Sonntag, 11. September 2011

11. September - 10 Jahre später

Vor zehn Jahren, wenige Tage nach den Terroranschlägen vom 11.9. 2001, habe ich diese Predigt gehalten. Ich war stark berührt, sogar bestürzt darüber, welche Ähnlichkeiten des Geschehens sich zu einem bestimmten Bibeltext gezeigt haben.
Nach zehn Jahren bleiben manche Fragen offen: Hat die Betroffenheit von damals zu einem wirklichen Hören auf Gott geführt? Zu einer Umkehr, einer Lebensveränderung? Ich bin beunruhigt darüber, wie sehr ich selbst weitergelebt habe wie zuvor. Vielleicht ist die Erinnerung nach zehn Jahren ein guter Anlass, noch einmal über diese biblische Botschaft nachzudenken.

Brennende Stadt, stürzender Turm.
Der Terror-Anschlag vom 11.9.2001 im Spiegel der Bibel

Predigt über Offb 18,1-19 und Lk 13,1-5, am 16.9.2001 gehalten in der Friedenskirche Lüneburg
Liebe Gemeinde,
seit letzten Dienstag ist die Welt nicht mehr die gleiche. Das kann man ohne Übertreibung sagen. In den USA und hier bei uns ist die Sorglosigkeit dahin. Selbst wenn es nicht zum Krieg kommt, hat sich doch die Gesellschaft verändert. Außer daß unvorstellbar viele Menschen getötet wurden, ist es auch eine schallende und gezielte Ohrfeige in das Nationenbewußtsein der Amerikaner. Die Seele der Bürger der USA wird ihre Narben noch lange tragen, und dementsprechend wird sich dieses Land auch noch lange verhalten.
Was sollen wir dazu sagen? Was denkt Gott über diesen terroristischen Anschlag? Kann man darüber überhaupt was sagen? Muß man nicht die Hand auf den Mund legen? In aller Zurückhaltung gehe ich das Wagnis ein, nicht bloß einen Kommentar zu sprechen, sondern eine Predigt aus Gottes Wort zu halten. Und knüpfe zunächst daran an, was wir eben aus der Bergpredigt von Jesus gehört haben: „Selig die Trauernden, denn sie werden getröstet werden. Selig, die keine Gewalt anwenden, denn sie werden das Land erben. Selig, die hungern und dürsten nach Gerechtigkeit, denn sie werden satt werden. Selig die Barmherzigen; denn sie werden Erbarmen finden. Selig, die Frieden stiften, denn sie werden Kinder Gottes genannt werden.“ Das ist die Sicht Gottes: Er will trösten. Er steht auf Seiten der Opfer. Der Mord an seinen Geschöpfen ist ein Anschlag auf den Schöpfer. Die schallende Ohrfeige hat nicht nur die Seele der USA-Bürger getroffen, sondern auch das Gesicht Gottes. Wenn die Welt mit den Angehörigen und dem Vaterland der Toten trauert, wenn Glocken läuten und Schweigeminuten gehalten werden, dann stehen wir als Christen vollen Herzens dabei. Auf dem Ankündigungsplakat für diesen Gottesdienst stand die Frage: „Leidet Gott mit den Opfern?“ Der Bergprediger Jesus sagt eindeutig: Ja, er leidet mit ihnen. Viele der Opfer sind ja leider nicht weit weg. Auch Deutsche sind umgekommen. Auch hierzulande, vielleicht auch in unserer Stadt und womöglich in unseren Reihen hier, ich weiß es nicht, sind Angehörige von Opfern aus den brennenden Häusern oder Flugzeugen. An ihrer Seite stehen wir, und das gerade auch im Namen Gottes.
Das ist übrigens keine Frage der Nation. Gott leidet nicht besonders mit, weil es das nordamerikanische Volk wäre, das auf seinen Dollarscheinen stehen hat: “In God we Trust” – „Auf Gott vertrauen wir“. Der Schöpfer ist getroffen über seine toten Geschöpfe nicht deshalb, weil es so oft geheißen hat: “God bless America”. Das himmelschreiende Unrecht wäre genauso groß, wenn Menschen in Schanghai oder Santiago, in Tunis oder Bangalore, in Bagdad oder Tiflis umgekommen wären. Der Schöpfer ist an menschengemachten Nationengrenzen nicht so sehr interessiert wie wir. Die Geschöpfe sind es, die ihm am Herzen liegen. Wenn es ein Volk gäbe, mit dem wir als Volk besonders fühlen, dann wären es die Juden. Jemand hat New York die zweitgrößte jüdische Stadt der Welt genannt, bezogen auf die Einwohnerzahl, und die USA sind ja eine politische Schutzmacht für Israel. Auch die Juden wurden gezielt getroffen. Hier würden wir genauer hinsehen, wenn es um Nationen geht. Doch ansonsten steht im Vordergrund: Menschen wurden getötet, und dieses Unrecht ist auch vor Gott ein Unrecht.
Dafür haben viele auch in unserem Land ein Empfinden – nicht nur für das Unrecht, sondern auch, daß es vor Gott eines ist. Wie selten zuvor wird nach Gott gefragt und wird gebetet – und auch öffentlich davon geredet. Das läßt hoffen. Offenbar sind wir so abgestumpft denn doch noch nicht, daß wir nicht wenigstens jetzt an Gott denken würden. Die Gewalt und der Tod haben ein so unvorstellbares Ausmaß angenommen, daß es wirklich das rein Menschliche überschreitet. Übermenschlich scheint es, und da kommen wir auf Gott. Es ist ein ehrliches Empfinden, das viele von uns dabei leitet, auch viele derer, die sonst nicht in der Bibel lesen. Und wenn irgendwann leider der Gewöhnungseffekt an den Schrecken eingesetzt hat, diese Gewöhnung, die wir aus unserer Fernsehgesellschaft kennen, dann ist Gott hoffentlich nicht auch damit wieder vergessen.
Dennoch sind wir zur Sorgfalt gerufen. Nicht alles, wofür Gott jetzt angerufen wird, ist im Sinne Gottes. Nicht jeder Ruf nach Gott ruft nach dem biblischen Gott, dem Vater Jesu Christi. Der Gott, der die westliche Welt liebt und die islamischen Araber haßt, ist jedenfalls nicht der biblische Gott! Und Rache ist nicht seine Absicht. Ich habe bisher noch nie in den Tagesthemen erlebt, daß vollständige Bibelverse vorgelesen wurden. Am Mittwoch nach dem Anschlag passierte jedoch genau dies. Die Kommentatorin sagte: „Präsident Bush muß jetzt das Neue Testament vergessen und das Alte Testament zur Hand nehmen.“ Und dann zitierte sie die Worte aus dem dritten Mosebuch, in denen von der Vergeltung Auge um Auge, Zahn um Zahn die Rede ist. Erschütternd fand ich das. Das ist eine klare Entscheidung! Eine Entscheidung für Religion, die unserem verständlichen Wunsch nach Vergeltung Rückenwind geben möge. Eine Entscheidung aber gegen die Worte Jesu und gegen Gott, den Vater Jesu Christi. Der Bergprediger hat nicht bloß die selig gepriesen, die nach Gerechtigkeit hungern und dürsten, sondern auch die Gewaltlosen, die Barmherzigen und die Friedensstifter. Wenn doch genauso viel von Jesus die Rede wäre, wie man jetzt von Gott redet!
Ich habe in der Predigt einen ersten Kreis geschlagen. Ich habe die Frage bewegt, ob Gott mit den Opfern leidet. Ich habe in die Bergpredigt Jesu geschaut und ein klares Ja gefunden. In einem zweiten Kreis möchte ich ausholen und fragen, ob die Bibel noch mehr sagt zur Katastrophe vom Dienstag. Ob noch eine andere Deutung darin liegt. Auf dem Einladungsplakat habe ich das mit der Frage skizziert: „Woran leidet Gott noch?“ Terror uns Gewalt gefällt ihm nicht. Was gefällt ihm noch nicht? Ich möchte dazu einen weiteren Bibeltext vorlesen, der in der Tat das Geschehen deutet. Es ist immer ein Wagnis, auch ein theologisches Wagnis, aktuelle Ereignisse biblisch zu deuten. Ich habe so etwas in der Predigt noch nie gemacht. Aber ich komme nicht vorbei an einem biblischen Abschnitt aus dem Buch der Offenbarung, der so klar schildert, was wir an den Fernsehschirmen sahen. Nach dem ersten Schock aus den Nachrichten war das mein persönlicher zweiter Schock, auf diesen Bibelabschnitt hingewiesen zu werden. Aus Offenbarung, Kapitel 18 – der Prophet beschreibt, welche Zukunftsschau er sieht:
Danach sah ich, wie ein anderer Engel vom Himmel herabkam. Er hatte besondere Macht, und von seinem Glanz erstrahlte die ganze Erde. 2 Mit gewaltiger Stimme rief er: »Gefallen ist Babylon, die große Stadt! Ja, sie ist gefallen! [...] 3 Haben sich nicht alle Völker von dieser Stadt und ihren Verlockungen berauschen lassen! Sie konnten gar nicht genug bekommen! Auch die Herrscher dieser Erde haben sich mit ihr eingelassen. Und durch ihren verschwenderischen Luxus rafften sich die Händler der Welt ihre Reichtümer zusammen.«
4 Dann hörte ich eine andere Stimme vom Himmel her rufen: »Verlasse diese Stadt, du mein Volk, damit du nicht mitschuldig wirst an ihren Sünden und von ihrem Plagen mitbetroffen wirst. 5 Denn ihre Sünden sind so unermeßlich groß, daß sie bis an den Himmel reichen. Aber Gott hat nicht eine einzige ihrer Schandtaten vergessen. [...] 7 So wie sie einst in Saus und Braus gelebt hat, soll sie jetzt Qual und Leid ertragen. Insgeheim aber denkt sie: „Ich bin Königin und werde weiter herrschen. Ich bin keine hilflose Witwe; Not und Trauer werde ich niemals erfahren.“ 8 Aber an einem einzigen Tag wird alles über sie hereinbrechen: Hunger, Trauer und Tod. Im Feuer wird sie verbrennen. Denn Gott, der Herr, der mit ihr abrechnet, ist stark und mächtig. 9 Wer wird sie dann beweinen, wer ihr Ende beklagen? All die Mächtigen, die Herrscher der Erde, die ihr nachgelaufen sind und sich mit ihr eingelassen haben, werden jammern und klagen, wenn sie den Rauch der brennenden Stadt sehen. 10 Zitternd vor Angst werden sie aus großer Entfernung alles mitansehen und laut schreien: „Ach, Babylon! Du großes, du starkes Babylon! In einer einzigen Stunde ist das Gericht über dich hereingebrochen!“ 11 Auch die Kaufleute der Erde weinen und trauern; denn niemand kauft mehr ihre Waren: 12 all das Gold und Silber, die Edelsteine und Perlen, feine Leinwand, teuerste Stoffe, Seide und scharlachrotes Tuch; edle Hölzer, Gefäße aus Elfenbein, kostbare Schnitzereien, Kupfer, Eisen und Marmor; 13 Gewürze, duftende Salben und Weihrauch, Wein und Olivenöl, feinstes Mehl und Weizen, Rinder und Schafe, Pferde und Wagen, ja sogar lebendige Menschen. 14 Auch die Früchte, die du so sehr liebtest, gibt es nicht mehr. Alle strotzenden und protzenden Dinge sind dahin. Nie mehr wird dieser Reichtum wiederkehren. 15 So werden die Kaufleute, die durch ihren Handel mit Babylon reich geworden sind, alles von ferne mitansehen, weil sie Angst haben vor den Qualen dieser Stadt. Weinend und jammernd werden sie rufen: 16 „Welch ein Elend hat dich getroffen, du mächtige Stadt! Wo sind all deine Schätze, die kostbare Leinwand, die Purpur- und Scharlachstoffe? Du strahltest doch in goldenem Glanz und warst geschmückt mit Gold, Edelsteinen und Perlen! 17 Und in einer einzigen Stunde ist alles vernichtet, zerstört und verloren!“ Von weitem beobachteten Kapitäne und Steuermänner mit ihren Schiffsbesatzungen, was dort geschah. 18 Als die den Rauch der brennenden Stadt sahen, riefen sie: „Was auf der Welt konnte man mit dieser Stadt vergleichen?“ 19 In ihrer Trauer streuten sie sich Asche auf den Kopf, und laut weinend klagten sie: „Welch ein Jammer um dich, du mächtige Stadt! Mit unseren Schiffen wurden wir reich durch deinen Reichtum. Und so schnell ist es damit nun endgültig vorbei!“
