Dienstag, 30. März 2010

Bibelstudie "Bestandsaufnahme" 5:Thyatira

5 Der Brief an die Gemeinde in Thyatira: 2,18-29
„Der längste und schwierigste der sieben Briefe geht in die Stadt, die am wenigsten bekannt, am unwichtigsten und unauffälligsten war.“ (C. J. Hemer)
Thyatira war am Kreuzungspunkt zweier wichtiger Handelsstraßen gelegen. Die Bedeutung der Stadt lag nicht in der politischen oder religiösen Stellung, sondern im Gewerbe. Durch Inschriften sind viele Berufsgruppen nachweisbar, die zu Zünften oder Gilden zusammengeschlossen waren: Woll- und Leinenproduzenten, Schneider, Färber, Gerber, Kupferschmiede. Aus Apg 16 kennen wir eine Purpur-Produzentin namens Lydia, die eben aus dieser Stadt kam.
Diese Berufsgenossenschaften hatten immer dann etwas mit römischer Religion zu tun, wenn sie zu Treffen zusammenkamen, z. B. in Tempelrestaurants. Dann wurden bei den Mahlzeiten die Götter angerufen. Der Gott Tyrimnos war sowohl Schutzpatron der Berufsgenossenschaften als auch der ganzen Stadt Thyatira.

5.1 Wer redet zur Gemeinde – wie zeigt sich Christus?
Christus stellt sich hier mit dem höchsten denkbaren Titel vor: Sohn Gottes. Damit bekommt der Brief sofort eine thematische Klammer: Am Ende zitiert der erhöhte Herr aus Psalm 2 – aus eben dem Psalm, wo der Gesalbte als Sohn Gottes bezeichnet wird.
Die weitere Beschreibung (Augen wie Feuer, Füße wie Gold- oder Kupfererz) ist aus dem Danielbuch entlehnt und will zeigen, dass Christus als Richter auftritt. Zumindest die Kupferschmiede er Stadt hatten eine plastische Vorstellung von diesem Bild.

5.2 Was der Gemeinde gut gelungen war
Das Lob für diese Gemeinde ist bemerkenswert ausführlich. Die „Werke“ werden vierfach beschrieben: Liebe, Glauben, Dienen, Ausharren. Vielleicht sind die Werke nach dem Muster a-b-a-b angeordnet: Aus der Liebe folgte der Dienst und aus dem Glauben die standhafte Geduld.
Diese Gemeinde war im Blick auf ihre innere Substanz eine wachsende Gemeinde: ihre „Werke“ waren nun zahlreicher als zu Beginn. Damit ist sie das Gegenbild zur Gemeinde Ephesus, die stark nachgelassen hatte (2,4+5).

5.3 Was in der Gemeinde schief lief
Der Gemeinde war vorzuwerfen, dass sie unwidersprochen freie Bahn ließ für eine Frau, die beanspruchte, Prophetin zu sein. Urchristliche Propheten wirkten damals in so gut wie jeder Gemeinde; dieser Dienste gehörte zur Grundausstattung. Wenn nun eine Falschlehrerin gerade als Prophetin wirkte, dann heißt das: sie tat das aus der Mitte der Gemeinde heraus. Der erhöhte Herr bestreitet ihr zwar den Anspruch auf echte Prophetie – aber in der Gemeinde Thyatira zweifelten offenbar viele nicht an ihrem Wort.
Sie wird mit der atl. Königin Isebel verglichen: „Diese Frau – eine Isebel“. Die Irrlehre dieser Frau ist uns schon zuvor begegnet in Ephesus und Pergamon. Doch hier in Thyatira hat sich die Lage verschärft:
> In Ephesus wurden die Falschlehrer ausgegrenzt – hier bekamen sie Raum.
>Im Pergamon wurden die Irrlehrer nach Bileam benannt, einem Ausländer. Hier wurden sie benannt nach einer Frau aus dem Königshaus Israels – eben ein Zeichen, dass sie aus der Mitte der Gemeinde wirkte
> Hier in Thyatira ist die Reihenfolge der falschen Lehren verschärfend umgekehrt im Vergleich zu Pergamon: hier kommt unverblümt die Nutzung der Prostitution vor dem Götzendienst.
> In Pergamon hatte sich bei einigen das Falsche zu einer Lehre verdichtet (2,15); hier ist diese Lehre fest installiert.
> In Thyatira waren die treuen Glaubenden womöglich schon in der Minderheit.

Inhaltlich ist die Lehre dieser Frau nichts Neues. Sie lehrte den möglichen Kompromiss für Mitglieder der Berufsgenossenschaften: Man dürfe ruhig an Banketten teilnehmen und dabei alle Begleitumstände mitnehmen: Prostitution und den Götzen gewidmete Gänge der Mahlzeit. „Sich abseits von diesen Klubs zu halten brandmarkte den Betreffenden als Außenseiter, als Feind der bestehenden Gesellschaft.“ (Ramsay). Das wollte man vermeiden.

Hier erfahren wir zusätzlich, wie die Falschlehrer diesen Weg nannten: „die Tiefen des Satans ergründen“ (2,24). Der Ausdruck ist nicht ganz klar. In späteren Zeiten gab es Geistesströmungen, die meinten: Zur echten Reife gehört, dass man auch das Böse, das Teuflische durchprobiert hat und als Erfahrener daraus hervorgegangen ist. Wenn diese Haltung schon für diese Gemeinde zutrifft, dann hätte Isebel und ihr Gefolge eingeräumt: ‚Ja, wir bekommen Kontakt mit Satanischem bei den Banketten. Aber das gehört dazu und lässt uns reifen.‘
Wohlgemerkt: all das geschah in einer Gemeinde, die liebte und glaubte und (einander und anderen) diente und Geduld zeigte (2,19) – die sich also jederzeit ein glänzendes Zeugnis ausstellen konnte!

