder, Brüder und Schwestern“ und jeder hat sein eigenes Leben. Aber nichts davon soll bestimmender sein als Jesus. Jeder Mensch hat auch mehr oder weniger an Besitz. Aber der soll nicht die Entscheidungen beherrschen. All das soll derjenige zurückstufen, der Jesus folgen will. Kein Mensch muss so leben wie Jesus sagt. Jesus lässt jedem die Freiheit, sein höchstes Glück zu suchen in den Beziehungen zu „Vater und Mutter, Frau und Kinder, Brüder und Schwestern“ oder im Besitz. Das geht. Aber man kann dann Jesus nicht nachfolgen. Sondern Jesus zu folgen hat eben diesen Preis – Zurückstufen! – , es kostet so viel. So „teuer“ ist Gottes Reich.

Was fangen wir mit dieser glasklaren Ansage von Jesus an? Ich höre sie als jemand, der verheiratet ist und seine Frau liebt und der seine beste Zeit im Leben erlebt, seitdem er sie kennt. Ich höre Jesus als jemand, der Kinder hat und je länger ich mit ihnen zusammenlebe, desto tieferes Glück entdecke ich. Ich habe eine Wohnung gemietet und fahre ein Auto, ich freue mich an Büchern und Musikinstrumenten – ich habe Besitz. Als Nachfolger von Jesus. Bin ich aber ein Nachfolger von Jesus mit meinem Leben und Familie und Besitz? Wäre ich doch besser vor 30 Jahren ins Kloster gegangen, um Jesu Anweisung zu erfüllen?
Archäologen haben das antike Kafarnaum ausgegraben – die Stadt Jesu. Dort sind alte Mauern der Häuser damals zu sehen. In der Mitte einer Wohnsiedlung ist das Fundament einer achteckigen Kirche. Sie ist errichtet über dem Haus des Petrus. Zumindest wurde an dieser Stelle von Christen das Haus des Petrus verehrt. Petrus war ein Nachfolger Jesu und hatte ein Haus. Er hatte Besitz. Später war hier eine Hauskirche. Christen brauchen Häuser, damit man Gottesdienst feiern kann. Petrus war auch verheiratet. Paulus schreibt einmal in einem seiner Briefe, dass Petrus seine Ehefrau unterwegs bei sich gehabt hat – als Jünger, als Gemeindemitarbeiter. (1Kor 9,5) Petrus ist Jesus nachgefolgt – mit seinem Besitz und mit seiner Ehefrau. Er hat die Frau nicht weggejagt und das Haus nicht verkauft.
Allerdings – eine Zeitlang hat er beides verlassen. Eine Zeitlang hat er sich nur auf Jesus konzentriert. Und seitdem hat er ein Leben geführt, in dem Jesus sein Herr war und auch der Herr über seinen Besitz und über seine Ehe. Sein Haus war nicht mehr sein Haus, sondern Jesus durfte darüber verfügen. Petrus’ Ehe war nicht mehr seine Ehe, sondern Petrus war unterwegs für Jesus und seine Frau war dabei. Gottes Reich war das übergeordnete Ziel.
Ich versuche so ähnlich ein Nachfolger von Jesus zu sein. Mit Ehe und Familie und mit Besitz – aber Jesus bestimmt, wo es langgeht. Ich entscheide nicht frei und nach eigenem Recht darüber, wie ich meine Ehe führe und meine Rolle als Vater lebe und wie ich meinen Besitz verwende und wie viel Besitz ich anschaffe und was nicht. Jesus hat darüber das Recht.