Das ist das Bild, welches der biblische Prophet gesehen hat: Eine Stadt, Zentrum des Welthandels, Hochburg des Luxus. Sie ist gefallen. An einem Tag, ja in einer Stunde hat das Unglück sie getroffen. Nur noch von Ferne kann man sehen, wie der Rauch über der Stadt steht, und es sind vor allem die Händler und Kaufleute, die klagen: All unser Gewinn ist verloren. Unsere Geschäfte werden wir nie mehr so lukrativ abwickeln können wie bisher. In der Tat – alle Handelsgüter sind im Kurs gefallen; keiner kauft sie mehr. Diese Stadt wird Babylon genannt. Und Bibellesern zu allen Zeiten war klar, daß das ein symbolischer Name sein muß. Oft hat man gemeint, das antike Rom sei diese Stadt, und das nicht zu Unrecht. Doch einige Einzelheiten passen nicht auf das antike Rom – alle Bemerkungen, die vom Welthandel sprechen.
Ist also New York diese Stadt? Wurde ihr Unglück vor zwei Jahrtausenden in der Bibel angekündigt? Hört bitte genau zu, was ich sage und was ich nicht sage! Ich sage nicht: Jetzt ist die letzte Phase der Weltgeschichte angebrochen, die Endzeit. Wenn auch die biblische Vision auf den letzten Seiten der Bibel steht, habe ich doch keinen Anhaltspunkt, um heute die Endzeit auszurufen. Ich sage auch nicht: Gott habe die Menschen für ihre Sünden bestraft. Wer umgekommen ist, sei wegen seiner Schuld umgekommen. Nein, nur einer ist ganz unmittelbar wegen unserer Schuld umgekommen: Jesus Christus am Kreuz, stellvertretend. Auch sage ich nicht: Die Terroristen, wer immer es auch war, seien Werkzeuge Gottes gewesen, denn sie hätten das durchgeführt, was die Bibel hier ankündigt. Nein, Gott stiftet niemanden zur Gewalt an. Im biblischen Text ist ja überhaupt kein Urheber der Katastrophe angegeben. Niemand kann seine Untaten aus der Bibel legitimieren. Was aber dann enthüllt uns diese biblische Vision?
Sie macht klar, wozu Gott „Nein“ sagt. Der Name der Stadt „Babylon“ ist Symbol für das Antigöttliche – für das, was Gott ablehnt. Das ist, ich sag’s noch einmal, weder eine Nation noch ein einzelner Mensch. Wir zeigen nicht zynisch mit dem Finger nach Amerika. Sondern es geht um eine Haltung, einen Lebensstil. Und zwar um die Haltung, die ihr Vertrauen auf Macht setzt, auf Reichtum, auf Unterdrückung und trügerische Selbstsicherheit. Babylon in der biblischen Vision – das Welthandelszentrum, in dem nicht nur Luxusartikel aller Art umgeschlagen werden, sondern auch Menschenseelen. Ich zitiere dazu aus einem Kommentar aus dem Jahr 1969 – geschrieben, Jahre bevor die Türme des World Trade Centers standen. Babylon „hatte einen Luxus entwickelt, der unverschämt und geradezu sündhaft war. Weil ein solches Ausmaß an Reichtum immer auf Kosten anderer Menschen und Völker geht, darf kein Mensch ihn sich leisten. Es gibt einen unsozialen Reichtum. Dabei läßt sich allerdings nicht leugnen, daß dieser Luxus zu einem wirtschaftlichen Faktor ersten Ranges werden kann. Er versorgte im Falle Babels hunderte von Gewerben bis in die letzten Winkel des Landes mit Aufträgen, hielt den Geldumlauf im Gang und bedeutete einen unersättlichen Markt. [...] Aber eine Zivilisation, aufgebaut auf [Abgötterei] und Geldsucht, kann keinen Bestand haben. Eines Tages heißt es: Gefallen, gefallen ist Babel.“1
So weit der Bibelkommentar. Das ist es, was Gott nicht gefällt: Wenn der Wohlstand die Basis unseres ganzen Lebens ist, wenn wir darauf vertrauen und wenn das auf Kosten anderer geschieht. Niemand wird ja leugnen, daß die dritte Welt auch (!) deswegen arm bleibt, weil wir im Westen unseren Wohlstand ausbauen. Das ist es, was Gott anprangert, wenn er es mit dem Namen „Babylon“ bezeichnet.
Und hier können wir uns nicht ausnehmen, wir Deutschen nicht und wir Christen nicht. Denn wir sind Teil dieser Gesellschaft. Was unsere Gesellschaft ausmacht, das wird in diesen Tagen klar erkennbar. Der Kanzler und viele andere Politiker haben erklärt: Der Angriff auf das Pentagon und das World Trade Center war auch ein Angriff auf das Herz unserer Gesellschaft. Damit ist alles gesagt. Das also ist das Herz unserer Gesellschaft, nicht bloß nach Auskunft einiger Frommer, sondern nach Auskunft derer, die diese Gesellschaft gestalten: Militärische Verteidigung und der Welthandel der Industriestaaten. Auf makabre Weise haben sich die Terroristen diejenigen Ziele ausgesucht, die am meisten Symbolkraft haben. Und wenn wir diesen erschütternden Bibeltext daneben halten, bekommt das Ganze aus Gottes Sicht noch einen Namen: „Babylon“, also: das, was Gott ablehnt. Das, was bei Gott Trauer und Zorn hervorruft. Der Mord an den Opfern ist ein Schlag der Terroristen ins Gesicht Gottes. Doch genau so ein Schlag in sein Gesicht ist unser Lebensstil, unser Vertrauen auf Wohlstand und auf die politisch-militärische Absicherung dieses Wohlstandes. Gott leidet mit den Opfern, jawohl. Doch genauso leidet er an unserem menschlichen Herzen, das dem Geld verhaftet ist und das verhärtet ist gegenüber den Armen, die mit ihrer Armut für unseren Wohlstand bezahlen. Dazu sagt Gott Nein! Davon müssen wir umkehren. Natürlich kann kein einzelner von uns austreten aus dieser Gesellschaft. Natürlich ist es nicht damit getan, von nun an mit schlechtem Gewissen zu konsumieren. Aber daß wir unseren Lebensstil allzu fraglos hingenommen haben und für den Normalfall erklärt haben; daß wir nicht unzufriedener waren mit den ungerechten Strukturen, welche unsere Industriestaaten hervorbringen, das ist unsere Schuld. Und sie wird aufgedeckt im Spiegel der Terroranschläge auf die symbolischen Herzen unserer Gesellschaft. Selig sind, die hungern und dürsten nach Gerechtigkeit sagt Jesus. Selig also alle Angehörigen der unschuldig umgekommenen Opfer. Selig aber auch alle Armen dieser Welt, die jahrzehntelang schon gehungert und gedürstet haben nach Gerechtigkeit, und wir leben auf Seiten derer, die den Handel treiben und davon profitieren und auf diese Weise auch im Verborgenen, wie der Bibeltext es sagt, mit „Seelen von Menschen“ handeln, mit ihren Leben. Die Anklage Gottes steht. Auch wenn die Zeiten der Sklaverei weithin vorbei sind.
Darin liegt der Schock, liebe Gemeinde und liebe Gäste, der zweite Schock, den ich empfand, als ich auf dieses Bibelwort stieß. Die von Gott angeklagte Stadt namens Babylon – das sind auch wir. Wir Angehörige westlicher Industriegesellschaften. Auch wir Christen. Christen haben immer wieder versucht herauszufinden, wer denn in der biblischen Vision gemeint sei: Das gottlose Rom? Der gottlose Kommunismus? Der Islam vielleicht? Der Hammer ist nun dies: Wenn die Deutung dieser Predigt stimmt, daß Bibeltext und Attentat zusammengehören – und bitte prüft selbst nach, ob sie stimmt! – wenn sie stimmt, dann sind auch wir westlichen Christen gemeint unter denen, die tun, was Gott ablehnt. Dann sagt Gott Nein zum Vertrauen in unsere Gesellschaftsordnung. Natürlich vertrauen wir auch Gott und Gott am meisten. Aber Hand aufs Herz: Wieviel reale Sicherheit, wieviel tatsächliche Beruhigung haben wir doch bezogen aus unserem Wohlstand? Aus unserer Gesellschaftsordnung? Aus unserem stabilen Staatengefüge?
Wenn es eine biblische Deutung des Terror-Attentats gibt, dann ist es diese: Das Attentat muß uns aufrütteln und zur Umkehr rufen. Wir sind vor die Wahl gestellt, daß wir Schluß machen mit unserem doppelten Vertrauen auf Gott und auf unsere Gesellschaft mit ihrem Wohlstand. „Verlaßt diese Stadt“, also diesen Lebensstil ‚Babylon‘. Gott ruft uns zur Umkehr – und zur Hinkehr zur Gerechtigkeit. Das wird auch heißen, daß wir die Not der Armen ernster nehmen als wir weithin bisher getan haben.
In solcher Umkehr werden wir aber auch Halt finden. Da, wo jetzt in der Welt Angst regiert, wo man getroffen spürt, wie verletzlich und angreifbar unsere Zivilisation ist, wie man der Willkür von Selbstmordattentätern ausgeliefert ist, da ruft Gott zum Glauben. Ruft dazu, unsere Fundamente in ihm festzumachen. Unsere Wurzeln herauszuziehen aus dem Boden, der lang schon ethisch vergiftet war, und wir haben es nicht sehen können oder wollen. Seien wir nicht bloß aufgewühlt von den Nachrichten. Seien wir aufgerüttelt zu Gott hin. Daß uns die Frage nach ihm nicht mehr losläßt, auch wenn wir uns an die Katastrophe gewöhnt haben. Gott bietet uns das Vertrauen an. Er ist ja der letzte Herr der Welt. Auch das macht das Buch der Offenbarung deutlich: All das Schreckliche, das noch kommen kann, ist eingebettet in Gottes Herrschaft. Gott läßt sie sich nicht aus der Hand nehmen. Bei ihm haben wir eine viel sicherere Zuflucht als in den Sicherheitsangeboten unserer Zivilisation. Machen wir also neu ernst mit Gott. Drücken wir es konkret aus in der Hinkehr zu ihm und in der Abkehr vom falschen Vertauen und auch in der Abkehr von Ungerechtigkeit, die Gott kraß mißfällt.
Die brennende Stadt heute – sie ist nicht von Gott inszeniert worden. Gott bestraft damit nicht diejenigen, die den Tod fanden. Wir aber sind es, die diese brennende Stadt deuten können. Ich deute sie so, daß Gott darin aufdeckt, was er haßt. Ich deute sie im Licht der Bibel als Aufruf zur Umkehr.
Zum Schluß noch ein weiteres Bibelwort. Es dient dazu, das Gesagte noch einmal zu bündeln. Es bringt uns nichts Neues, aber unterstreicht noch einmal, was die Bedeutung von Katastrophen im Lichte Gottes ist. Lukas 13:
Zu dieser Zeit berichtete man Jesus, daß Pilatus einige Männer aus Galiläa während des Opferdienstes im Tempel hatte [blutig] niedermetzeln lassen. [...] 2 «Ihr denkt jetzt vielleicht», sagte Jesus, «diese Galiläer seien schlimmere Sünder gewesen als andere Leute, weil sie so grausam ermordet wurden. 3 Ihr irrt euch! Aber eins sollt ihr wissen: Wenn ihr euch nicht zu Gott hinwendet und euer schlechtes Leben ändert, dann werdet ihr genauso umkommen. 4 Erinnert euch an die achtzehn Leute, die starben, als der Turm von Siloah einstürzte. Glaubt ihr wirklich, daß ausgerechnet sie die schlimmsten Sünder in Jerusalem waren? 5 Nein! Aber wenn ihr euer Leben nicht ändert, wird es euch ebenso gehen.»
Nicht nur von der brennenden Stadt redet die Bibel, sondern auch vom stürzenden Turm. Im Gegensatz zur Vision über Babylon ist die Begebenheit mit dem stürzenden Turm ein echtes geschichtliches Vorkommnis. Die Leute damals fragten, was dieses Unglück zu bedeuten hatte. Jesus antwortet: Ihr könnt an dem Unglück nicht ablesen, wer etwa gesündigt hat. Die Umgekommenen waren keine besonderen Sünder, die Gott etwa bestraft hätte. Vielmehr hätte er Anlaß, uns alle zu bestrafen, und daher gibt es jetzt nur eins: Umkehr zu Gott.
Keiner möge die heutige Predigt als zynisch empfinden, wenn ich angesichts des zehntausenfachen Leids zur Umkehr aufrufe und wenn ich aufzeige, was Gott ablehnt. Damit das richtig gehört wird, deshalb habe ich eben noch diesen weiteren Bibelabschnitt herangezogen. Der stürzende Turm, ob er nun 18 wie damals oder 1800 oder 18.000 erschlüge – er ist keine unmittelbare Strafe Gottes. Aber deutlich wird, wie abhängig wir von Gott sind. Wie wenig unsere eigene Sicherung vermag. Wir haben heute Gelegenheit, uns Gott zuzuwenden. Das Gespräch mit ihm aufzunehmen. Unsere Lebenswurzeln zu überprüfen. Gott läßt uns heute sagen, angesichts der Ereignisse der letzten Woche: Kehrt um zu mir. Sucht mich, und ihr werdet leben!
Amen.