Heutige fromme Gemeinden können sich schnell vom Vorwurf der geduldeten Prostitution und des Götzendienstes freisprechen. Unsere Gefahr, uns anzupassen, liegt woanders:
>> Vielleicht im angepassten materialistischen Lebensstil. Im Eintauchen ins Konsumdenken, das zu Lasten der Armen der Welt geht.

5.4 Die Reaktion von Christus
Christus reagiert „differenziert“, d.h. jeweils abgemessen für unterschiedliche Personengruppen.

5.4.1 Gegenüber der vermeintlichen Prophetin
Christus hatte dieser Frau Zeit zur Umkehr gegeben, aber eine befristete Zeit. Diese Zeit ist nun abgelaufen. Er „wirft sie aufs Bett“ – er verwandelt den Ort der Sünde in den Ort des Unglücks, das Hurenbett ins Krankenbett. Für diese Frau ist die Zeit abgelaufen.

Wir leben heute mit dem Wissen, dass Gottes Geschichte jahrtausendelang gelaufen ist. Wir wissen, dass Menschen heute immer wieder das Angebot der Gnade bekommen. Der Gedanke ist uns fremd, dass schon innerhalb dieser Zeit (lange vor dem Letzten Gericht) für einzelne die Zeit der Umkehr abgelaufen sein kann.
Wie könnte jemand merken, dass er nicht mehr viel Zeit zum Umkehren hat – was wären für ihn Erkennungszeichen?
Wiederholte Predigt der Umkehr kann die Hörenden stumpf machen. Aber wenn die Gefahr droht, die Zeit zu verpassen? Wie schützen wir uns davor, stumpf oder immun zu werden?

5.4.2 Gegenüber den Anhängern, den Verführten
Die Anhänger der Prophetin haben noch Zeit zur Umkehr, aber sie müssen nun auch umkehren (2,22), denn sicher ist diese Zeit auch bei ihnen befristet. Andernfalls bringt Christus sie in Bedrängnis – in gerade den Zustand, den sie durch ihren ethischen Kompromiss vermeiden wollten (Bedrängnis durch die Gesellschaft). Eine Spielart der „Bedrängnis“ wird noch konkret genannt: sie werden „mit dem Tod geschlagen“; ein alter biblischer Ausdruck für Pest (vgl. Ez 14,21; 33,27; 2Sam 12,14 in der griechischen Übersetzung des AT). Ihnen droht also schwerste Krankheit.

Straft Gott auch heute noch, z. B. durch Krankheit?
In der Gemeinde Korinth stellt Paulus fest: Wegen der Missachtung der Armen beim Abendmahl sind schon viele in der Gemeinde krank und einige schon gestorben (1Kor 11,30). Diese Situation ist anders als die in Thyatira:
>> In Korinth sind die Kranken nicht notwendig dieselben, die sich falsch verhalten haben. Sondern weil in der Gemeinde welche falsch lebten, sind in der Gemeinde einige krank.
>> Diese Fälle in Korinth sind nicht Strafe für versäumte Umkehr, sondern Warnung, damit man erst recht umkehrt.
Die „Bedrängnis“ für die Sünder müsste noch notwendig der Untergang sein. Und wenn der Ausdruck „töten“ in 2,23 in biblischer Sprache bedeutet: „mit schwerster Krankheit schlagen“, dann wäre auch in Thyatira noch Raum zur Umkehr. Dann würde der Satz von Paulus an die Korinther auch hier gelten: „Wenn wir uns selber das Urteil sprechen würden, so würden wir nicht [von Gott] verurteilt.“ (1Kor 11,31)
Ist es bei uns denkbar, dass harte Schicksalsschläge einzelne oder eine ganze Gemeinde zur Umkehr antreibt? Kam das schon mal vor?

5.4.3 Gegenüber allen Gemeinden
Alle Gemeinde, über Thyatira hinaus, werden an Christi Reaktion erkennen, dass Christus eben (auch) der Richter ist. (2,23) Was in dieser einen Gemeinde passiert, kann auch anderswo passieren, wenn jemand die gesetzte Frist zur Umkehr verstreichen lässt.

5.4.4 Gegenüber den (wenigen) Treuen
Denen, die sich nicht verführen ließen, gibt Christus keine neuen Gebote („Last“), sondern eben nur die bereits bekannten: nicht fremdgehen und sich nicht mit Prostituierten einlassen; keine Speisen essen und Mahlzeiten mitmachen, die den Götzen gewidmet sind. Diese „Lasten“ waren in allen Gemeinden längst bekannt (Apg 15,28-19).

5.5 Die Versprechen
In der Abschluss-„Formel“ dieses Briefes wird eine doppelte Bedingung genannt, damit Jesu Versprechen sich erfüllt: Man muss siegen und auch an den werken Christi festhalten.
Versprochen wird dann „Macht über die Völker“. Die bedrängte Gemeinde wird also nicht ewig in der Minderheit bleiben. Die Bedränger werden entmachtet werden. Die Gemeinde soll also keine Angst haben vor einer Gesellschaft, in der sie untergehen würden, wenn sie kompromisslos wären – sie gehen nicht unter!
Die Macht der jetzt Bedrängten wird formuliert mit einem Zitat aus Ps. 2. „Der standhafte Gläubige wird Funktionen übernehmen, die an anderen Stellen nur von Christus ausgesagt werden (Offb 12,5; 19,15).“ (U. B. Müller) Schon im Brief an Pergamon war zu sehen, dass Christus einem treuen Zeugen denselben Ehrennamen gibt, der eigentlich ihm, Christus, gehört.

Das Herrschen der Standhaften bedeutet nicht sofort die Vernichtung der Gegner. So klingt war die Formulierung vom „Zerschlagen wir Geschirr“. Im Hintergrund steht aber das Bild ägyptischer Krönungsrituale: Der König zerschlägt symbolisch Geschirr als Machtdemonstration über fremde Völker. Die Vernichtung wird mit dieser Geste also angekündigt, nicht schon real vollzogen. Das Ziel ist die Entmachtung der Feinde, nicht deren Auslöschung.