Aber wie soll das funktionieren? Jesus folgen, auf Kosten meiner Ehe und zu Lasten meiner Kinder? Nein, sie schneiden keineswegs schlecht ab dabei. Denn ich bin ein besserer Ehemann und ein besserer Vater. Wenn ich Jesus über meine Frau und meine Kinder stelle. Ich kann sie besser lieben, wenn ich immer wieder wegsehen von ihnen und mich nur auf Jesus konzentriere. In Traupredigten sage ich dem frisch gebackenen Ehepaar manchmal: „Du bist deinem Partner den ‚Christus in dir‘ schuldig.“ Deine Ehe lebt davon, dass du sich an Christus verlierst.
Ich glaube, dass Menschen wie Petrus (mit Ehefrau, mit Haus, das aber unter Jesus) ein glückliches Leben geführt haben, auch wenn sie das Recht darüber an Jesus abgegeben haben. Wir Nachfolgerinnen und Nachfolger Jesu verlieren ja nicht alles bei Jesus. Christus raubt uns nicht aus. Aber wir leben mit den wichtigen Feldern unseres Lebens anders, mit Familie und Besitz und Geld und Zeit. All das könnten wir für uns behalten und wir könnten auf unser Recht pochen: Das steht mir zu! Wenn ich nun aber mein Recht darüber an Jesus abgebe, dann gibt er mir das zurück, was er für gut ansieht. Ich habe diese Lebensdinge dann wiederbekommen, aber nicht mehr sie allein. Ich habe sie nicht mehr in der eigenen Hand. Sondern ich habe sie von Jesus zurückbekommen und habe jetzt Ehe, Familie, Geld, Besitz, Zeit zusammen mit Jesus. Vorher hatte ich nur dies. Jetzt habe ich es – plus die Beziehung zu Jesus. Manches gibt er mir auch nicht zurück. An vielen Stellen setzt er Grenzen. Kein grenzenloser Besitz. Geld nicht als Selbstzweck. Vater sein nicht als Herr des Hauses. Herr ist Jesus. Aber es ist immer noch genug, übergenug, was Jesus mir gibt.
Das ist der Unterschied zwischen einem Menschen in Eigenregie und einem Nachfolger Jesu: Der Mensch in Eigenregie hat alles, was er sich verschaffen kann. Der Nachfolger Jesu hat das, was er von Jesus bekam – plus die Beziehung zu Jesus. Der Mensch in Eigenregie nimmt sich das aus dem Leben heraus, was ihm gefällt. Der Nachfolger Jesu nimmt sich nichts, sondern empfängt. Und spürt deshalb die Hand dessen, der es ihm gibt: die Hand seines Herrn Jesus.
Es kostet viel, ein Nachfolger von Jesus zu sein. Aber das Glück bleibt nicht auf der Strecke. Das Reich Gottes ist sozusagen „teuer“. Aber wir bekommen unendlich viel mehr zurück: einen Meister, Lehrer, Schrittmacher, Freund, Lebensarzt, Seelsorger, Retter. Jesus Christus.

Und nun muss sich jeder überlegen, ob er bereit ist, den Preis zu zahlen. Wie ein Bauherr überlegen muss, ob er das gewünschte Haus bezahlen kann und will. Wie ein Offizier sich überlegen muss, ob er genug aufbringen kann, um es einzusetzen im Kampf. Wir müssen uns überlegen, ob wir den Preis aufbringen können und wollen, den die Nachfolge kostet. Wir geben das eigene Recht auf. Jesus bestimmt jetzt. Das ist so im privaten Leben und das ist so in der Gemeinde. Jesus bestimmt jetzt und das letzte Wort hat nicht mehr unsere Vorliebe, unser Geld, unsere liebe Gewohnheit, unser Wunsch nach Sicherheit. Nein, Jesus bestimmt jetzt. So teuer ist Gottes Reich.

Eine eindeutige Botschaft von Jesus. Ist das zumutbar? Ist es zumutbar, dass wir auf unser Bestimmungsrecht verzichten? Brauchen wir nicht ein solches Recht? Ist es nicht erst Voraussetzung, um überhaupt das Leben gestalten und entscheiden zu können?
Natürlich ist das ein tiefes menschliches Grundbedürfnis: Bestimmungsrecht haben. Und wohl wahr: an keinen anderen Menschen sollten wir unser Selbstbestimmungsrecht abtreten und von keinem es uns nehmen lassen. Aber wer vor Gott auf sein Bestimmungsrecht pocht, wer vor Gott sein Recht wahren möchte, der bekommt auch das, was er will: er bekommt sein eigenes Recht. Und hat dann seine eigene Gerechtigkeit. Eigene Gerechtigkeit ist nichts anderes als Selbstgerechtigkeit. Die gesteht Gott uns zu, wenn wir darauf bestehen. Aber Selbstgerechtigkeit trägt nicht. Selbstgerechtigkeit wird in Gottes Licht verglühen. Vor Gott brauchen wir ein anderes Recht, eine andere Gerechtigkeit, eine die hart wie Diamant ist. Das ist die Gerechtigkeit, die Jesus uns schenkt. Diese diamantharte und ewig beständige Gerechtigkeit hat ihren Preis. Die hat Jesus das Leben gekostet. Und sie kostet mich mein Bestimmungsrecht. In meinen Augen ein guter Tausch. Denn nun bekomme ich das vom Leben, was Jesus mir in die Hand gibt. Ich nehme mir mein Glück nicht und auch nicht meine Sicherheit, ich empfange sie. Und empfange zugleich mehr als das. Ich spüre nämlich die Hand dessen, der mir all das gibt.