1A. Pohl, Die Offenbarung des Johannes Bd. 2, Wuppertal (Sonderausgabe) 1983, 222.

Samstag, 28. Mai 2011

Das Portal zu Gottes Gegenwart

Predigt über 2Chron 3,17: Das Portal zu Gottes Gegenwart

Liebe Gemeinde,

jeder, der hier sitzt, ist heute morgen am Eingang wieder freundlich begrüßt worden. Das ist ja jeden Sonntag so. Und es macht einen Unterschied, ob ich in die Kirche gehe durch einen Eingang voller Freundlichkeit hindurch, oder ob alle gleichgültig sind.

Das ist überhaupt so, es ist ein Grundmuster in unserem Alltag: Das Eingangstor entscheidet. Wie der Eingang ist, das bestimmt meist auch über den Rest. Das Eingangstor zu einem neuen Tag: Wenn ich meine Frau mit einem freundlichen Wort begrüße und anstrahle, wenn dies das erste für sie an ihrem Tag ist, dann läuft der Tag auch gleich ganz anders. Die Gegenprobe würde es beweisen.

Früher gab es große Kaufhäuser, die am Eingang wie eine Luftschleuse hatten. Es wurde warme Luft von oben gepustet, und wenn ich im Winter so ein Kaufhaus betrat, war das eine Wohltat. Da stieg natürlich meine Kauflust. Also – der Eingang ist entscheidend. Auf das Portal kommt es an.

Wie ist es, wenn wir zu Gott kommen? Wie empfängt Gott uns in seiner Gegenwart? Durch welches Portal kommen wir zu ihm?

Ich möchte mit euch heute einmal den Tempel ansehen, den Salomo für Gott gebaut hatte. Und bei diesem Tempel speziell das Portal zum Heiligtum. Und bei diesem Portal nur zwei Besonderheiten. Sie stehen in 2. Chronik 3,17.

Und er [Salomo] richtete die Säulen vor dem Tempel auf, eine zur Rechten und eine zur Linken, und er nannte die zur Rechten Jachin und die zur Linken Boas.“

Das also ist das Portal zum Heiligtum, der Eingang zu Gottes Gegenwart: zwei Säulen rechts und links. Hier und hier sieht man das als Rekonstruktion.

Was bedeuten diese beiden Säulen? Nun, ich weiß nur, was die beiden Namen bedeuten. Jachin heißt: „Er wird aufrichten.“ Damit wird Gott gemeint sein. Gott wird aufrichten. Und die andere, Boas, heißt: „In ihm ist Stärke.“ In Gott wieder.

Er wird aufrichten. In ihm ist Stärke.

Das sind zwei Sätze. Auf Hebräisch besteht jeder Satz aus nur einem Wort. Bitte erlaubt mir, noch ein wenig Sprachkunde zu betreiben. Denn die Form diese beiden Ein-Wort-Sätze ist sehr interessant. Es sind zwei völlig verschiedene Sprachformen.

Fangen wir mit Boas an. Das ist im Hebräischen ein Satz ohne Tätigkeitswort, ein Satz ohne Verb. „In ihm: Stärke.“ So was kennen wir bei uns auch, z.B. aus Zeitungsschlagzeilen: „Panik bei Aktienanlegern“. Oder aus Politikersätzen, Unübertroffen ist da Franz Müntefering: „Programm gut, Partei gut, Frau gut“. (Über die damalige Ministerpräsidentin von Schleswig-Holstein.) Wir kennen das auch aus dem Film: „Ich Tarzan, du Jane.“ Also Sätze ohne Verb.

Solche Sätze funktionieren wie ein Baukasten: Stein auf Stein. Da ist keine Bewegung drin, da steht alles fest. Eins plus eins. Und genau so ein Satz ist „Boas“. „In ihm: Stärke.“ Da wackelt nichts. Allein schon die Form dieses Namens strahlt etwas aus: Stabilität. Da kann man sich anlehnen und drauf verlassen.

Stein auf Stein. Neulich war ich mit meinem Sohn in Trier, und wir haben auch das römische Stadttor gesehen, die Porta Nigra. Die ist ganz aus behauenen Steinblöcken gebaut. Erst hatte man die noch mit Metallklammern verbunden. Aber ein paar hundert Jahre später wollte man das wertvolle Metall anders verwenden und hat die Klammern rausgenommen. Die Steine halten dennoch fest aufeinander, ohne Mörtel und Klammer. Wie für die Ewigkeit gebaut.

So ein Satz ist also „Boas“. „In ihm: Stärke.“ Wer in den Tempel geht und wer dann – als Priester – das Heiligtum betritt, der kommt an dieser Säule vorbei. Sie steht da und ihr Name steht da und es ist alles fest und klar. Das ist die Botschaft dieser Säule.

Und dann die rechte Säule namens Jachin. Auch dieses eine Wort ist im Hebräischen ein kompletter Satz. Aber nun ein ganz andersartiger. Es ist nämlich ein Tätigkeitswort, ein Verb: „Er wird aufrichten.“ Wir brauchen im Deutschen drei Wörter, das Hebräische nur eins. Es ist ein Satz voller Energie, voller Möglichkeiten. Das Bild von den Steinen der Porta Nigra passt da überhaupt nicht. Sondern eher das Bild einer Katze. Sie ist zusammengerollt, aber kann jederzeit losspringen und auf einen Baum sausen. So ist dieses Wort: Ein Bündel voller Dynamik. Jachin. Er wird aufrichten. Wer in Gottes Gegenart ging damals, der musste also auch an dieser anderen Säule vorbei, an diesem anderen Satz voller Bewegung.

Zwei Säulen. Jachin und Boas. Diese Säulen haben ihre Botschaft. Der eine Name ist ein Energiebündel und der andere ein festgefügter Steinquader. Das ist das Portal in Gottes Gegenwart.

Bleiben wir noch einen Moment bei den Namen und den beiden Sätzen. Sie haben noch einen Unterschied. Um was geht es in diesen beiden Sätzen? Was ist das Thema? Wer oder was regiert jeden Satz?

In ihm: Stärke“. Boas. Das Thema dieses Satzes ist eine Sache. Die Stärke. Das ist ein Thema, das uns eigentlich jeden Tag beschäftigt. Reicht heute meine Kraft aus für das, was ich tun muss? Für das, was auf mich zukommt? Ganz oft beten wir morgens: Herr, gib mir Kraft für heute. Wer hat letzte Woche mal so gebetet? – Einige kennen auch das Lied aus dem blauen Liederbuch: „Gib mir Kraft für einen Tag. Herr, ich bitte nur für diesen.“ Viele Tage gibt es, wo das Thema des Tages einfach schon gesetzt ist. Heute der Arzttermin. Oder heute das knifflige Kundengespräch. Oder heute das Referat. Heute die Frage, ob ich wieder Schmerzen bekommen werde im Laufe des Tages oder nicht. Das Thema ist gesetzt. Wie können wir standhalten? „Gib mir Kraft für einen Tag!“

Manchmal stellt uns das Leben auch andere Themen. Ich muss eine Entscheidung treffen und der Tag kommt immer näher, an dem ich dazu mal was sagen muss. Das ist dann ein Thema, das ich natürlich auch in den Gottesdienst mitbringe. Oder ich treffe demnächst wieder einen Menschen, mit dem ich nicht gut auskomme. Dann ist dies mein Thema: Wie soll ich mich verhalten? Oder ich bin beschäftigt mit der Frage: Habe ich eigentlich noch Hoffnung für meine Ehe? Hoffnung, dass sich da etwas verändert, dass meine Ehe nicht mehr so oberflächlich bleiben muss? Dann ist die Frage nach der Hoffnung mein Thema.

Jeder von uns bringt seine Themen mit in den Gottesdienst. Hier suchen wir Gottes Gegenwart. Damals war Gottes Gegenwart im Tempel zu finden und dort stand die Säule mit dem Namen, der auch dieses Thema hatte: Kraft. Diese Säule sagt uns: Wenn du Gott aufsuchst, dann steht dein Thema schon da. Dein Thema kommt vor. Für dich ist gesorgt. „Gibt mir Kraft für einen Tag“ – diese Bitte ist dann bereits am Eingang zu Gottes Gegenwart beantwortet. Ihn ihm ist Kraft. Boas. Dieser unerschütterliche Satz, der so fest steht wie die Steine der Porta Nigra.

In ihm ist Kraft. Da heißt ja: Nicht in mir. Noch nicht. Sondern in ihm. Diese Säule steht am Rande des Eingangs zum Heiligtum. Am Rande. In der Mitte des Heiligtums ist der Räucheraltar – wo Gott also ganz zentral gesucht wird. In der Mitte steht nicht mein Thema – mein Anliegen, das, was ich brauche. Das ist nur am Rande, aber da ist es gut aufgehoben. Da ist es genau richtig. In ihm ist Kraft. Ich muss also zu ihm sehen. Von meinem Thema wegsehen, zu Gott hinschauen. Das geht. Denn für mein Thema, mein Bedürfnis ist ja gesorgt. Es wird mir sehr gut tun, dass mein Thema nicht ständig in der Mitte steht, sondern dass Gott selbst diese Mitte ausfüllt. Mein Thema, mein Problem, meine Herausforderung darf mich nicht mehr beherrschen. Das steht ihr nicht zu. Der Platz in der Mitte steht nur Gott zu.

Also sagt uns diese Säule dies: In ihm ist Stärke – in ihm. Also richte alle deine Gedanken und auch ruhig mal alle deine Gefühle auf ihn. Weg von deinem Thema. Geh zur Mitte, zu Gott. Für dein Problem ist gesorgt. Denn das was du brauchst, ist ja da: in ihm. Das ist die Botschaft der Säule namens Boas.

Wir hatten uns gefragt: Um was gebt es bei diesen beiden Säulen? Die Namen der Säulen sind ja Sätze – was ist das Thema dieser Sätze? Bei der einen Säule haben wir es schon gesehen: Das Thema ist eine Sache. Die Stärke.

Wie ist es nun bei der anderen Säule, bei der namens Jachin? Sie heißt ja „Er wird aufrichten.“ Das Thema dieses Satzes ist also keine Sache, sondern eine Person. „Er“. Um ihn geht es hier und um das, was er vorhat. Gott möchte aufrichten. Es ist keineswegs nur so, dass allein ich zu Gott komme und etwas brauche oder möchte. Sondern wenn ich zu Gott komme, möchte er auch etwas. Er hat ja auch längst seine Pläne. „Er wird aufrichten.“ Gott möchte etwas auf die Beine stellen. Er möchte eine Bewegung in die Welt bringen, die so noch nicht da war, die aber jetzt hinein soll. Weil Gott es will.