Die Standhaften bekommen außerdem „den Morgenstern“: Ist das Christus (wie in Offb 22,16)? Aber sollte Christus sich hier selbst in die hand der Standhaften geben – Christus, der doch die sieben Sterne in seiner Hand hält? Vielleicht ist es Bild für die Überwindung der feindlichen Macht.
>> Im 4. Mosebuch kündigt Bileam einen „aufgehenden Stern aus Jakob“ an (24,17). Der wird mit einem Zepter (= Herrscherstab) gleichgesetzt und die Gegner zerschmettern (wie in Ps 2!). Hier ist es zwar nicht der 2Morgenstern“ – aber die Symbolsprache ist ansonsten ähnlich.
>> In Jesaja 14 wird geschildert , wie derFeind des Volkes Gottes (der „König von Babel“) zunächst Gottes Volk mit einem Herrscherstab und -stock schlug (vgl. Ps 2), dann aber zu Fall gebracht wird. Der fallende Herrscher wird dann mit dem Morgenstern verglichen (14,12). Das Ziel dieser Entmachtung: „Sie [das Volk Gottes] werden herrschen über ihre Bedränger“ (14,2).

Von diesem Hintergrund her scheint es: Wenn die Überwinder den „Morgenstern“ bekommen, dann also nichts anderes als die Gabe von Ps 2: Entmachtung der Feindmächte. Fazit: Keine Angst!

Predigt: „Der König und seine Macht“

Predigt über Joh 18,28-40: „Der König und seine Macht“
Liebe Gemeinde,
„wenn ich einmal an der Regierung wäre – ich würde da mal aufräumen. Ich würde endlich mal was Vernünftiges zustande bringen!“ Auch schon mal so gedacht? Diese Politiker, die nur von heute auf morgen denken – wenn die mich nur einmal ranlassen würden?
Dieser Traum klingt so ähnlich wie der vom Milchmann Tewje aus dem Musical: „Wenn ich einmal reich wär!“ Ja, dann würde alles anders. Wenn ich einmal reich wär – so träumt der Milchmann es:
„Ich bau den Leuten dann ein Haus vor die Nase hier in die Mitte uns’rer Stadt.“ – „Mein Weib stolziert herum, beladen mit Geschmeide und aufgedonnert wie ein Pfau. Sie zu sehen ist eine wahre Pracht. Die feinsten Delikatessen lässt sie sich servieren, spielt sich auf als ‚Gnädige Frau‘, scheucht das Personal bei Tag und Nacht.“ So wird es sein – wer reich ist und endlich mal mächtig, der kann sich auch mächtig dicke machen und andere das spüren lassen. Aber Milchmann Tewje merkt, dass es ja doch nicht so kommen wird, und seufzt zu seinem Schöpfer: „Herr, du schufst den Löwen und das Lamm – sag, warum ich zu den Lämmern kam?“

Einfache Leute wie Milchmänner wechseln selten auf die Seite der Löwen. Es gab einmal einen Mann, der schon lange auf der Seite der Löwen stand, ein Mächtiger und sicher auch Reicher. Er lebte im Römischen Reich, zählte zu den oberen Zehntausend, er gehörte dem vornehmen Ritterstand an. Geboren in Mittelitalien, wurde er irgendwann mit einer anspruchsvollen Aufgabe betraut. Er wurde zum Präfekten einer der unruhigsten Provinzen das römischen Reiches ernannt. Die Rede ist von Pontius Pilatus, dem Statthalter von Judäa. Ob der irgendwann einmal geträumt hat: „Wenn ich doch einmal reich und mächtig wäre?“ Dann wäre sein Traum jedenfalls in Erfüllung gegangen. Pilatus, Befehlshaber über römische Truppen an der Spitze der Provinzregierung.
An einem Morgen ganz früh wurde Pilatus einmal geweckt und man stellte ihm einen Mann gegenüber. Einen Angeklagten. Der wolle angeblich König sein. Und dann stehen sie voreinander, der mächtige Präfekt und dieser angebliche König. Hören wir auf den Bericht aus Joh 18:

(Lesen Sie den Bibeltext hier.)

Zwei Männer stehen sich gegenüber. Wer Pilatus ist, ist klar – der Mann an der Macht eben. Und Jesus? Er sagt, er sei ein König. Damit wäre er ja noch mächtiger als Pilatus. Aber was für ein König ist das? Wie steht er denn da?
Ein König in Handschellen! Ein König auf der Anlagebank. Hin- und hergestoßen zwischen dem jüdischen Oberpriester und dem römischen Statthalter und wohl auch noch zum König Herodes hin und zurück – ein Spielball. Jetzt bei Pilatus wird er beschuldigt. Aber man macht sich nicht einmal die Mühe, eine ordentliche Anklage zu formulieren: »Wenn er kein Verbrecher wäre, hätten wir ihn nicht zu dir gebracht.« Das soll reichen, als wäre er ein Stück Kehricht, das man ganz schnell wegfegen kann.
Pilatus merkt, dass hinter der Beschuldigung nicht viel steckt. Er fragt nur noch mal zur Sicherheit zurück – und muss hören, dass dieser König total weltfremd ist. „Ja, ich bin ein König, aber mein Königreich ist nicht von dieser Welt. Soldaten z. B. habe ich keine.“ Wie soll der Machtpolitiker Pilatus denn das finden? Das ist doch wohl ein Witz! So redet doch ein Spinner. Fast belustig scheint er, wenn er zurückfragt: „Aber, äh, ein König bist du tatsächlich?“
Jesus lässt sich nicht beirren – und das Bild eines irdischen Königs wird nur noch absurder. „Du hast Recht – ich bin ein König. Ich bin in die Welt gekommen, um für die Wahrheit Zeuge zu sein; dazu bin ich geboren. Jeder, der auf der Seite der Wahrheit steht, hört auf meine Stimme.“ Das ist das einzige, was König Jesus vorweisen kann: ‚Wer erkannt hat, wer ich bin, der hört auf meine Stimme, der hört auf meine Worte.‘ Das ist die Macht dieses Königs: die Macht seiner Worte. Keine adlige Familie im Hintergrund. Kein Netzwerk an Beziehungen zu einflussreichen Wirtschaftsleuten. Keine Truppen. Geld sowieso nicht. Nur eine einzige Macht kann der vorweisen: die Macht seiner Stimme.