Wie teuer ist Gottes Reich? Sehr teuer. Der Kaufmann im Gleichnis von Jesus hat seinen kompletten Besitz für die eine wunderschöne Perle gegeben. Und er war danach nicht frustriert, sondern glücklich.
Amen.

Montag, 2. November 2009

Predigt über Lk 4,16-22: „Schuldenerlass: jetzt!“

Predigt über Lk 4,16-22: „Schuldenerlass: jetzt!“
Liebe Gemeinde,
welche Last auch immer wir mit uns herumtragen: Gott will sie uns nehmen. Gott übernimmt unsere Bürde. Er braucht dazu unsere offene Hand. Wo Hände aufgehen und loslassen, kann Gott übernehmen.
Wir hören heute einen biblischen Bericht darüber, wie Gott das macht: unsere Last nehmen. Wieder einmal sehen wir es am besten an Jesus. Hören wir, was Jesus über sich und über Gott und über die Lasten der Menschen gesagt hat:

16 Als Jesus nach Nazareth kam, wo er seine Kindheit verbracht hatte, ging er wie gewohnt am Sabbat in die Synagoge und stand auf, um aus der Schrift vorzulesen. 17 Man reichte ihm die Schriftrolle des Propheten Jesaja, und als er sie aufrollte, fand er die Stelle, an der steht: 18 »Der Geist des Herrn ruht auf mir, denn er hat mich gesalbt, um den Armen die gute Botschaft zu verkünden. Er hat mich gesandt, Gefangenen zu verkünden, dass sie freigelassen werden, Blinden, dass sie sehen werden, Unterdrückten, dass sie befreit werden, 19 und ein Gnadenjahr des Herrn auszurufen.« 20 Er rollte die Schriftrolle zusammen, gab sie dem Synagogendiener zurück und setzte sich. Alle in der Synagoge sahen ihn an. 21 Und er sagte: »Heute ist dieses Wort vor euren Ohren Wirklichkeit geworden!« 22 Und alle Anwesenden sprachen sich gegen ihn aus und waren befremdet über die Botschaft der Gnade, die er hören ließ. »Wie kann das sein?«, fragten sie. »Ist das nicht Josefs Sohn?« (Lk 4; Die Übersetzung von V. 22a nach einem Vorschlag von Joachim Jeremias)

Eine Szene aus dem Synagogengottesdienst in Nazareth. Dieser Gottesdienst fand ungefähr 28 n. Chr. statt. Damit wir verstehen, was hier passiert ist, müssen wir aber weit zurückgehen. Wir machen eine Zeitreise, werden dann irgendwann auch wieder in Nazareth auftauchen und schließlich bei uns heute ankommen.