Was möchte Gott denn aufrichten? In der Bibel lesen wir an wichtigen Stellen: Gott möchte sein Königreich aufrichten. Gott möchte bei allen Menschen zur Geltung kommen und er will, dass seine gesunden und heilsamen Vorstellungen vom Leben beachtet worden. Gott möchte sozusagen einen Virus freisetzen, einen Virus von ansteckender Gesundheit, so dass immer mehr Menschen von ihm erfasst werden und sich nach Gott ausstrecken. Ihn König in ihrem Leben sein lassen. Gott möchte, dass seine Nachfolger überall sind wie Lichtpunkte und dass sich diese Lichtpunkte auf den Stadtplänen und Landkarten immer mehr ausbreiten. Gott möchte sein Reich aufrichten.

Das sagt die andere Säule am Eingang zu Gottes Gegenwart. Wenn ich also zu Gott komme, dann komme ich auch an seinen Vorhaben vorbei, an seinen Absichten und seiner Leidenschaft. Die will mich anstecken. Jachin! Er wird aufrichten!

Der Tempel von Salomo zeigt uns den Weg in Gottes Gegenwart. Er ist flankiert von den beiden Säulen. Auf der einen Seite: Was mich bewegt. Was ich brauche. Mein Thema. „Boas“. Auf der anderen Seite: Was Gott will. Was er vorhat. Seine Pläne für diese Welt. Er will und wird seine Königsherrschaft aufrichten. „Jachin.“

Wenn ich zu Gott will, muss ich da also durch. Und dieses Portal prägt mich. Wenn ich da hindurchgehe, dann merke ich: Meine Probleme, meine Bedürfnisse sind das eine. Soweit, so gut. Aber eben nur das eine und da gibt es auch noch das andere. Gottes Reich. Was mich jeden Tag beschäftigt, soll mich also nicht völlig ausfüllen oder in Beschlag nehmen. Sondern es bekommt seinen begrenzten Platz. Meine Sorgen stehen da, ja, aber sie sind begrenzt. Begrenzt durch das andere: Gottes Sorgen, seine Vorhaben. Mein Weg führt in der Mitte hindurch.

Es ist wie Jesus sagte: Euer tägliches Brot ist eine Bitte, die Gott gerne hört und gern beantwortet. Aber genauso wichtig ist die andere Bitte: dass Gottes Name geheiligt wird. Dass sein Reich kommt, dass sein Wille geschieht. Gott hat seine Absichten, und die sollen nicht untergehen und aufgesaugt werden von den Problemen meines Alltags.

Jesus hat noch mehr dazu gesagt: „Euch soll es zuerst um Gottes Reich und um seine Gerechtigkeit gehen, dann wird er euch alles Übrige dazugeben.“ (Mt 6,33) Das ist die Balance, die Gott für unser Leben bereit hat: Wir sorgen uns um Gottes Anliegen. Um das, was er aufrichten will. Und er sorgt sich um unsere Anliegen: das, was wir brauchen. Es sind eben zwei Säulen, die den Eingang zu Gottes Gegenwart bilden, und nicht nur eine. Wenn ich zu Gott hin möchte und durch dieses Portal hindurchgehe, dann formt mich das. Ich muss da schon durch – und ich merke: Mein Leben steht jetzt ein einem viel größeren Zusammenhang. Mein kleines Leben ist Teil einer ganz großen Geschichte.

Mein Leben – die Säule „Boas“. In ihm ist Stärke. Ich brauche Kraft und blicke als kleiner Mensch auf zu meinem großen Gott. In ihm ist alles, was ich brauche.

Und Gottes Geschichte: „Jachin“ – er wird aufrichten. Sein Reich kommt und erfasst auch mein kleines Leben.

Wie kann ich diese Balance in meinem Alltag hinkriegen? Wie gehe ich montagmorgens und dienstagmorgens durch dieses Portal hindurch?

Es gibt eine ganz einfache Möglichkeit. Ich bete morgens für meinen Tag und ich bitte natürlich um das, was ich brauche. Um Stärke und so weiter. Und dann bete ich noch einen weiteren Satz: „Gott, was hast du heute vor?“ Und dann mache ich vielleicht ein paar Minuten stille Pause und achte auf Gottes Geist. Das wäre also eine Möglichkeit. Beten: „Gott, was hast du heute vor?“ – und dann eine Weile auf Gottes Geist achten. So kann ich ein Gespür dafür bekommen, was Gott aufrichten will.

Ist das riskant? Stehe ich in der Gefahr, etwas zu verlieren? Zahle ich drauf – weil ich Gott ja nicht mehr detailliert vor-bete, was genau ich brauche und was er mir bitte und hoffentlich heute geben soll? Ich gebe das ja ein bisschen aus der Hand, weil ich nicht nur für meine Sorgen bete, sondern für Gottes Pläne. Verliere ich die Kontrolle? Ist das riskant?

Ja und nein. Ja, weil Gott souverän ist und weil seine Absichten wirklich viel größer sind als nur mein eigenes Leben. Aber dennoch nein, es ist nicht riskant. Gott will aufrichten, ja, schon, und zwar seine Königsherrschaft. Aber wie komme ich dabei weg? Wenn wir uns in der Bibel umschauen, wen oder was Gott noch aufrichten will, dann finden wir oft solche Versprechen:

Der Herr hält alle, die fallen, und richtet alle auf, die niedergeschlagen sind.“ Allein in den Psalmen steht das dreimal. Von Jesus wird berichtet, dass er eine kranke Frau an der Hand nahm „und er richtete sie auf“ (Mk 1,39). Und für alle Jesusnachfolger hat der Jakobusbrief das Versprechen: „Das Gebet des Glaubens wird dem Kranken helfen, und der Herr wird ihn aufrichten“ (Jak 5,15).

Gott richtet seine Königsherrschaft auf und das heißt auch, dass er alle Menschen aufrichtet, die es brauchen und die ihm vertrauen. Nein, wenn ich von meinen Problemen wegsehe, wenn ich mich selber aus der Hand gebe, dann stehe ich am Ende nicht als Verlierer da. Sondern auch ich gehöre zu denen, die Gott aufrichtet.

Das ist der Weg in Gottes Gegenwart. Damals mussten die Priester die zum Räucheropfer in den Tempel gingen, zwischen diesen beiden Säulen hindurch – diesen beiden Säulen mit ihrer Botschaft. So passierte damals der Gottesdienst.

Für uns bleibt die Frage: Wo ist für uns Gottes Gegenwart? Wo ist heute Gottesdienst? Wo finden wir Gott – und wo stellt Gott also seine beiden Säulen auf?

Im ersten Teil des Gottesdienstes haben wir aus der Bibel gehört, wie Paulus geschrieben hat: Gottesdienst ist unser ganzes Leben. Alles, was wir sind und tun, ist Gottesdienst. „Weil Gott so barmherzig ist, fordere ich euch nun auf, liebe Brüder, euch mit eurem ganzen Leben für Gott einzusetzen. Es soll ein lebendiges und heiliges Opfer sein – ein Opfer, an dem Gott Freude hat. Das ist ein Gottesdienst, wie er sein soll.“ (Röm 12,1) Weil Jesus uns mit Gott versöhnt hat und weil Gott uns seine Heiligen Geist geschenkt hat, deshalb kann jeder Moment an jedem Tag ein heiliger Moment werden, gefüllt mit seiner Gegenwart. Und jeder Ort, wo uns das passiert, kann zu einem Tempel werden.

Wenn ich mich frage, wo ich Gottes Gegenwart finde, dann fällt mir zuerst die Bibel ein. Und wenn ich bete. Es gibt auch berührende Begegnungen mit Menschen, in denen Gott ganz greifbar wird. Das habe ich schon oft erlebt, dass Gottes Gegenwart dann da ist und er dort sozusagen einen Tempel aufbaut.

Aber es gibt ja noch mehr. Unser ganzes Leben ist Gottesdienst? Also auch meine Arbeit. Bei mir im Büro oder bei dir im Betrieb oder in der Küche oder im Kinderzimmer. Gottesdienst ist, wenn ich mich dankbar entspanne bei einem Spaziergang oder einem guten Film – und eben dankbar dabei bin. Paulus sagt einmal, unser Körper sei ein Tempel des Heiligen Geistes. Mein Körper – egal ob er gesund ist oder krank, voller Kraft oder voller Schmerzen, ob er gerade auf dem Fahrrad sitzt oder im Behandlungsstuhl des Zahnarztes. Mein Körper ist ein Tempel für Gott, weil sein Geist in mir wohnt.

Überall dort also gelten beide Botschaften: In ihm ist Stärke. Für meine Bedürfnisse ist also gesorgt. Und er wird aufrichten – Gott führt seine großen Pläne durch und bezieht mich kleinen Menschen da mit ein. Ich versuche, die beiden Säule überall dort zu sehen, wo ich bin: Wenn ich Bibel lese. Wenn ich mein Büro betrete. Wenn ich mit meiner Frau spreche. Und demnächst wird es mir wie Timo gehen und ich muss mich öfter im Zahnarztstuhl aufhalten und auch da will ich diese beiden Säulen sehen.

Ich habe versucht, es ganz praktisch zu machen. Ich habe mir zwei Zettel geschrieben, auf einem steht „Jachin“ und auf dem anderer „Boas“. Einer klebt rechts neben meiner Bürotür und einer links. Das sind meine beiden Säulen. Da muss ich jeden morgen durch.

Man könnte es auch anderswo machen. Wenn ich Gott in meiner Bibel finde – warum nicht auf den vorderen Deckel „Jachin“ schreiben und auf den hinteren „Boas“? Oder jemand mag sich zwei Zettel links und rechts an seinen Computerbildschirm kleben. Oder wie wäre es mit zwei Magneten an der Waschmaschine und auf denen steht „Jachin“ und „Boas“?

Der heilige Gott wohnt mit seinem heiligen Geist in uns, und deshalb kann auch unser Alltag heilig werden. Und überall, wo wir Gott finden, sollten wir an zwei Wahrheiten vorbeigehen und sie aufnehmen:

In ihm ist Stärke und er wird aufrichten.

Streckt euch zuerst nach seiner Königsherrschaft aus und nach seiner Gerechtigkeit, dann wird er euch alles Übrige – z.B. Kraft – dazugeben.

Sein Reich komme. Und unser tägliches Brot gebe er uns heute.

Ich wünsche mir und uns allen, dass wir immer wieder in unserem Alltag durch dieses Portal hindurchgehen und dass dieser Durchgang uns formt und dass wir dann an allen möglichen Orten und in allen möglichen Momenten ankommen in Gottes Gegenwart.

Amen.

Sonntag, 6. Februar 2011

Geistesgegenwärtig führen

Bibelarbeit über Römer 8,28-39. Leiterschaftskonferenz der GGE; Braunschweig, 29.1.2011


Liebe Geschwister,

in einem meiner Gemeindedienste habe ich ab und zu eine alte Dame aus unserer Gemeinde besucht. Man hatte mir schon vorher gesagt, sie sei etwas eigen. Sie wohnte in einem großen Dorf. Ich fuhr vor ihrem Haus vor – ein altes Haus, nicht gut in Schuss. Ich klingelte – keine Reaktion. Aber die Tür war nur angelehnt. Ich also rein, vor jeder Zimmertür klopfend, und mit freundlichem, aber lautem Ruf. „Guten Tag, Frau …, hier kommt der Pastor zu Besuch.“ Ich trat in eine Wohnküche und dort fand ich die Dame. Es war dunkel im Zimmer; sie lag, glaube ich im Bett – jedenfalls war es bei späteren Besuchen so. Zwei bis drei Decken über sich gedeckt und einige Strickjacken an – klar, denn es war bitter kalt im Zimmer. Ich behielt meinen Mantel auch an. Und seitdem verliefen sie Besuche bei ihr immer so: In der dunklen, kalten Wohnküche, die Möbel Jahrzehnte alt. Ich stets im Mantel. Wir redeten, wir beteten, hierher trat ich in die Helligkeit und an die frische Luft, vorher war ich von Armut umfangen gewesen.

Das Verrückte dabei: Diese Frau war reich. Sie hatte ein erhebliches Vermögen, wie mir die Gemeindeleitung sagte. Sie besaß Grundstücke und Immobilien. Aber für sich selbst lebte sie in der Kälte.

Und noch verrückter: Ein dienstbarer Mensch aus der Gemeinde erzählte mir einmal, sie habe ihn um Hilfe gebeten für ihre Heizung. Und seine Untersuchung ergab: Im Keller lief der Brenner auf voller Leistung und stellte Tag und Nacht heißes Wasser bereit für Heizung und Wasserhahn. Rund um die Uhr. Bloß einen Stock höher hat sie es nie abgenommen. Aus Sparsamkeit. Obwohl sie kaum was sparte. Der Brenner lief ja volle Pulle.