Soll man das rührend finden? Naiv? Oder einfach nur verrückt? Jeder weiß doch, welche Bedeutung Worte in der Politik haben. Am nächsten Tag sind sie oft schon Schnee von gestern. Und auch damals wird es Machthaber gegeben haben, die sich dachten oder sagten: „Was kümmert mich mein saudummes Geschwätz von gestern?“ Worte in der Politik – manchmal sind das nicht mehr als Schallwellen. Dieser Mann da aber, Jesus, nennt sich König und baut seine gesamte Macht nur auf seine Stimme – auf das, was er sagt. Das ist allerdings weltfremd. Dem soll man folgen? Dem sich unterstellen?
Pilatus kann damit nichts anfangen. Diese sogenannte Wahrheit, was bedeutet sie schon! Andererseits hat er gemerkt, dass dieser weltfremde Mann kein Gesetz gebrochen hat. Er will ihn loswerden. Er würde ihn laufen lasen. Aber die jüdischen Führer wollen ihn nicht freigelassen sehen. Sie nehmen lieber einen Verbrecher, einen Aufständischen, Barrabas, der nun tatsächlich das getan hat, was sie Jesus anhängen wollen: Widerstand gegen die Staatsgewalt. Am Ende – wie steht Jesus da? Ausgetauscht gegen einen Verbrecher. Das Leben dieses Königs war noch weniger wert als das eines Banditen. So ein König ist das. Nach den Maßstäben der Welt einfach eine traurige Figur.

Die Menschen, die Jesus besser kannten, die ihn vorher begleitet haben, sie wussten: Der ist ja keineswegs naiv. Der kennt sehr wohl auch die Realitäten dieser Welt. Er ist kein Phantast. Warum lässt der sich denn dann am Ende so hinstellen wie ein Spinner, als traurige Figur? Warum lässt der das mit sich machen? Es gibt nur eine Antwort: Er wollte es so. Freiwillig. Es war seine Entscheidung.

Und nun müssen wir ein zweites Mal hinschauen. Was ist das für ein König? Wie steht er da? Was für eine Figur macht er wirklich, wenn er mit Pilatus redet?

Der große Schweizer Prediger Walter Lüthi hat vor 70 Jahren über diesen biblischen Bericht gepredigt und dabei gesagt: „Er ist der einzig Königliche hier. Seine Peiniger meinen, ihn vor den Richter zu führen. [...] Sie meinen, ihn gebunden zu haben, und er ist der einzig Freie hier.“
Wohl wahr. Jesus steht königlich vor diesem römischen Präfekten. „Ich bin ein König. Ich bin in die Welt gekommen, um für die Wahrheit Zeuge zu sein.“ Jesus nennt sich eine Zeugen, er macht eine Zeugenaussage. Also ist er gar nicht der Angeklagte, sondern eben Zeuge. In Wahrheit findet hier ein anderer Prozess statt als Pilatus meint. Jesus definiert, was sich hier abspielt. Und Pilatus? Hat er wirklich die Macht? In dieser Szene regiert er gar nicht, sondern er reagiert. Oder wie es Walter Lüthi sagt: „Pilatus meint, er mache Weltgeschichte, und wird geschoben. [...] Pilatus fragt, Jesus gibt die Antwort. Jesus steht in königlicher Würde da, Pilatus rennt hin und her wie ein Lakai. Seht ihn an, diesen Pilatus! wie geschmeidig und nach allen Seiten er seine Bücklinge macht, und wie bebend er um den herumdienert, der hier als König vor ihm steht.“ So ist es. Pilatus weiß, was er eigentlich tun müsste – Jesus freilassen –, und bringt es nicht fertig. Getrieben von Rücksichten, auf der einen Seite die Juden, auf der anderen der Kaiser, eingeklemmt in diese Zwänge, probiert er sich durchzulavieren, trifft lauter halbherzige Entscheidungen und versucht, die Verantwortung abzuschütteln, wie ein nasser Hund sich schüttelt. Souverän sieht anders aus. Jesus steht dabei, aufrecht. Königlich. Mit seiner Zeugenaussage für die Wahrheit.

Seine Macht ist nur sein Wort, sonst nichts? Jawohl. Aber was für ein Wort! Er hatte schon längst vorher gesagt, wie er umkommen würde. Er hatte das Kreuz im Blick. Die jüdischen Führer wollten, dass Pilatus ihn kreuzigt. Pilatus will den Juden erlauben, ihn selber abzuurteilen. Das hieße, er würde gesteinigt. Die Juden lehnen das ab. Aber weder die jüdischen Führer noch Pilatus entscheiden letztlich darüber, wie Jesus stirbt, sondern unser biblischer Bericht sagt: „So sollte sich das Wort erfüllen, mit dem Jesus angedeutet hatte, auf welche Weise er sterben werde.“ Jesus wird ans Kreuz emporgezogen werden, nicht weil die Juden es wollten oder weil Pilatus es wollte, sondern weil Jesus es bereits gesagt hat. „Sie handeln, ohne es zu wissen, auf Befehl des Königs, der hier gebunden vor Pilatus steht.“ (W. Lüthi) Diese Macht hat Jesus, der König: die Macht seiner Worte – und seine Worte bestimmen. Seine Worte erfüllen sich. Sie sind die innere Achse durch das Geschehen.