Kanaan im Jahr 1100 v. Chr. In einer kleinen Stadt denken wir uns einen Mann namens Abidan. Er ist 38 Jahre alt und war früher ein selbständiger Handwerker. Jetzt aber ist er ein Sklave. Er hatte im Leben Pech gehabt. Abidan hatte seinem Cousin eine Menge Geld geliehen. Der wollte davon Kamele kaufen. Aber auf einer Reise war der Cousin überfallen worden, ausgeraubt und getötet. Das Geld war weg. Abidan war der Geprellte. Wenig später hatte Abdian einen Unfall verursacht. Es war Markt gewesen, am Abend hatte man etwas Wein getrunken, Abidan war in Streit mit irgendeinem Kerl geraten, Abidan hatte sein Messer in der Hand – und plötzlich fehlte dem anderen das rechte Auge. Abidan war die Hand ausgerutscht. Für so einen Fall war Schadensersatz vorgesehen, aber Abidan hatte ja kein Geld mehr. Es blieb ihm also nur eins: Er musste sich selbst als Sklaven auf Lebenszeit verkaufen. Das war 16 Jahre her. Seitdem also war Abidan Sklave. Er arbeitete in einer kleinen Töpferei. Das war keine schlechte Arbeit, das hatte er schließlich gelernt – aber es war hart. Krüge formte er gern, aber der heiße Ofen setzte ihm zu.
38 Jahre jetzt – nach harter Arbeit vom Morgen bis zum Abend war er kaputt und in dem Alter hatte man als Sklave nicht mehr lange zu leben. Doch Abidan hatte Hoffnung. Noch zwei Jahre! Dann war er raus. Und wenn dann erst mal die Schufterei vorbei war, dann würde er sich vielleicht erholen und noch länger leben. Noch zwei Jahre! Wieso nur noch so kurz?
In zwei Jahren war Jobeljahr. Erlassjahr! Das Gesetz Gottes, durch Mose gegeben, legt fest: Alle fünfzig Jahre wird ein Jobeljahr angesetzt. Alle Schulden werden erlassen. Alle Grundstücke, die irgend jemand von irgendwem gekauft hatte, fielen an den ursprünglichen Besitzer zurück oder an dessen Kinder. Alle Sklaven wurden freigelassen. Abidan wusste: Er hatte hart bezahlen müssen für seinen Leichtsinn, aber keine Verschuldung zwischen Menschen in Israel war für die Ewigkeit, Spätestens nach 50 Jahren würde sie erlassen. Jobeljahr! In zwei Jahren war es so weit! Abidan ertappte sich dabei, dass er manchmal ein Lied sang: „Wir sind entkommen wie ein Vogel aus dem Netz des Jägers. Das Netz ist zerrissen und wir sind frei! Unsere Hilfe kommt vom Herrn, der Himmel und Erde gemacht hat.“ 1100 v. Chr. in Kanaan.

Fahren wir weiter auf unserer Zeitreise. Judäa, im Jahr 520 v. Chr. Wir nehmen an, hier lebte Sakkai mit seiner Familie. Und zwar lebte er erst seit kurzem hier. Er war Jude, aber in Babylon geboren. Die Juden waren nach dort verschleppt worden. Er hatte in Babylon eine jüdische Frau gefunden, er hatte die Geschichten seiner Eltern und Großeltern oft gehört, wie es damals war, daheim in Judäa, wie man dort leben konnte. In Babylon hatte Sakkai einen Plan gefasst: Wenn er irgendwann mal nach Judäa kommen sollte, dann wollte er Olivenbäume pflegen, eine Plantage anlegen, eine Ölkelter betrieben. Olivenöl braucht jeder.
Jetzt war er da. Er kannte die Berichte genau, wo seine Sippe Land besessen hatte. Er wusste, dass dort eine alte Ölbaumplantage war. Er war dorthin zurückgekommen – aber dann war es schwierig geworden. Nicht alle Juden waren während der letzten 70 Jahre in Babylon gewesen. Einige hatten auch zu Hause bleiben dürfen. Die hatten sich ganz schön breit gemacht. Und als dann die verschleppten Juden aus Babel freigelassen wurden, da hatten die Glück, die mit der ersten Reisewelle ankamen. Die suchten sich die besten Plätze. Sakkai war nicht in der ersten Reisewelle gewesen. Er hatte zu guter Letzt seine Plantage kaufen müssen – die doch seiner Familie eigentlich gehörte. Vielen ging es ähnlich. Die Stimmung im Land war verbittert. Man traute einander kaum über den Weg. Die Verwerfungen waren zu groß.
Sakkai war eines Tages auf dem Weg von der Olivenbaumplantage nach Hause, als er auf dem Markt eine Menschentraube sah. Alle drängten sich um einen Redner. Sakkai schob sich näher und erkannte, wer es war. Ein Mann Gottes, er war bekannt als „der Jesajaprophet“. Er rief seine Botschaft aus. Da sei jemand gekommen, mit Gottes Geist erfüllt. Der würde von Gott gute Nachricht für alle Armen bringen. Der würde gebrochene Herzen heilen und Gefangene befreien. Er würde ein Gnadenjahr des Herrn ausrufen und den Tag der Vergeltung für alle Feinde.
Ein Gnadenjahr des Herrn? Komisch. Dieses alte Mosegesetz vom Jobeljahr hatte man lange schon nicht mehr praktiziert. Wie war das noch gleich? Da sollten alle Sklaven freigelassen werden und alle Grundstücke an die ursprünglichen Besitzer zurückfallen. Ha, so ein Erlassjahr hätte Sakkai gebraucht, als er aus Babylon kam. Dann hätte er seinen Ölgarten rechtmäßig bekommen. Dann wäre viel Wut und Hass unnötig gewesen. Dann wäre das Miteinander nicht so vergiftet. Nun, aber die erste Reisewelle der babylonischen Juden war ja noch längst keine 50 Jahre im Land. War denn jetzt schon ein Erlassjahr dran?
Der Jesajaprophet sprach mit großer Überzeugung. Tja, wenn Gott einfach einen Propheten schickt und einfach jetzt die Zeit festsetzt? Erlassjahr – jetzt? Seinen Ölgarten hatte Sakkai schon, der war wieder in die Familie gekommen. Und die Wut? Die wäre dann auch abgehakt. Gott würde die Bösen bestrafen – dafür war ja der Tag der Rache gedacht. Also könnte Sakkai die Sache aus der Hand geben – er hätte seinen Frieden gefunden. Erlassjahr – jetzt schon? Eigentlich nicht schlecht! Ein Psalm ging Sakkai durch den Kopf: „Wir sind entkommen wie ein Vogel aus dem Netz des Jägers. Das Netz ist zerrissen und wir sind frei! Unsere Hilfe kommt vom Herrn, der Himmel und Erde gemacht hat.“ 520 v. Chr. in Judäa.