Angenommen, diese alte Frau ist keine skurrile Ausnahme. Angenommen, wir gleichen ihr in vielen Momenten unseres Lebens! Wir haben im Keller alle Energie am Laufen, Brennstoff ist da, die benötigte Temperatur steht zur Verfügung – aber dort, wo wir leben, kommt nichts an. Wir zapfen nichts ab. Uns ist kalt und duster, wir leben sparsam, der kluge Mensch baut halt vor – aber das ist völlig absurd, weil ja niemand etwas davon hat, dass wir den Brenner nicht in Anspruch nehmen. Gleicht unser Leben aus Gottes Sicht nicht manchmal dem Haus dieser alten Frau? Bei mir ist es jedenfalls immer wieder so.

Wir haben auch heute wieder das großartige achte Kapitel von Paulusʼ Römerbrief auf dem Programm. Hier zeigt uns Gott, was er für Energien für uns bereit stellt. Heute hören wir auf die Verse 28-39:

(28) Wir wissen aber dies: Für die, die Gott lieben, wirken alle Dinge zum guten (Ergebnis) zusammen: (an) denen (geschieht das), die nach dem Entschluss berufen sind. (29) Denn diejenigen, die er (schon) im Voraus in seine Gedanken einbezogen hat, die hat er auch vorab dazu bestimmt, dass ihr Leben die gleichen Konturen annimmt wie das seines Sohnes, so dass der (dann) der Älteste unter vielen Geschwistern ist.

(30) Diejenigen aber, denen er vorab eine Bestimmung gegeben hat, die hat er auch gerufen. Und diejenigen, die er gerufen hat, hat er auch gerecht gesprochen. Die aber, die er gerecht gesprochen hat, die hat er auch zu Ehren gebracht.

(31) Was bleibt uns da noch zu sagen? Wenn Gott für uns ist – wer ist dann noch gegen uns? (32) Wenn jemand (so weit geht und) seinen eigenen Sohn nicht verschont, sondern ihn für uns alle preisgibt (– so wie er es ja auch wirklich getan hat –), dann hat er uns mit ihm (doch auch gleich) alles (andere mit-)geschenkt.

(33) Wer wird die von Gott Ausgesuchten (noch) beschuldigen? Gott ist (jedenfalls) der, der (sie) gerecht spricht. (34) Wer ist noch (da), der verurteilt? Christus Jesus ist der, der gestorben ist, mehr noch: der auferweckt wurde, der auch seinen Platz neben Gott zu seiner rechten Seite hat, der sich auch für uns verwendet.

(35) Wer wird uns noch abtrennen von der Liebe des Christus? Druck oder Engpässe oder Verfolgung oder Hunger oder wenn wir nackt dastehen oder Gefahren oder Waffengewalt? (36) So steht es geschrieben:

Wegen dir sehen wir jeden Tag dem Tod ins Auge.

Wir gelten als Schafe auf der Schlachtbank.“

(37) Doch in all dem sind wir überlegene Sieger durch den, der uns geliebt hat. (38) Ich bin nämlich davon überzeugt, dass weder Tod noch Leben, weder Engel noch herrschende Mächte, weder Gegenwärtiges noch Kommendes, auch keine Gewalten, (39) weder hoch Aufgerichtetes noch (unergründlich) Tiefes, auch nicht irgend ein anderes Geschöpf imstande ist, uns abzutrennen von Gottes Liebe, die in Christus Jesus da ist, unserem Herrn.

1. Unser wunderbares Leben …

Wenn wir die Gedankenführung von Paulus so hören, dann können wir wirklich große Augen bekommen: Was für ein großartiges Leben ist hier entworfen! Was für überragend große Möglichkeiten sind uns von Gott her zugesprochen! Wir müssen sie nur kurz abpflücken und aufsammeln:

Als Gott uns Jesus geschenkt hat, da hat er uns in diesem Augenblick alles andere mit geschenkt (V. 32). Jesus ist der Sieger über den Tod, der Anker in der Zeit, der Überwinder aus Liebe. Der ist uns gegeben – alles, was wir brauchen und je ausdenken können, ist darin enthalten. Unfassbar, aber wahr. Und unser Leben soll dabei die gleichen Konturen annehmen wie das von Jesus!

In allen Lebenssituationen sind wir überlegene Sieger (V. 37)! Nichts kann uns also wirklich anfressen. Nichts behält die Oberhand über uns.

Gott hat uns zu hohen Ehren gebracht (V. 30). Das sagt Paulus hier nicht für die Zukunft voraus, er hat nicht im Futur geschrieben, sondern in der Vergangenheitsform. Gott hat das bereits arrangiert und in Wirkung gesetzt: uns zu Ehren gebracht.

Die Rechtsforderung von Gottes Gesetz wird in uns erfüllt, aus uns heraus, durch Gottes Geist. Nicht wir müssen angestrengt zusehen, wie wir Gott gefallen, sondern das neue Leben findet durch den Heiligen Geist bereits statt in uns (V. 4).

Alles, was uns passiert, führt bei uns zu einem guten Ergebnis (V. 28). Keinem Unfall also, keiner Missgunst, keiner Enttäuschung sind wir hilflos ausgesetzt. Gott benutzt das und führt es zu guten Ergebnis.

Was für ein Leben ist uns zugesprochen! Was für ein Energiekraftwerk brummt da in unserem Keller!

Wem gilt das?

Paulus schreibt in der Wir-Form. Er sagt es also jedem Jesusmenschen zu, jeder Nachfolgerin und jeden Nachfolger. Wir treffen uns zur Leiterschaftskonferenz und behandeln leiterschaftsspezifische Themen. Also sind die Realitäten von Römer 8 auch für Christen in leitender Verantwortung eine hervorragende Ausstattung. Wir dürfen uns selbst so sehen, dass wir, auch im Blick auf unsere Verantwortungsbereiche, mit diesen Römer-8-Kompetenzen ausgestattet sind.

Aber derselbe Zuspruch gilt zugleich auch jedem einzelnen Jesusmenschen, für den du verantwortlich bist. Die Leute, die abends manchmal müde und unkonzentriert in deinen Hauskreis kommen. Die ewigen In-Frage-Steller, die vorausberechenbar in der Gemeindestunde eine skeptische Frage in den Raum werfen. Die Mitarbeiterin, die zehn mal pro Jahr zusagt, eine Aufgabe zu übernehmen, und acht mal musst du es dann doch selber machen. All das sind Jesusleute und haben dieses Römer-8-Kraftwerk im Keller. Halt mal einen Moment inne und sieh deine Leute so.

2. Unser klägliches Leben

Alles, was ich bisher genannt habe, ist aber nur die Hälfte unserer Lebensbeschreibung. Wir müssen noch einmal durch Römer 8 hindurch gehen und pflücken und aufsammeln, und dieser zweite Erntedurchgang ergibt das genau entgegengesetzte Bild.

Was ist das für ein klägliches, defizitäres Leben, mit dem wir zurechtkommen müssen!

„Druck, Engpässe, Verfolgung, Hunger, wenn wir nackt dastehen, Gefahren, Waffengewalt“ (V. 35) – für jedes einzelne Wort hiervon konnte Paulus in seinem Leben konkrete Beispiele erzählen. Und wenn wir hier mit dem Mikrofon durch die Reihen gingen, würden ebenfalls zahllose Beispiele zusammenkommen. Hunger mag da noch die seltenste Erfahrung sein, weil wir zufällig in einem Wohlstandsland sind. Aber Druck und Engpässe und schlaflose Nächte deswegen, klar, das kennen wir. Die Spannung – Magendruck? –, in einen neuen Tag zu starten, an dem eklige Gespräche mit schwierigen Menschen geführt sein müssen. „Waffengewalt“ – wenn wir daran denken, dass die Zunge und die eiskalte Intrige oft eine geladene und entsicherte Waffe ist – ja, auch solcher Waffengewalt sind viele von uns ausgesetzt. „Wenn wir nackt dastehen“, schreibt Paulus – ja, ich bin mit meiner Gemeindeleitung manches Mal nackt vor der Gemeinde gestanden, als wir eine Entscheidung vertreten mussten, die nötig war, weil wir wussten, wer wann etwas gesagt oder getan hatte. Um es der Gemeinde richtig zu erklären, hätte man Vertrauliches preisgeben müssen, schmutzige Wäsche waschen müssen. Das haben wir nicht getan. Das Argument, das uns überzeugt hatte, konnten wir nicht sagen, und das wurde als Schwäche ausgelegt. „Wenn wir nackt dastehen“ – allerdings.

„Herrschende Mächte und Gewalten“ sind am Werk, sagt Paulus. Sie trennen uns nicht von der Liebe Christi, aber sie sind am Werk, und in der Tat frage ich mich manchmal, welche Mächte und Gewalten wirksam sind, wenn Menschen unversöhnlich sind, Bitterkeit über Generationen transportieren, auf der Klaviatur der Machtmechanismen virtuose Konzerte spielen.

„Auch wir selbst seufzen tief aus uns heraus“, sagt Paulus in V. 23 – ja, allerdings. Und dann wissen wir nicht, was und wie wir beten sollen. Das ist unser Leben, auch als Jesusleute. Und diese Engpässe erfahren wiederum nicht nur wir als Leitende und Verantwortungsträger, sondern jeder Jesusmensch in unseren Verantwortungsbereichen. Wir sitzen da in einem Boot und müssen miteinander solidarisch sein in unseren Defiziten und Mangelerfahrungen.

3. Was bleibt unterm Strich?

Womit können wir also insgesamt gesehen rechnen, lieber Paulus? Du servierst uns hier große Sätze vom Sieg und bedrückende Erfahrungen der nackten Vorläufigkeit. Was steht uns denn in Aussicht für unser Leben im Diesseits? Mal so, mal so? Glückliche lichte Momente, wenn der dunkle Himmel mal gelegentlich aufreißt, aber oft wandern wir im Nebel?

Gut, das eine bleibt bestehen, das Erste und das Letzte: Nichts kann uns abtrennen von der Liebe des Vaters und der Liebe seines Sohns. Keine äußeren Umstände, weder Sieg noch Defizit, erlauben einen Rückschluss auf Gottes Liebe. Denn die ist konstant und zuverlässig, unabhängig von den Erfahrungen. Gut. Aber klingt das nicht doch allzu sehr nach „Macht nichts, ich habe dich trotzdem lieb“? Das Leben mit Gott ist gelegentlich wunderbar und doch meist bescheiden, aber trotz allem liebt er uns. Das Wörtchen „trotzdem“ – zeigt es nicht, dass außer der Liebe des Vaters sonst wenig zu erwarten ist auf der Ebene unserer Erfahrungsrealität? Was ist das für eine Liebeserklärung meiner Frau, wenn sie mir sagt: „Du hast ja deine Fehler, aber ich liebe dich trotzdem“? Ist das nicht eine Liebeserklärung mit angezogener Handbremse?

Für mich gehen die Fragen noch weiter. Wenn Paulus hier in Römer 8 eine Mixtur von Sieg und Bedrängnissen anbietet, frage ich mich: Wer ist denn Gott in all dem, dass er mich zwar lieb hat, aber ständig doch den Sieg so dosiert und die Unterlegenheitsmomente so oft zulässt?

4. Wer ist Gott eigentlich?

Für mich ist diese Frage letztes Jahr sehr zentral geworden, als ich nach 14 Jahren Dienst als Gemeindepastor in einer Seelsorgezeit zurückgeblickt habe und mich damit auseinandergesetzt habe, worunter ich seufzen musste in meinem Dienst. Geseufzt habe ich oft nicht wegen anderer Menschen, sondern unter mir selbst. Unter der Anfechtung, ich sei von Gott nur teilweise gut und nicht ausreichend genug ausgestattet worden für die Herausforderungen, mit denen ich im Laufe der Jahre konfrontiert wurde. Gott ist der Schöpfer. Gut. Aber wenn er mich in diese und jene Aufgabe gestellt hat, dann hätte er mir vielleicht noch präziser auf dem Leib schneidern könne, was ich an Gaben und Fähigkeiten dringend gebraucht hätte. Nun gibt es nicht nur Gott, den Schöpfer, sondern auch den Geist, den Neuschöpfer. Und den Sohn, Christus, den Versöhner. Die Frage, die mich bewegt, ist: Muss der Neuschöpfer in mir das ausgleichen, was der Schöpfer mir noch nicht mitgegeben hat? Macht Christus also in meinem Leben gut, was ich verdorben habe und was der Schöpfer vielleicht auch noch nicht so ganz gut gemacht hat?