Pilatus konnte sich später bemerkenswert lange im Amt halten. Zehn Jahre, das ist beachtlich für diese Unruheprovinz Judäa. Aber irgendwann wurde er doch abgesetzt. Er wurde vor den Kaiser zitiert, um sich zu rechtfertigen. Sein Schicksal verschwindet im Dunkel der Geschichte. Der römische Kaiser, der über ihn richten sollte – er war schon tot, als Pilatus in Rom eintraf. Und das Reich, für das der Kaiser stand, das römische Reich – Jahrhunderte später war es aufgelöst. So viel zum Thema Macht und irdische Machthaber. Jede Regierung geht einmal kaputt. Jeder Machthaber muss abtreten. Das Königreich von Jesus hat bisher niemand kaputt machen können. Es ist nur auf die Stimme von Jesus gegründet, auf nicht mehr, und jede zusätzliche Macht, seien es Soldaten, sei es Geld, jede zusätzliche Macht hat Jesu Königreich immer nur geschadet. Es ist allein auf die Stimme von Jesus gegründet. Aber es hat Bestand. Jesus und Pilatus – wer ist hier der König?

Jesus und Pilatus – aber das Bild ist damit noch nicht vollständig. Dann auch wir gehören dazu. Wo sind wir? Wie stehen wir zwischen diesen beiden Männern, wie stehen wir zu Jesus?

Wir sind die, für die Jesus sich dahingestellt hat. Er hat sich ja dem Spott ausgesetzt. Hat sich als traurige Figur anblicken lassen? Warum macht jemand so was? Das macht einer nur, wenn es ihn etwas wert ist. Jesus hat sich zum Gespött machen lassen – das war es ihm wert. Wir waren es ihm wert. Er hat sich öffentlich abwerten lassen vor Pilatus – sich entwerten lassen. Was mit entwerteten Sachen passiert, wissen wir. Einen entwerteten Fahrschein werfen wir bald achtlos weg. Er hat sich entwerten lassen für uns – und uns damit aufgewertet. Wer sind wir? Wir sind die Wertgeschätzten.

Jesus zeigt uns, wo in Wahrheit die Macht ist. Er allein hat sie. Andere Mächte gehen unter, er aber bleibt. Wir sind in unserem Leben nicht immer obenauf. Auf unsere menschlichen Sicherheiten ist nicht immer Verlass. Selbst unser Glaube kann scheitern. Das ist so, weil wir menschlich sind und menschliche Kräfte eben ihr Ende finden. Wir können uns aber an Jesus hängen, uns diesem König unterstellen. Sein Reich, so schwach es scheint und so wenig machtvoll, sein Reich wird bleiben. Wenn wir uns hineinstellen in seine Herrschaft, dann haben wir Zukunft – nur dann. Aber dann auch eine Zukunft über den Tod hinaus. Jesus ist noch dann König, wenn alle anderen Machthaber abgetreten sind, und zuletzt wird auch der Fürst dieser Welt, der Teufel, seine Macht verlieren. Das Königreich von Jesus bleibt. Wir haben Zukunft, wenn wir in seine Herrschaft eintreten.
Das Wort dieses Königs erfüllt sich. Es ist zuverlässig die innere Achse auch durch unser Leben. Wie stehen wir zu Jesus? Jesus steht zu uns, mit seinem Wort, das sich erfüllt.

Wie hat er es gesagt? „Ich bin ein König. Ich bin in die Welt gekommen, um für die Wahrheit Zeuge zu sein; dazu bin ich geboren. Jeder, der auf der Seite der Wahrheit steht, hört auf meine Stimme.“ Hier zeigt Jesus uns unseren Platz. „Jeder, der auf der Seite der Wahrheit steht, hört auf meine Stimme.“ Wir also sind die Hörenden. Wir leben davon, dass wir auf Jesu Stimme hören.
Wir haben das Vorrecht, in einer Umgebung zu sein, wo das Wort von Jesus überreich da ist. Wir haben Bibeln. Wir haben Lesehilfen für die Bibel. Wir haben Verkündigung und Schriftauslegung, in dieser Gemeinde, in vielen anderen Kirchen und Gemeinden in unserer Stadt, im Fernsehen und im Internet. Jesu Stimme ist für uns zugänglich. Wir sind reich.
Aber nicht das macht uns zu Christen und nicht das bringt uns ins Leben, dass wir Jesu Stimme hören. Christen sind nicht die, die Jesus zuhören. Sondern die auf Jesus hören. Auf diesen Unterschied kommt es an und ich meine, wir kennen in unserem täglichen Leben diesen feinen Unterschied sehr wohl. Ich als Vater merke, ob meine Kinder mir zuhören – „Jaja, Papa“ – oder ob sie auf mich hören. Jesus sagt: „Jeder, der auf der Seite der Wahrheit steht, hört auf meine Stimme.“ Und damit spielt er uns den Ball zu. Jedes Mal, wenn wir Kontakt haben zur Bibel oder zum Losungsbuch oder zu einer Predigt oder zu sonst einer biblischen Betrachtung, jedes Mal sollten wir uns fragen: Höre ich Jesus zu? Oder höre ich auf ihn?

Sein Königreich bleibt. Er selber als König bleibt ewig. Wir haben Zukunft, wenn wir auf ihn hören. Wir können unsere Entscheidungen in unsere eigene Macht stellen. Aber was mit eigener Macht letztendlich passiert, sehen wir an Pilatus. Lassen wir uns erfassen von Jesu Königreich – dann werden wir bleiben!