Und nun gehen wir weiter nach Galiläa. Nazareth, 28 n. Chr. Wir begegnen hier Kezia. Eine selbstbewusste Frau. Sie ist verheiratet, hat fünf Kinder und hat mit dem Haushalt schon allerlei zu tun. Doch außerdem ist sie mit der Zeit die erste Bäckerin am Ort geworden. Viele Nazarener lassen ihr Brot am liebsten bei Kezia backen – sie kriegt es einfach hin wie keiner sonst.
In einem aber ist Kezia wie alle aus Nazareth: Sie seufzt unter den Römern. Alle sind wütend auf diese Heiden, die das Land beherrschen. Einerseits ist Kezia froh, dass keiner ihrer Söhne in den Untergrund gegangen ist und Anschläge verübt. Andererseits – verdient hätten es die Römer schon.
Einen Anschlag verüben – das würde Kezia auch gerne gegen ihre Schwiegermutter. Die alte Schachtel ist nicht darüber hinweggekommen, dass Kezia ihren Sohn geheiratet hat, und nun lässt sie keine Gelegenheit aus, Kezia ihre Verachtung zu zeigen. Einmal hat sie sogar eine Schippe Dreck in Kezias Brotteig gekippt. Kezia hatte danach zwei Tage geheult. Seit ein paar Monaten aber ist Kezia richtig in der Klemme. Der älteste Sohn hat geheiratet und, man kann es wenden wie man will, aber er hätte doch ... hm ... eine andere Schwiegertochter ins Haus bringen können. Kezia würde ihr nie Dreck ins Essen kippen, aber bei der Erziehung würde man schon kräftig nachbessern müssen. Als aber ihr Sohn neulich sagte: Kezia sei eine genauso miese Schwiegermutter wie die Mutter seines Vaters – da hat Kezia wieder zwei Tage geheult. Und hat sich gefragt, ob es denn ewig so weiter gehen muss, dass man das Böse von Generation zu Generation weiterträgt.
Nun sitzt Kezia hinten in der Synagoge von Nazareth, in der Abteilung für die Frauen. Sie hat gesungen und gebetet und die Gesetzeslesung gehört wie jeden Sabbat. Nun ist die Prophetenlesung dran. Der Älteste vom Joseph ist aufgestanden, um zu lesen. Dieser komische Typ, der ein fleißiger Handwerker in Nazareth gewesen war, aber geheiratet hat er nie, auch mit Anfang 30 noch nicht. Sehr seltsam – und eigentlich hat Gott doch geboten, sich zu mehren. Trotzdem lief der neulich von zu Hause weg, um als Rabbi zu predigen. Naja, jetzt ist er wieder in der Heimatsynagoge und liest aus dem Propheten Jesaja.
»Der Geist des Herrn ruht auf mir, denn er hat mich gesalbt, um den Armen die gute Botschaft zu verkünden. Er hat mich gesandt, Gefangenen zu verkünden, dass sie freigelassen werden, Blinden, dass sie sehen werden, Unterdrückten, dass sie befreit werden, und ein Gnadenjahr des Herrn auszurufen.« Dann rollt er die Schriftrolle zusammen, gibt sie dem Synagogendiener zurück und setzt sich. Einfach so. Er hat einfach aufgehört. Er hätte doch weiterlesen müssen, wie alle es kennen. Die Jesajastelle ging doch noch weiter: „Ein Gnadenjahr des Herrn auszurufen und einen Tag der Vergeltung unseres Gottes!“ Wo bleibt denn der Tag der Vergeltung? Den brauchen wir doch, denkt Kezia, damit die Römer das kriegen, was sie verdienen. Was maßt dieser Zimmermann sich an, den Tag der Rache wegzulassen?
Und dann hält er noch nicht mal eine vernünftige Predigt. Sondern sagt nur dies: „Heute ist dieses Wort vor euren Ohren Wirklichkeit geworden!“ Heute? Was ist heute Wirklichkeit geworden? Das Gnadenjahr des Herrn? Das Erlassjahr? Das war doch so eine Sache, die Mose im Gesetz geboten hat. Sklaven frei lassen, Schulden durchstreichen, nicht mehr das einfordern, was einem zusteht ... wie kann der denn behaupten, jetzt wäre plötzlich so ein Erlassjahr dran?
Und was wäre, wenn er recht hätte? Naja, Schulden hat sie keine einzutreiben. Aber Rache würde sie schon gern sehen. An den Römern – und an ihrer Schwiegermutter. Bei Jesus fällt die Rache ja aus, denkt sie bitter. Schulden nicht mehr einfordern – auch der fiesen Schwiegermutter nicht mehr vorhalten, was sie mir angetan hat? Das wäre ja dann wohl auch fällig, wenn Erlassjahr wäre. Alte Rechnungen abhaken. Vielleicht könnte sie dann auch wieder besser schlafen und ihr Magen würde nicht mehr schmerzen, wenn sie was Scharfes isst. Gefangene werden frei, hat Jesus aus der Jesajaschriftrolle gelesen. Kezia könnte frei werden vom Groll, wenn Jesus recht hätte mit dem Erlassjahr.
Weil die Predigt heute anscheinend ausfällt, Jesus hat ja nur einen einzigen Satz gesagt, kommt jetzt ein Psalm dran. Kezia singt mit allen zusammen: „Wir sind entkommen wie ein Vogel aus dem Netz des Jägers. Das Netz ist zerrissen und wir sind frei! Unsere Hilfe kommt vom Herrn, der Himmel und Erde gemacht hat.“ 28 n. Chr. in Nazareth.