Ist Gott, der Schöpfer, der Vater, verlässlich?

Wie ist das mit der Liebe des Vaters? Ist es wirklich eine „Naja-trotz-allem-dennoch“-Liebe? „Ich hätte eigentlich mehr von dir erwartet – du hast das nicht gebracht, aber naja, gut, ich hab dich trotzdem lieb“ –? Ist Christus das helle Fenster in einem Haus, das ansonsten dunkel ist?

Ich vermute stark, dass ungefähr die Hälfte von euch solche Fragen, solche Anfechtungen kennt und die andere Hälfte sich darüber nur wundert: nicht nachvollziehen kann, wie man die unabänderliche Liebe Gottes so verdunkelt erleben kann und den Vater und den Sohn auseinanderhalten kann. Aber es gibt sie, diese Zweifel, ob Gott uns aus sich heraus gut ist – oder ob er sozusagen erst von Christus dazu gebracht werden musste. In einer Römer-8-Auslegung von Hans- Joachim Eckstein finde ich dieselbe Frage wieder: „Hat Gott, der Vater, vor dem Eingreifen Jesu Christi seine Menschen nicht geliebt? Musste der Sohn etwa den Vater allererst umstimmen?“

Und auch die andere Frage ist nicht nur meine eigene gewesen: Bin ich in meiner Art, wie ich nun einmal bin, richtig für die Aufgabe, an die Gott mich stellte? Olaf Kormannshaus hat in einem Referat vor zwei Jahren diese Empfinden am Beispiel eines Pastorenehepaares beschrieben: „Bald hatten sie das Gefühl, irgendwie »falsch« zu sein. Nicht, etwas falsch gemacht zu haben, sondern falsch zu sein. Und es war, als schämten sie sich dafür, ganz eigenartig.“

Das Gefühl, irgendwie falsch zu sein: Wer mit diesem Gefühl ständig lebt, hat ja prächtige Aussichten, irgendwann auszubrennen. Ich sehe das, was eigentlich sein sollte – was ein guter, kompetenter Pastor (oder Hauskreisleiter oder Ältester oder Royal-Rangers-Leiter) bringen sollte – und sehe dagegen, was ich bin, und sehe die Kluft dazwischen.

Was für ein „effektiver“ innerer Antreiber ist diese Kluft! Effektiv, d.h. Höchst wirkungsvoll – aber dabei perfide und zerstörerisch.

Und wer ist Gott? Wenn er mich in eine Aufgabe stellte und mich doch nicht als Schöpfer passgenau dafür ausstattete – dann kann Gott doch nur noch der Antreiber sein. Der mich an den Start gesetzt hat und dann am Ziel auf mich wartet, ob ich's denn schaffe. Und wenn nicht – dann verurteilt mich Gott und ich kann bloß noch auf Christus hoffen, der es wieder gut macht. Der Schöpfer fordert – und der Neuschöpfer Christus gleicht aus: Ein total zerrissenes Gottesbild. Und nicht nur das. Auch ich selbst bin zerrissen dazwischen.

So ungefähr ging meine Anfechtung und in meiner Seelsorgezeit habe ich das in der Reflexion noch einmal beklemmend durchlitten.

Ist Gott aber so? Wer ist Gott?

In meiner Seelsorge-Einkehrzeit hat Gott dann in meine Gedanken Römer 8 eingeblendet – ein Heiliger-Geistes-Blitz. Und zwar folgenden Satz aus unserem heutigen Abschnitt:

Wer wird die von Gott Ausgesuchten (noch) beschuldigen? Gott ist (jedenfalls) der, der (sie) gerecht spricht. V. 33

Beschuldigen – ja, das kenne ich gut, das tue ich selbst. Gott ist der, der gerecht spricht. Nicht erst später Christus. Der Schöpfer und der Erlöser ist derselbe. Schöpfung und Neuschöpfung kommen vom selben Anbieter. Gott ist in sich eins. Nicht Christus ist das helle Fenster an einem Haus, das ansonsten dunkel ist, sondern das Haus ist in sich durch und durch erleuchtet. In Gott begegne ich keinem, der mich mit Vorbehalt behandelt. Hans-Joachim Eckstein schreibt über Vater und Sohn: „In ihrem gemeinsamen Anliegen, die Menschen für die vollkommene Gemeinschaft in Frieden und Gerechtigkeit zu gewinnen, stehen sich beide in nichts nach: […] während der Sohn sich angesichts aller Anklagen schützend vor sie stellt, wendet sich ihnen der Vater selbst fürsorglich und liebevoll zu.“ Ich habe das vor einem halben Jahr über dem Römerbrief wiederentdeckt und wie schon oft ist mir Römer 8 auch da zur Seelsorge und zur Heilung geworden.

Und doch blieben Widersprüche: Sieg und Kläglichkeit. Wir sind dabei zu fragen: Was können wir von diesem Gott erwarten, wenn wir unser Leben als so widersprüchlich erfahren zwischen Sieg und Bedrückung und wenn Römer 8 uns zeigt, dass das von Gott her auch momentan nicht anders ist. Womit können wir noch rechnen? Wir haben gesehen: Gott selbst trägt diese Widersprüchlichkeit nicht in sich; er ist mit sich eins und ist uns gut. Aber was hat er dann für uns bereit? Die Antwort will ich in meinem letzten Punkt versuchen.

5. Gott lenkt alles ins Gute.

Ich knüpfe an dieses bekannte Wort an, das für mich fast zu großartig klingt, um wahr zu ein:

Wir wissen aber dies: Für die, die Gott lieben, wirken alle Dinge zum Guten zusammen. V. 28

Was ist uns damit von Gott gesagt?

Zunächst dies: Wenn alles, was uns passiert, zum Guten führt, dann ist es hinterher also gut. Zwischendrin aber noch nicht unbedingt. Die bedrängenden Umstände – „Druck, Engpässe, Verfolgung, Hunger, wenn wir nackt dastehen, Gefahren, Waffengewalt“; wenn wir nur noch seufzen; wenn wir nicht wissen, was wir beten sollen – diese Momente sind nicht gut und müssen nicht solange mit frommen Gedanken bestrahlt werden, bis sie uns verklärt vorkommen. Josef im Ersten Testament sagte am Ende seines Weges wohl: „Menschen planten Böses, Gott aber hat Gutes daraus geplant.“ (Gen 50,20) Aber dennoch war das Böse – als er im Wasserloch saß oder später im Gefängnis – nicht gleich schon gut geworden, das war nach wie vor Mist. Also: Gott zielt auf das Gute, aber zwischendurch kann der Weg doch kläglich sein.

Was aber ist das Gute? Das ist die Schlüsselfrage und mit ihr gewinnen wir Zugang zu Gottes ganzer Fülle. Was meint Paulus mit dem Guten? Dass es uns nach einer Zwischenzeit dann gut gehen wird? Dass wir gar Güter genießen können? Dass wir zufrieden sagen: „Das find ich jetzt gut!“ –?

Hier müssen wir kurz in die Sprachschule von Paulus gehen. Was hat er wohl mit dem Guten gemeint? Der Ausleger Adolf Pohl setzt uns auf eine Spur, indem er sagt: Das Gute ist das Heil, also die Errettung; dieses Verständnis sei wichtig, wenn es nicht zu Enttäuschungen kommen soll. Pohl hat das bei Paulus abgelesen in Römer 14,16, wo Paulus tatsächlich diesen Ausdruck „euer Gutes“ benutzt, um das Errettungsgeschenk durch Christus zu beschreiben.

Demnach führt alles, was uns passiert, doch zu unserem Heil, zu unserer Errettung. Ich denke aber, damit ist das, was Paulus meint, noch nicht voll ausgeschöpft. Es wäre so ja nur ein jeweiliges Einzelgeschenk, für jeden individuell. Heil ist aber mehr als vielfache Einzelerlösung. Wenn ich den von Adolf Pohl genannten Schlüsselvers weiter lese, komme ich zu Römer 14,17:

16 Was für euch gut ist, soll nicht schlechtgemacht werden. 17 Denn das Reich Gottes ist nicht Essen und Trinken, sondern Gerechtigkeit, Frieden und Freude im heiligen Geist.

Hier ist eine Reihe von Worten genannt, die große Kraftfelder von Gott beschreiben: Das Reich Gottes – also seine Königsherrschaft. Gerechtigkeit. Frieden. Freude. Heiliger Geist.

Gottes Königsherrschaft: Sie ist mehr als das persönliche Heil. Sie kommt auch nicht erst am Ende der Geschichte. Damals mit Jesus war sie hineingebrochen in das römische Reich und war dort sehr wirksam und greifbar – in Jesus, in dem, was er tat und sagte. Alle Dinge wirken zum Guten – alles, was den Menschen um Jesus in dem zum Teil brutalen römischen Reich passierte, das wirkte doch zur Königsherrschaft Gottes hin. Gottes Königsherrschaft war nicht ausgebremst oder reduziert durch die römische Kaiserherrschaft, sondern kam in Jesus voll zur Wirkung.

Also auch in allen Umständen meines Lebens, in allen Engpässen und Nacktheiten. Auch das andere, das Paulus hier nennt, bezeichnet wirksame Kraftfelder. Gerechtigkeit: Gottes Gerechtigkeit ragt hinein in die Herrschaft des römischen Reiches, der Mächte und Gewalten oder auch die Herrschaft meines Egos. Sie schafft Ausgleich und zieht den Machenschaften eine Grenze, den Machtmechanismen in unseren Gemeinden und auch zeichenhaft den Mächten in unserer Gesellschaft, die sich so groß vor uns aufbauen. Beweis: Jesus von Nazaret, wirksam im römischen Reich und nicht totzukriegen durch dieses Reich – oder wenn, dann nur vorübergehend.

Frieden, Freude – das sind keine harmlosen Gemütszustände. Sondern es sind Energien, die standhalten gegenüber den anderen Lebenserfahrungen: der Feindschaft gegen Christus, der Ungerechtigkeit, dem Unfrieden. Wenn ich gehetzt bin oder unter der Diktatur der Meinungen anderer stehe, meldet sich Frieden. Inmitten meiner Trägheit kommt Freude zur Wirkung. In Krankheit erfahre ich Gottes Reich, sei es durch Heilung, sei es durch Zuwendung von Menschen. Gott bündelt all das zusammen und bringt es mit seiner Königsherrschaft in Kontakt. Das ist Gottes Definition des „Guten“ wie er sie Paulus anvertraut hat. Und noch einmal: Dieses „Gute“ ist ein Energiefeld, ein Kraftwerk – so sagt es auch die Jahreslosung 2011:

Lass dich vom Bösen nicht besiegen, sondern besiege das Böse durch das Gute.
Römer 12,21

Da ist sie wieder, die Siegeskraft.

Was steht uns in Aussicht in der Widersprüchlichkeit unseres Lebens? Wir sind bestimmt von den Realitäten unseres Lebens, die Paulus nennt: „Druck, Engpässe, Verfolgung, Hunger, wenn wir nackt dastehen, Gefahren, Waffengewalt“ – wir kennen diese Reihe. Aber darin eingewoben sind weitere Realitäten: Gottes Königsherrschaft. Gerechtigkeit. Frieden. Freude. Der Heilige Geist. Auf diese Kräfte hin führt alles, was denen passiert, die Gott lieben. Denen, die nach Gottes Entschluss berufen sind und die von diesem Entschluss gehalten werden, auch wenn sie in sich selbst von Fall zu Fall wenig Regung erkennen, Gott zu lieben.

Wir wissen aber dies: Denen, die Gott lieben, verhelfen alle Dinge zum Guten: Es münden alle Erfahrungen in die Königsherrschaft Gottes, in Frieden und Freude im Heiligen Geist; (an) denen (geschieht das), die nach dem Entschluss berufen sind.