Wir haben, liebe Gemeinde, zwei Arten von Macht gesehen. Die Pilatusmacht und die Jesusmacht. Wenn wir seufzen, so wie ich es zum Beginn der Predigt erwähnt habe: „Hach, wenn ich einmal an der Regierung wäre – wenn die mich nur einmal ranlassen würden ...“ – wenn wir so seufzen oder träumen, dann meinen wir oft eine Pilatusmacht. Und der Milchmann Tewje, der träumt: „Wenn ich einmal reich wär“? Der wollte auch gerne ein feiner reicher Mann sein, angesehen und mit Einfluss. Er hat es Gott geklagt:
„Herr, du schufst den Löwen und das Lamm. Sag, warum ich zu den Lämmern kam! Wär es wirklich gegen deinen Plan, wenn ich wär ein reicher Mann?“
Zu den Lämmern wollte er nicht kommen. Er wollte lieber Löwe sein. Pilatus hätte sich sicher mit dem Löwen verglichen. Christus ist das Lamm Gottes. Das Lamm hat den Löwen überlebt.

Amen.

Dienstag, 16. März 2010

Bibelstudie "Bestandsaufnahme" 4: Pergamon

4 Der Brief an die Gemeinde in Pergamon: 2,12-17
Anders als die Städte Ephesus und Smyrna war die Stadt Pergamon nicht wirtschaftlich bedeutend; es war keine Hafenstadt. Der Name „Pergamon“ aber lässt an zweierlei denken: an das Pergamon-Museum in Berlin und an das Wort „Pergament“. In der Tat wurde das Schreibmaterial Pergament in Pergamon erfunden und nach dieser Stadt benannt – und dort reichlich verwendet. Pergamon hatte eine berühmte Bibliothek, war also wie eine Kulturhauptstadt.
Das Berliner Museum enthält den Pergamon-Altar, eine riesengroße Darstellung mit Szene aus den griechischen Mythen. Aber zur Zeit des NT glaubte man nicht mehr aus voller Überzeugung an die griechischen Götter. In Pergamon gab es andere Kulte: zum einen den Gesundheitskult um den Schlangengott Asklepios. Dieser Gott hatte den Beinamen „sotēr“, Retter – die Bezeichnung, die Christen ihrem Herrn Jesus gegeben hatten! Viele Heilstätten und Arztschulen waren in der Stadt. Zum anderen war Pergamon als Sitz des Statthalters der Provinz Asia auch Hochburg des Kaiserkultes.

4.1 Wer redet zur Gemeinde – wie zeigt sich Christus?
Der die Gemeinde anspricht, trägt das scharfe zweischneidige Schwert. So hatte sich Christus bereits zu Anfang vorgestellt, und zwar als Richter. Mir dem Schwert trennt er, unterscheidet er – jede falsche Vermischung hat vor ihm keinen Bestand.
Christus greift mit dem Schwert eine Eigenschaft auf, die bei Jesaja der Knecht Gottes hat (49,2).

1 Hört auf mich, ihr Inseln, merkt auf, ihr Völker in der Ferne! Der Herr hat mich schon im Mutterleib berufen; als ich noch im Schoß meiner Mutter war, hat er meinen Namen genannt. 2 Er machte meinen Mund zu einem scharfen Schwert, er verbarg mich im Schatten seiner Hand. Er machte mich zum spitzen Pfeil und steckte mich in seinen Köcher. 3 Er sagte zu mir: Du bist mein Knecht, Israel, an dem ich meine Herrlichkeit zeigen will.

Damit hat Christus angezeigt, dass er als Messias kommt.

Die Selbstvorstellung wirkt zunächst erschreckend und verlockt nicht gerade zu großer Nähe zu Christus. Der weitere Verlauf des Briefes wird zeigen, wie Christus tatsächlich mit dem Schwert kämpft, aber auch, welche besondere enge Verbundenheit Christus zu den Glaubenden knüpft. Für Pergamon ist Christus kein distanzierter Herr.

4.2 Was der Gemeinde gut gelungen ist
Zunächst lobt Christus nicht die Gemeinde für das, was sie gut gemacht hat, sondern nennt ihren Wohnort: am Thron Satans. Das Wort, das hier gebraucht ist, steht nicht für vorübergehendes Wohnen, quasi auf Durchreise, wie Pilger – sondern hier für dauerhaftes Wohnen. Man konnte sich diesem Ort nicht entziehen. Wohnort der Gemeinde und Satans (13b) war derselbe; die Christen lebten in Wohngemeinschaft mit dem Satan.

Was war der Thron Satans? Wahrscheinlich haben sich verschiedene Einflüsse verdichtet, so dass eine bestimmte religiöse „Atmosphäre“ (Pohl) entstanden war. Am bedrängendsten war der Kaiserkult, der Christen täglich in Gefahr brachte, weil sie nicht opfern wollten. Daneben wirkte der Asklepios-Kult: die Schlange konnte als Symbol Satans gelten, zumal Asklepios als „Heiland“ verehrt wurde. Die griechischen Göttertempel überragten für alle sichtbar die Stadt auf einer Anhöhe – wie ein „Thron“. Später in der Offenbarung, 13,2, wird der Thron noch einmal genannt – hier ist das römische Reich gemeint. Demnach wäre der Kaiserkult das am meisten Satanische in Pergamon.

Der Gemeinde ist in der Vergangenheit und in der Gegenwart manches gut gelungen: In früheren Tagen hat sie sich zum Glauben an Jesus bekannt – möglich ist auch die Übersetzung: „Treue zu Jesus“. Zwischen beidem gibt es keinen Unterschied: „an“ Jesus glauben die, die „ihm“ treu sind. In frühere Tagen gab es auch schon ein Todesopfer um des Glaubens willen – Antipas, über den man nichts Weiteres weiß. Wer wie dieser Zeuge treu ist, zu dem hält Jesus eine besondere Verbundenheit: Er nennt Antipas „treuen Zeugen“ und nennt ihn damit so, wie er, Jesus, sich selbst genannt hat (1,5). Jesus würdigt ihn mit Namensgemeinschaft und Schicksalsgemeinschaft.