Hat Kezia Jesus richtig verstanden? Jawohl, das hat sie. Jesus hat damals tatsächlich nur Worte der Gnade vorgelesen und die Botschaft von der Vergeltung weggelassen. Die Menschen in der Synagoge haben das sehr genau gehört – und sich geärgert. „Alle Anwesenden sprachen sich gegen ihn aus und waren befremdet über die Botschaft der Gnade, die er hören ließ. »Wie kann das sein?«, fragten sie. »Ist das nicht Josefs Sohn?«“ Jesus hat einseitig gepredigt, so wie er überhaupt einseitig gelebt hat. „Gott hat den Sohn nicht in die Welt gesandt, dass er die Welt richte, sondern dass die Welt durch ihn gerettet werde.“ (Joh 3,17) So hat Jesus es an anderer Stelle gesagt. Das ist allerdings einseitig. Und später hat der große Prediger Paulus es ähnlich ausgedrückt: „Gott war in Christus und versöhnte die Welt mit sich, indem er den Menschen ihre Verfehlungen nicht anrechnete und unter uns das Wort von der Versöhnung aufgerichtet hat.“ (2Kor 5,19) Gott hat hier etwas getan, einseitig. Er hat die Welt mit sich versöhnt. Das hat er getan, bevor wir Menschen an irgendeine Umkehr gedacht haben. Da hat Gott schon bei sich beschlossen, uns unsere Verfehlungen nicht anzurechnen – so sagt Paulus es wirklich. Es ist göttlich, Schulden durchzustreichen. Es ist christusgemäß, alte Rechnungen abzuhaken. Es ist Gottes Plan, immer wieder Zeitpunkte zu setzen, wo der Zähler auf Null springt. Das ist Gottes Idee hinter dem Gnadenjahr, hinter dem Erlassjahr. Als Jesus kam, kam auch dieser gesetzte Zeitpunkt: Schuldenerlass.
In unserem Sprachgebrauch gibt es ein Wort, das diese Idee ungefähr meint. Wir sprechen von einer Amnestie. Das bedeutet: Es gibt Täter, die schuldig geworden sind, aber die Schuld wird nicht weiter verfolgt. Die Strafe wird nicht bis zu Ende durchgezogen. Wer eine Amnestie bekommt, wird nicht von allem reingewaschen, als hätte er nie etwas getan. Nein, es bleibt bestehen: der ist schuldig, der ist ein Täter. Aber dann wird die Sache abgehakt.
Eine Amnestie ist strenggenommen ungerecht. Manchmal ist das aber der einzige Weg für Aussöhnung und Neubeginn. Als die staatliche Rassentrennung in Südafrika zu Ende ging, hat man eine Wahrheits- und Versöhnungskommission eingesetzt. Sie hat die Verbrechen der weißen Machthaber beleuchtet. Die Täter – sie hatten z. B. gefoltert und gemordet – mussten ihre Verbrechen zugeben. Sie mussten den Schwarzen gegenübertreten, an denen sie sich vergangen haben. Aber danach wurden sie nicht bestraft. So wollte man einen Neuanfang für das Land möglich machen. Sehr schwer war das für diejenigen, deren Angehörige z. B. grausam getötet worden waren. Gerechtigkeit, kann man sagen, sieht anders aus. Aber wenn man Vergeltung gewollt hätte, dann wäre das Land vielleicht jahrzehntelang in Hass und Kampf versunken. Amnestie – sie hat einen Neuanfang gebracht. Zähler auf Null.