Es ist jetzt schon einige Jahre her, dass ich bei der alten Dame zu Besuch war in ihrem kalten und dunklen Haus mit dem Heizungsbrenner auf Hochtouren im Keller. Sie lebt mittlerweile nicht mehr, nicht mehr auf dieser Erde; sie ist im Himmel, weil sie mitsamt ihren Eigenheiten zu denen gehört, die Gott lieben und die nach seinem Entschluss berufen sind.

Aber die Erinnerung an ihren „Lebensentwurf“ bleibt: Man kann so leben, dass man im Keller das Kraftwerk hat und auf der Wohnetage kommt nichts an. Die Realitäten Gottes aus Römer 8 sind in deinem Keller das Kraftwerk. Und das Beste, was du machen kannst, ist: die Ventile aufdrehen. Die Energie anzapfen. Es Gott glauben, dass er seine Königsherrschaft mitten in die Widersprüchlichkeit deines Lebens einbrechen lässt. Es von dir selbst glauben, dass du einer bist, der Zugang zu diesen Überwindungskräften hat. Gott jedenfalls sieht dich so.

Römer 8 – als ich letzte Woche mit einem Kollegen im Verlag darüber sprach, meinte er: dieses Kapitel kann nur teilweise durch Reflexion und Nachdenken ausgelegt werden. Da sind Dinge, die man nur über die Erfahrung erschließen kann.

Ich bete darum, dass Gott selbst sein Exeget ist und dieses Verheißungskapitel in mein Leben hinein und in unser Leben hinein auslegt. Dass Gott selbst seine Herrschaft so in uns und unter uns aufrichtet, dass wir aus vollem Herzen zustimmen können:

Also doch! In all dem sind wir überlegene Sieger durch den, der uns geliebt hat!

Amen.

Sonntag, 9. Januar 2011

Predigt: „Warum Jesus Besseres zu tun hat als unsere Probleme zu lösen“

Predigt über Joh 6,1-21
Liebe Gemeinde,
meist besteht unser Leben nicht aus großen Katastrophen. Zum Glück! Die großen Notlagen gibt es zwar auch. In der Jahresschlussandacht haben einige hier berichtet von Schwierigkeiten aus dem letzten Jahr. Da war Gottes Hilfe nicht schon die ganze Zeit zu sehen, sondern oft erst ganz zum Schluss.
Aber unser Alltag ist meist nicht voller Stürme und Gewitter. Und trotzdem kann er mühsam sein. Viele Dinge laufen eintönig vor sich hin, so dass wir uns fragen: Kann ich eigentlich noch Gott entdecken? Wir haben dann keine riesigen Hürden zu nehmen, aber es scheint doch ein wenig Sand im Getriebe zu sein, ein bisschen nur, aber genug, um all unsere Kraft auf sich zu ziehen. „Ich wollte doch schon längst den Brief geschrieben haben. Eigentlich hätte ich doch mehr auf meine Ernährung achten wollen.“ Aber das ist schnell untergegangen in täglichen Einerlei. Ja, jetzt würden wir gern erleben, dass Jesus eingreift, aber ist er wirklich da? Oder schaut er aus der Ferne bloß zu?

Den meisten von uns ist eine Verheißung Gottes sehr vertraut, und sie ist ein wichtiger Trost – nämlich diese Verheißung: „Ich habe einen Plan für dein Leben.“ Wie gut! Nichts ist dann also Zufall. Bloß – was ist es denn für ein Plan, wenn Unglücke zugelassen werden, wenn die Krankenkasse auf einmal nicht zahlen will, Medikamente plötzlich das Falsche bewirken, wenn ein Streit ausbricht, in den wir verwickelt werden, oder auch bloß wenn wir uns im Dickicht des Alltags verlieren und so zu leben scheinen wie Menschen ohne Gott auch? Wo ist dann Gottes Plan für unser Leben?

Mir hat vor längerer Zeit der Bericht über Jesus zu denken gegeben, wie er Tausende von Menschen mit Essen versorgt. Ich habe mich gefragt, welche Absicht Jesus damals gehabt hatte, als er das tat. Ich habe diesen Bericht gelesen, und zwar nach dem Berichterstatter Johannes. Er erzählt uns das Geschehen etwas anders als die anderen Evangelien, und gerade im Bericht von Johannes habe ich Neuigkeiten entdeckt. Leuchtsätze, die aufscheinen und sich mir einprägen. Ich möchte diesen Bericht mit euch lesen, zusammen mit der nachfolgenden Erzählung.

1 Danach ging Jesus fort zum jenseitigen (Ufer) des Sees von Galiläa oder Tiberias. 2 Ihm folgte dabei eine große Menschenmenge, denn sie sahen die Zeichen, die er an den Kranken tat. 3 Jesus aber ging hinauf auf den Berg und setzte sich dort mit seinen Schülern. 4 Das Passa stand bevor, das Fest der Juden.
5 Wie Jesus nun aufblickt und sieht, dass eine große Menschenmenge zu ihm kommt, spricht er Philippus an: Woher sollen wir Brote kaufen, damit die hier essen können? 6 Das sagte er aber (nur), um ihn auf die Probe zu stellen; er selbst nämlich wusste, was er zu tun vorhatte. 7 Philippus antwortete ihm: Brote für zweihundert Denare (Tageslöhne) reichen nicht aus, dass jeder von ihnen auch nur ein bisschen bekäme. 8 Einer seiner Schüler, Andreas, der Bruder von Simon Petrus, sagte ihm: 9 Ein kleines Kind ist hier, das fünf Gerstenbrote und zwei Bratfische hat – aber was ist das für so viele? 10 Jesus sagte: Bringt die Menschen dazu, sich zum Mahl zu lagern. Es war nämlich viel Gras dort. Da lagerten sie sich zum Mahl: ungefähr fünftausend Männer. 11 Nun nahm Jesus die Brote und gab sie nach einem Dankgebet denen, die da saßen, ebenso auch von den Bratfischen, soviel sie wollten. 12 Als sie sich dann sattgegessen hatten, sagt er zu seinen Schülern: Sammelt die überschüssigen Brocken auf, damit nichts schlecht wird. 13 Da sammelten sie auf und füllten zwölf Körbe mit Brocken von den fünf Gerstenbroten: das, was denen zu viel war, die gegessen hatten. 14 Als nun die Menschen sahen, was er als Zeichen getan hatte, sagten sie: Der ist wirklich der Prophet, der in die Welt kommt. 15 Da Jesus nun merkte, dass sie im Begriff waren, zu kommen und ihn zu packen, um ihn zum König zu machen, wich er wieder auf den Berg zurück: er allein.

16 Als es aber Abend geworden war, gingen seine Schüler hinunter zum See, 17 bestiegen ein Schiff und überquerten den See nach Kafarnaum. Schon war es dunkel geworden und Jesus war noch nicht zu ihnen gekommen, 18 zudem war der See durch das Wehen eines starken Windes in Bewegung. 19 Sie haben nun fünfundzwanzig bis dreißig Stadien (um die fünf Kilometer) gerudert, da sehen sie, wie Jesus auf dem See umhergeht und nahe ans Schiff gekommen ist, und sie bekamen Angst. 20 Er aber sagt zu ihnen: Ich bin’s; habt keine Angst. 21 Da wollten sie ihn ins Schiff nehmen, und sofort war das Schiff am Land, zu dem sie aufgebrochen waren. (Joh 6)

Tausende von Menschen werden plötzlich satt. Das war das eine. Und dann: Zwölf Rabbinerschüler begegnen ihrem Lehrer auf dem Wasser und werden plötzlich mitsamt dem Boot ans Ufer versetzt. Zwei Wunderberichte, verschiedenartig und doch gehören sie zusammen. Beide erzählen letztlich dasselbe.

Fangen wir mit dem zweiten Bericht an. Hier hören wir einen Leuchtsatz, der genauso auch auf viele Tage unseres Lebens passt. Die Schüler von Jesus rudern über den See – und dann: „Schon war es dunkel geworden und Jesus war noch nicht zu ihnen gekommen.“ Jesus war noch nicht zu ihnen gekommen. Sie waren auf sich gestellt. Die Bibel sagt uns klar: solche Zeiten gibt es! Die Bibel benennt frei heraus, dass Jesus nicht immer gleich da ist. Gottes Wort beschreibt, was immer wieder auch möglich ist bei uns: „Jesus war noch nicht zu ihnen gekommen.“ Dieser Leuchtsatz hilft uns, unser Leben in Gottes Licht zu sehen. Es ist normal, dass Jesus manchmal fern ist. Es ist kein Betriebsunfall und kein Versagen von uns Schülern von Jesus, dass er außerhalb unseres Blickfeldes ist. Er selbst, Jesus, war ja bewusst weggegangen. Nicht wir sind dann gescheitert, hätten etwa besser beten oder kräftiger glauben müssen. Sondern es war sein Entschluss. Also rudern wir durch die Nacht, es ist mühsam, es gibt einige Wellen, und Jesus ist noch nicht zu uns gekommen.
Was ist das dann für eine Lebensphase? Wie sieht dann unser Alltag aus? Droht ein Unglück? Sind wir am Rande des Untergangs? Nein. Sondern es ist einfach anstrengend, nicht mehr und nicht weniger. Hier müssen wir jetzt die Ohren besonders spitzen. Hier kann uns unsere Bibelkenntnis auf eine falsche Spur locken. Es wird uns hier, im Bericht von Johannes, kein Sturm auf dem See berichtet. Es schwappen keine Wellen ins Boot. Die Elemente sind nicht entfesselt. Keiner schreit: „Hilf, Herr, wir gehen unter!“ Da geht keiner unter. Sondern es ist einfach ein starker Wind und ein gewisser Wellengang. Damit musste jeder rechnen, der über den See von Galiläa fahren wollte. Es ist nicht schön, aber auch keine Katastrophe. Es ist einfach bloß anstrengend. So berichtet Johannes es uns, und wir wollen uns heute einmal seinem Bericht anvertrauen.

Ganz genau so verhält es sich auch in der Geschichte zuvor, bei den vielen tausend Menschen am Fuße des Berges. Sie haben Jesus aufgesucht, sie wollten etwas von ihm hören. Aber hier, bei Johannes, sind diese Menschen nicht besonders erschöpft und auch nicht ausgehungert. Es ist nicht schon Abend geworden, so dass keiner wüsste, was er essen und wo er schlafen sollte. Sondern es sind einfach viele beieinander, und Jesus ist es dann, der von sich aus die Frage nach dem Essen stellt. Auch hier also: Blenden wir bitte nicht gleich die anderen Berichterstatter ein, Mattäus, Markus und Lukas, sondern vertrauen wir uns dem Bericht von Johannes an! Dem zufolge gab es keinen besonderen Versorgungsengpass, so wie auch auf dem See kein Schiffbruch drohte.

Erneut spiegelt sich also unser Alltag in diesen Berichten. Unser Alltag besteht ja eben meist nicht aus Unglücken, sondern aus der normalen Mühsal. Wir müssen Widerstände überwinden. Wir werden das irgendwie auch meistern, aber es kostet Kraft. Fünf Meter vorwärts, drei wieder zurück. Wir haben noch einen langen Rückweg vor uns. Wir werden nicht so schnell zu Hause sein. Wir werden den Weg wohl schaffen, aber es verrinnt dabei einfach die Zeit. Und als Nachfolgerinnen und Nachfolger Jesu fragen wir uns: Ist das schon das Leben, das Gott versprach? Haben wir auch nur den Hauch einer Ahnung von Jesu Kraft und seinen Möglichkeiten? Ist unser Alltag nicht meilenweit entfernt von Jesus mit seiner Hoheit? Und, übrigens, hatte Gott denn nicht einen Plan für unser Leben? Müsste der nicht wenigstens ein bisschen anders aussehen als der Alltagskram?