In der Gegenwart der Gemeinde gelingt es gut, am Namen Jesu festzuhalten. Kaiseropfer und Jesusname waren ein strikter Gegensatz.

Heute kann man religiös oder gläubig sein, ohne sofort den Namen von Jesus auszusprechen. Auch wir Christen haben Formulierungen entwickelt, die Gottes Namen oder gar den Namen Jesu vermeiden:
>> „Der da oben weiß es schon ...“
>> „Wir wissen ja, an wen wir glauben ...“
>> „Der liebe Gott ...“
>> „Da können wir nur noch die Hände falten ...“
Was könnte der Grund sein, dass wir auch im Gespräch mit Christen solche Ersatzformulierungen verwenden?
Was wäre eine Redeweise von Jesus, die uns zu Recht als „zu fromm“ vorkäme?
Wenn in unserer Gesellschaft eine zunehmende Toleranz gegenüber anderen Religionen als guter Ton gilt, z. B. im Blick auf den Islam – wie können wir als einzelne Christen davon „profitieren“? Hilft uns das, unsererseits unbefangener von Jesus Christus zu reden?

4.3 Was der Gemeinde nicht gut gelang
Christus kritisiert, dass es manche Leute gibt, von denen Ungutes ausgeht. Er sagt, es sei eine „Kleinigkeit“ (V. 14) Gleich wird aber deutlich, dass Christus das doch sehr ernst nimmt und als Richter auftreten wird – es kann also gar keine Kleinigkeit sein. Möglicherweise greift er ein Schlagwort auf, das in der Gemeinde umging: Ach die ... das ist ja nur eine Kleinigkeit ...

Wahrscheinlich hat Christus eine einzige Gruppe im Blick: Sogenannte „Nikolaiten“, die einen gesellschaftliche Kompromisskurs fahren und lehren,
· sowohl in der Frage der Opferfleischmahlzeiten
· als auch in im Blick auf sexuelle Freizügigkeit.
Das Problem der Mahlzeiten trat besonders bei Geschäftsessen oder Familien- und Freundeskreisfeiern auf (siehe Abschn. 2.2.2). Nach Jesus muss man sich hier notfalls von einer Situation trennen (so sagt es der, der das trennende Schwert hat).

Sexuelle Freizügigkeit war in der damaligen Gesellschaft moralisch anerkannt. Der Redner Demosthenes (384-322 v. Chr.) hatte den Zustand (ohne Wertung, neutral) beschrieben: „Wir haben Konkubinen, um uns mit ihnen zu ergötzen, sodann gekaufte Huren, um unseren Körper zu pflegen, und schließlich Frauen, die uns rechtmäßige Kinder schenken sollen und deren Aufgabe es ist, alle unsere häuslichen Angelegenheiten zu überwachen.“
Der Kaiser Alexander Severus (Amtszeit 222-235) stattete seine Gouverneure der Provinzen mit dem Nötigen aus, nämlich mit einem Pferd, mit einer Dienerschaft und – wenn der Statthalter unverheiratet war – mit einer Konkubine (nach W. Barclay).
Freizügigkeit bei der Götterfrage und beim Sex traten oft gemeinsam auf. „Das erste Gebot, das vor Nebengöttern warnt, ist unterirdisch mit dem sechsten Gebot, das vor Nebenfrauen warnt, verbunden. Treue ist unteilbar, ob es sich nun um die Treue zu Gott oder zur eigenen Frau handelt.“ (Pohl)

4.4 Die Reaktion der Gemeinde – die Reaktion Christi
Obwohl nun einige aus der Gemeinde auf dem falschen Gleis sind, soll die gesamte Gemeinde umkehren. Sie steht, ob sie will oder nicht, in Verbindung, Solidarität mit den Falschlehrern: nicht sie sind bei dir, sondern „du hast“ diese Menschen bei dir.

Dementsprechend wird Christus als Reaktion auch „über dich“, die ganze Gemeinde kommen (wenn die Gemeinde ihre Reaktion versäumt). Gegen die einzelnen Falschlehrer wird Christus kämpfen. Zugehörigkeit zur Gemeinde schließt nicht aus, dass man Christus gegen sich haben kann! Die Umkehr der Gemeinde würde also einzelne davor bewahren, Christus gegen sich zu haben. Auch so sind alle insgesamt mit den einzelnen verbunden.

Wie kann eine gesamte Gemeinde umkehren, wenn es bloß einzelne sind, die schief liegen?
Die Gemeinde Ephesus verabscheute die „Taten“ der Nikolaiten (2,6), nicht die Menschen. Wie sieht die Umkehr einer Gemeinde aus, welche die falsche Taten abstellt, aber nicht zugleich die Menschen ausgrenzt? Geht das überhaupt?

4.5 Das doppelte Versprechen
Denen die treu bleiben, verspricht Christus zweierlei:

4.5.1 Das verborgene Manna
Wer treu bleiben wollte, musste auf manche fröhliche Mahlzeit verzichten. Christus kündigt etwas Besseres an: Er selber lädt zur Mahlzeit ein. Auf dem Tisch wird „verborgenes Manna“ stehen. „Darüber sollte man den Appetit zum Götzenopferfleisch verlieren.“ (J. A. Bengel) Gott versorgte damals sein Volk mit Nahrung, wo es eigentlich keine Nahrung zu erwarten gab. Nach jüdischer Denkweise war eine Gefäß mit Manna im Tempel aufbewahrt. Bei der Zerstörung des Tempels war es verschwundne – in messianischer Zeit würde es wieder auftauchen. Wenn Christus darauf anspielt, zeigt er erneut an, das er der Messias ist.