Gehen wir weiter auf unserer Zeitreise. Marburg, 2009 n. Chr. Wir sprechen in unserer Gemeinde immer wieder davon, dass es Ballast aus der Vergangenheit gibt. Spannungen, ungeklärte Konflikte. Viele wissen nicht genau, was jeweils gemeint ist. Wir haben auch nicht klar benannt, wie lange die einzelnen Dinge schon zurückliegen. Vielleicht denkt auch jeder an einen anderen Brandherd oder ein anderes Glutnest.
In einem Gemeindeforum wurde nun der Vorschlag gemacht: Wir bestimmen für uns einen Tag, ab dem dieser alte Ballast nicht mehr herbeizitiert werden soll. Einen Stichtag, an dem wir diese Sachen abhaken. Heute ist der erste November. Im November ist der Buß- und Bettag wie geschaffen für so ein Vorhaben.
Ich möchte uns einladen, dass wir uns auf eine solchen Erlasstag vorbereiten. Nicht schon heute ist der Tag, wo alte Geschichten abgehakt werden sollen. Nein, das braucht wohl noch Vorbereitung. Aber bis zum 18. November, dem Buß- und Bettag, haben wir noch Zeit, um uns vorzubereiten – jeder kann es tun. Warum? Weil Schuldenerlass göttlich ist. Weil Jesus ein Erlassjahr ausgerufen hat. Weil Gott einseitig in Vorleistung getreten ist. Er hat unsere Auflehnung abgehakt. Er hat sie am Kreuz an seinem Sohn abgestraft und nun ist sie erledigt. Gott hat einen Tag gesetzt, diesen Tag von Golgatha. Weil dieser Karfreitag auf Golgatha wirksam ist bis in alle Ewigkeit, deshalb können wir für uns auch einen Aussöhnungstag ableiten von diesem Karfreitag.
Was auch immer alter Ballast ist – was auch immer einzelne belasten mag: Um eine Sorte von Spannungen wird es bei dem Aussöhnungstag nicht gehen. Es ist nicht unser schlimmstes Problem, dass wir momentan Meinungsverschiedenheiten haben. Dass wir uns noch nicht einig sind über unseren Weg in die Zukunft. Das ist keine Schuld vor Gott. Differenzen muss man barmherzig austragen und im Gespräch klären. Unsere Differenzen müssen wir uns einander nicht vergeben. Sie sind keine Schuld. Wir können höchstens schuldig werden in der Art, wie wir unsere Differenzen austragen. Wenn wir z. B. unbarmherzig sind. Das kann dann gleich hineingenommen werden in den Aussöhnungstag. Aber dass wir überhaupt gemeinsam um den richtigen Weg ringen – das ist noch keine Schuld vor Gott und es ist kein Grund zur Empörung. Sonder wir sprechen über Streitigkeiten aus der Vergangenheit.