Hier nun hören wir einen weiteren Leuchtsatz aus unseren Berichten. Über Jesus ist der gesagt. Jesus sieht, welch große Menschenmenge zu ihm kommt. Er fragt zunächst, woher genug Brote für sie kommen könnten. Diese Frage aber, so hören wir vom Berichterstatter Johannes, war nur ein Test für Philippus. „Er selbst nämlich (Jesus) wusste, was er zu tun vorhatte.“ Das ist jetzt der Leuchtsatz: „Er selbst wusste, was er zu tun vorhatte.“ Da haben wir ihn also, den Plan von Jesus. Es gibt ihn doch. In all unseren mühsamen Aufgaben regiert nicht der Zufall, auch nicht die Resignation, sondern Jesus hat schon seine Absichten, hat seinen Plan und führt ihn durch. „Er selbst wusste, was er zu tun vorhatte.“ Allerdings: Es ist nicht Gottes Plan für unser Leben. Nicht der Plan also, den wir uns so oft wünschen. Es ist Jesu Plan für sein Leben, es ist Jesu Plan für Gottes Herrschaft. Nicht der Plan, der unsere Probleme löst, sondern ein viel größerer Plan. Unseren Leuchtsatz müssen wir so betonen: „Jesus wusste, was er zu tun vorhatte.“
Was hat er denn vor? Welchen Plan hat er sich vorgenommen? Jesus hat vor, sich zu zeigen. Sich selbst in ganzer Größe und ganzer Hoheit herauszustellen. Es geht gar nicht um die Menschen und etwa ihren Hunger. Sie hatten ja noch gar keinen Hunger – sagt Johannes uns. Es war ja noch gar kein Abend geworden, es wäre also für jeden Zeit geblieben, sich selbst zu versorgen. Nein, Jesus behebt keine Notlage, sondern er selbst fragt nach Broten, weil er sich herausstellen möchte. Als den, der ein Wunder tut. Als den, der das Brot ist, das Brot des Lebens. Jesus arrangiert geradezu dieses Wunder mit den Broten. Es war nicht eigentlich nötig, es lag nicht in der Luft, dass etwas passieren musste. Jesus fädelt es ein. Das ist sein Plan. Warum? Weil er sich zeigen möchte. Weil er herausstellen möchte, was Leben eigentlich ist: nicht bloß satt werden, sondern echtes, tiefes Leben haben, Leben, das man täglich von Gott entgegennimmt, ewiges Leben. Deshalb verteilt Jesus Brote – um zu zeigen, dass er das Brot des Lebens ist. Jesus lenkt alle Aufmerksamkeit auf ein einziges Zentrum: auf sich selbst.
Das ist sein Plan. Das hat Jesus vor zu tun. Also ist es nicht seine erste Absicht, unsere Probleme zu lösen. Sein Plan ist viel größer als unsere Probleme. Sein Plan heißt nicht: leichteres Leben, sondern: echtes Leben, ewiges Leben, das ja hier und jetzt in ihm, in Jesus, beginnt. Auch in dem anderen Bericht über die zwölf Schüler im Boot, die sich abmühen müssen, kommt er nicht, um ihnen zu helfen. Sondern um sich ihnen zu zeigen. Er macht sich fremd, kommt ihnen in erschreckender Gestalt entgegen, gerade um ihnen zu sagen: Meine Pläne gehen nicht in eurem Leben auf. Ich umgreife eurer Leben weit. Ich bin anders und größer und habe Größeres vor. Baut mich nicht zu schnell in euer Leben ein. Dann wäre ich ja nichts anderes als ein Bestandteil eures Lebens, eines neben anderen. Baut mich nicht in euer Leben ein, lasst euch lieber einbeziehen in mein Leben. Fragt nicht, was Gottes Plan für euer Leben ist. Fragt lieber, welchen Platz euer Leben in Gottes Plan für seine Herrschaft hat.

Das war nämlich damals die Absicht der Menschen: Sie wollten ihn in ihr Leben einbeziehen. Aber bloß damit er ihre Probleme löst. Als er alle satt gemacht hatte, und zwar überreichlich, da merkten sie: der kommt von Gott. „Das ist der Prophet!“ Der Prophet – auf den haben Glaubende gewartet. Das ist eine uralte Ankündigung in der Heiligen Schrift. Jetzt sehen sie Jesus: „Das ist der Prophet!“ Gut erkannt! Doch dann wollten sie diesen Propheten zum König machen. Weil er Brot verschaffen konnte. Wieder hören wir einen Leuchtsatz in unserem Bericht: „Da Jesus nun merkte, dass sie im Begriff waren, zu kommen und ihn zu packen, um ihn zum König zu machen, wich er wieder auf den Berg zurück.“ Die Worte, die hier leuchten, sind: „kommen und packen“. Das wollten sie mit Jesus, ihn packen, ergreifen, benutzen und als Problemlöser verwenden. Ihn in ihre Pläne hineinziehen. Jesus macht das nicht mit. Er entzieht sich. Und weil er offenbar auch seine zwölf Schüler in der Gefahr sah, ihn misszuverstehen, ihn vielleicht jetzt als glanzvollen König zu benutzen, deshalb kommt er ihnen übers Wasser so entgegen, dass sie Angst kriegen. Das muss so sein, damit sie begreifen: Auch wir können ihn nicht packen. Sie wollen ihn dann doch ins Boot nehmen. Zwar nicht „ergreifen“, aber immerhin doch „nehmen“, und das wäre ja eine schöne Sache, Jesus mit im Boot zu haben, bei all der Mühsal und dem Rudern gegen den Wind. Aber auch das macht Jesus nicht mit. Boot mit Schülern und Jesus daneben sind sofort ans Ufer versetzt, ohne dass Jesus eingestiegen ist. Nein, auch von seinen Schülern lässt Jesus sich nicht „nehmen“. Nicht sie können ihn in seine Pläne hineinziehen. Nur umgekehrt: Er zieht sie in seine Pläne hinein. Gott hat einen Plan für ihr Leben? Wirklich? Gott hat einen Plan für seine Herrschaft, und ihr Leben hat einen Platz in seinem Plan.

Manchmal enttäuscht uns Jesus also. Er tut das dann aus einer bestimmten Absicht: weil er alle Aufmerksamkeit auf sich lenken möchte. „Ich bin's“, sagt er – und benutzt damit dieses biblische Signalwort, das nur Gott von sich sagt: „Ich bin.“ Jesus spricht also göttlich von sich. Und wenn wir dann auf Jesus ausgerichtet und konzentriert sind, und sei es bloß, dass wir ihn fragen: Jesus, was hast du eigentlich vor? Wo bleibst du denn so lange? – auch wenn wir nur so, mit solchen Fragen, auf Jesus konzentriert sind, ist das besser, als wenn wir auf unsere Probleme konzentriert sind. Um uns auf sich zu lenken, deshalb enttäuscht Jesus uns manchmal.

Und das gilt, wie wir schon gemerkt haben, nicht nur für die Menschenmassen, sondern auch für die engen Schüler Jesu, auch für uns als Nachfolgerinnen und Nachfolger. Wir freuen uns, wenn Jesus uns beteiligt und uns einbezieht. Wenn er unserem Leben einen Sinn gibt dadurch, dass wir etwas für ihn oder mit ihm tun dürfen. Es ist eine Auszeichnung, wenn hier einige für Gott Musik machen. Oder im Kindergottesdienst Verantwortung tragen. Oder in der Woche andere besuchen. Wenn einer dem anderen zuhört. Wenn Menschen Gebetsarbeit verrichten – für Gottes Reich. So macht es Jesus auch häufig: uns beteiligen, uns der Mitarbeit würdigen und so unserem Leben einen Sinn geben. Bloß: Auch dies fehlt im Bericht des Johannes. Noch einmal müssen wir die Ohren spitzen und genau darauf achten, wie Johannes uns die Sache mit den Broten und den Fischen erzählt! Wieder erzählt er es anders als die anderen Evangelienschreiber. Johannes sagt nichts davon, dass Jesus seine Jünger einbezieht. Der Auftrag: „Gebt ihr ihnen zu essen“ fehlt in dieser Schilderung. Hier – und wir wollen uns ja heute dem Berichterstatter Johannes anvertrauen – hier ist Jesus allein es, der das Brot nimmt, Gott dankt und es dann an die Tausenden verteilt. Jesus allein tut es. Die Schüler können allenfalls hinterher die Krümel aufsammeln, und schon damit haben sie genug zu tun. Immer wieder stoßen wir auf das eine: Jesus steht im Mittelpunkt. Er stellt sich heraus. Deshalb ist er es, von dem wir alles erwarten können. Er ist das Brot des Lebens, und wir eng vertrauten Nachfolger sind genauso darauf angewiesen, es aus seiner Hand zu empfangen wie alle anderen aus der weiteren Menschenmenge. Wir brauchen Jesus. Wir haben ihn nötig als das Brot des Lebens.

Diese beiden Berichte, auf die wir gehört haben, zielen also auf dies: Jesus hat Besseres zu tun als unsere Probleme zu lösen. Das Bessere, das er zu tun hat, ist: uns sich selbst zu zeigen. Sich herauszustellen. Damit unser Leben nicht nur eines ist, das weniger Probleme hat. Sondern damit unser Leben eines ist, das eine Mitte hat: jemanden, dem wir uns anvertrauen und den wir anbeten und auf den wir uns verlassen. Solch ein Leben ist das ewige Leben, und solch ein Leben bekommen wir durch ihn, das Brot des Lebens: nicht eines mit weniger Problemen. Sondern ein Leben, das eine Mitte hat: Jesus. Jesus allein.

Und unsere Probleme? Kümmern sie Jesus gar nicht?

Nun, was war mit den Alltagsbedürfnissen der Menschen in unseren Berichten? Die Fünftausend wurden ja doch satt, und zwar nicht nur so eben knapp, sondern sie wurden fürstlich bewirtet. Jeder konnte nehmen, „so viel er wollte“, betont der Bericht. Und so überreichlich viel blieb übrig. Wenn Jesus sich in den Mittelpunkt stellt, gehen die Menschen nicht leer aus. Wenn Jesus unsere Aufmerksamkeit auf sich zieht und unsere Anbetung, werden wir nicht dabei billig abgespeist, sondern es geht reich und fürstlich zu. Genauso war es auch mit den zwölf Schülern im Boot. Sie hatten die Mühsal der Reise durchzustehen, es war anstrengend zu rudern, und Jesus war nicht deshalb zu ihnen gekommen, um es ihnen leichter zu machen. Aber als er gekommen war und alle Aufmerksamkeit und Ehrfurcht auf sich konzentriert hatte – da waren die Schüler dann plötzlich doch am Ziel. Eine mühsame Wegstrecke war einfach übersprungen. Auch das kann vorkommen. Sie gingen nicht leer aus, sie waren nicht die Geprellten, als Jesus sich bei ihnen herausstellte. Jesus hat Besseres zu tun als unsere Probleme zu lösen. Aber wenn er dieses Bessere tut – sich selbst zeigt –, dann ist unseren Problemen auch oft geholfen. Wenn unser Leben eine Mitte bekommen hat, Jesus eben, dann sind unsere Probleme auch an ihren passenden Ort gewandert, und sie sind eben nicht mehr in der Mitte. Und manchmal sind sie wunderbar gelöst.

Liebe Gemeinde, wir sind einen Weg in dieser Predigt miteinander gegangen. Wir haben zwei biblische Berichte gehört, die aber anders erzählt wurden als wir es kennen; wir haben uns diesen Berichten anvertraut. Wir konnten entdecken: Jesus steht noch viel mehr im Zentrum, als es bei den bekannten Erzählungen schon war. Wir haben versucht, Jesu Absicht zu entdecken: Er will sich nicht benutzen lassen. Er will lieber uns in seine Pläne hineinziehen. Er stößt uns immer wieder darauf, dass wir ihn brauchen. Er entlockt uns Vertrauen und Anbetung. So gibt er unserem Leben eine Mitte. Damit ist dann auch, nebenher, für die Probleme gesorgt, denn sie können nicht mehr in der Mitte stehen. Jesus hat Besseres zu tun als unsere Probleme zu lösen, aber wenn er dieses Bessere tut, lösen wir uns von manchen Problemen. Ich wünschte, diese Predigt hätte uns begierig gemacht nach dem Besseren. Nach Jesus – Jesus allein.

Gleich feiern wir miteinander das Abendmahl. Das sind Minuten, wo jeder von uns Zeit für sich und für Jesus hat, für das Brot des Lebens. Nutzen wir doch diese Zeit, um ihn zu bitten: „Jesus, zeige dich mir, stelle du dich in meinem Leben heraus.“ Beten wir und sprechen wir Jesus das Vertrauen aus: „Ich verlasse mich neu auf dich!“ Und wir können uns auch im Gebet von dem ein oder anderen Problem lösen und es ihm geben.
Er steht im Mittelpunkt. Lasst uns hungrig werden zuallererst nach ihm, dem Brot des Lebens!

Amen.