Wie können wir alten Ballast loswerden? Wie sähe es praktisch aus, wenn wir unsere Hände öffnen, um loszulassen?
Es gibt drei Möglichkeiten. 1. Möglichkeit: Ich war direkt beteiligt an einem Konflikt und derjenige, mit dem ich quer lag, ist noch erreichbar für mich. Man könnte noch miteinander sprechen. Das Klima ist noch nicht völlig vergiftet. Dann wäre die erste Möglichkeit eben die, dass ich ein Gespräch suche. Einen Termin verabrede. Eine Verabredung treffen – dafür ist es bis zum 18. November noch massenhaft Zeit.
2. Möglichkeit: Vielleicht ist es nicht sinnvoll, mit jemandem direkt zu sprechen. Vielleicht lebt er nicht mehr oder ist weggezogen oder er weiß gar nicht, was ich ihm übel genommen habe. Oder die Beziehung ist so brüchig, dass wir uns nur neu einander verletzen würden. Dann kann ich – als 2. Möglichkeit – ein seelsorgliches Gespräch suchen mit einer Vertrauensperson. In der Gegenwart Gottes kann ich Verletzungen loslassen, Schuld vergeben und Gott um Heilung bitten. Der Andere wird nicht sofort merken, dass ich die Sache begraben habe. Aber ich selbst werde es sofort merken.
3. Möglichkeit: Ich mache die Sache vor Gott mit mir selbst aus. Zu Hause im Gebet oder still für mich in der Gemeinde, am Buß- und Bettag im Aussöhnungsgottesdienst. Keiner merkt das – wohl aber Gott. Und ab dann werde ich alte Geschichten nicht mehr herbeizitieren und nicht mehr als Argument verwenden. Der andere, der mir quer liegt hat sich vielleicht gar nicht geändert. Aber ich habe mich geändert – einseitig.
Was könnten wir gewinnen, wenn wir uns auf so eine Aussöhnung einlassen? Zweierlei. Jeder persönlich kann Heilung erfahren. Und als Gemeinde könnten wir einen Neuanfang erleben. Beides wären Geschenke der Gnade. Sie sind nicht bei uns entstanden, sondern Gott hat sie vorbereitet. Aber um sie zu empfangen, müssen wir unsere Hände öffnen. Dazu lade ich dringlich und herzlich ein. Gottes Versprechen liegt schon lange vor. Jesaja hat es über den Messias, den Christus gesagt, und Christus will es auch heute noch tun:

Der Geist Gottes, des HERRN, ruht auf mir. Denn der HERR hat mich gesalbt, um den Armen frohe Botschaft zu verkünden, er hat mich gesandt, um die zu heilen, die ein gebrochenes Herz haben, um Freilassung verkünden für die Gefangenen und Befreiung für die Gefesselten, um ein Gnadenjahr des HERRN auszurufen [...], um alle Trauernden zu trösten. (Jes 61)

Werke des Christus! Amen.