Soll ich mir etwas selber nehmen – auch um den Preis eines Kompromisses? Oder soll ich warten, bin Gott es mit von sich aus gibt? – Glaubende stehen immer wieder vor dieser Entscheidung. Schon im Paradies hätten die ersten Menschen vertrauen können, dass Gott ihnen das Wissen um gut und Böse zur rechten Zeit gibt – aber sie nahmen es sich selber. Jesus in der Wüste verzichtete darauf, dass Engel ihn nach dem Sturz vom Tempel auffangen würden – und wenig später bekam er eben dies: dass die Engel ihm dienten.

Wer von uns kann eine Erfahrung berichten, dass Gott mit dem versorgt hat, was man aus Gehorsam sich selber nicht genommen hat?

4.5.2 Der weiße Stein
Weiße Steine wurden in der damaligen Gesellschaft ab und zu benutzt; z. B. in einer Abstimmung der Volksersammlung. Wer in einer Sache einen weißen (statt eines schwarzen) Stein abgab, hatte für Freispruch gestimmt.
Marmortafeln mit dem eingravierten Namen darauf hatten die Sieger der olympischen Spiele, um sich zu Hause als rechtmäßige Preis-Empfänger auszuweisen. Damit bekommen die „Sieger“ (V. 17) die Zusage: ihr seid es rechtmäßig!
Einen neuen Namen hatte Gott z. B. bei Jesaja für sein Volk versprochen. Damit wollte er zugleich eine neue Geschichte schenken, wie eine neue Biografie: die alte Geschichte des Scheiterns wird so nicht fortgesetzt!

(An Israel: )
2 Dann sehen die Völker deine Gerechtigkeit und alle Könige deine strahlende Pracht. Man ruft dich mit einem neuen Namen, den der Mund des Herrn für dich bestimmt. 3 Du wirst zu einer prächtigen Krone in der Hand des Herrn, zu einem königlichen Diadem in der Rechten deines Gottes. 4 Nicht länger nennt man dich «Die Verlassene» und dein Land nicht mehr «Das Ödland»,sondern man nennt dich «Meine Wonne» und dein Land «Die Vermählte». Denn der Herr hat an dir seine Freude und dein Land wird mit ihm vermählt. Jes 62

Einen Namen, den niemand kennt außer dem Namensträger selbst, wird Christus selber mit sich führen (Offb 19,12). Wie beim treuen Zeugen Antipas verspricht Christus also hier der ganzen Gemeinde einen wertvollen Schatz, den er selber hat, und stellt sie in diesem Punkt sich gleich; zieht sie an sich. Wenn Christus auch der unzweideutige Richter ist, möchte er keine Distanz seiner Gemeinde zu sich.

Montag, 15. März 2010

Predigt „Mitten im Leben – die Jesus-Tatsache“

Predigt über Mk 10,35-45: „Mitten im Leben – die Jesus-Tatsache“
Liebe Gemeinde,
lasst euch mal mitnehmen in folgende Geschichte:
Eine Gruppe von Männern und Frauen sitzt zusammen draußen auf dem staubigen Boden. Eben geht die Sonne auf. Sie bilden eine Expeditionsgruppe. Eine kleine abgelegene Insel haben sie erkundet. Heute Abend müssen sie die Insel verlassen, heute Abend kommt das Schiff, um sie abzuholen. Aber jetzt, bei Sonnenaufgang, sind sie noch viele Kilometer von der Küste entfernt. Ein riesiger Bergzug türmt sich vor ihnen auf. Da müssen sie drüber. Auf der anderen Seite ist die Küste. Sie diskutieren, wie sie das schaffen können. Sie suchen die Berge mit dem Fernglas ab. Die eine sagt: „Links am Gipfel vorbei könnte eine Art Pfad sein.“ Der andere meint: „Weiter östlich, das sieht doch aus wie ein Pass, da geht es vielleicht rüber.“ Der dritte: „Unsere Vorräte reichen gar nicht für so einen anstrengenden Aufstieg.“ Der vierte sagt: „Wir müssen aber rüber. Wenn wir das Schiff heute Abend verpassen, hängen wir fest und die Vorräte reichen schon gar nicht.“ Die erste wieder: „Da oben auf dem Berg zu stehen, das wäre eigentlich der krönende Abschluss der Expedition.“ Ein anderer: „Krönung hin oder her, wir haben nur eine Chance, wir müssen es versuchen, auch wenn’s knapp wird. So sind nun mal die Tatsachen.“ Alle sind in großer Aufregung.
Bis einer anfängt zu lachen. „Was haben wir da die ganze Zeit geredet!“ Er zeigt hinter sich. Dort kommt der Bergführer. Er sieht kein bisschen besorgt aus. Er tritt hinzu und sagt: „Auf geht’s. Wir werden heute eine Schlucht durchqueren. Das ist anstrengend, aber wir können das schaffen. Über die Berge hätte es nie geklappt in einem Tag. Lasst uns gehen!“ Alle atmen durch und brechen auf. Heitere Entschlossenheit macht sich breit.

Was ist hier passiert?
Alle haben auf die Tatsachen geschaut – so wie sie es gesehen haben. Deshalb wollten sie nach oben. Aber plötzlich stand eine ganz andere Tatsache im Raum. Ein Mensch, der in sich eine andere Tatsache war. Der Bergführer. Der wusste: Sie müssen unten hindurch. Bei allem, was sie vorher geplant und geredet haben, haben sie die falschen Tatsachen zugrundegelegt. Der Druck hat sich gelöst, indem die neue Tatsache erschien.
So geht es uns auch manchmal: Wir reden und planen und drehen uns um diese oder jene Tatsache, dabei ist das alles hinfällig, weil längst jemand anders da ist. Jemand, der in sich eine völlig neue Tatsache ist. Jesus. Und dann muss alles neu geplant werden, aber dann geht es endlich auch weiter.
Die Schüler von Jesus waren einmal in so einer Situation. Hören wir auf den Bericht des Markusevangeliums:

35 Jakobus und Johannes, die Söhne des Zebedäus, traten an Jesus heran und sagten: »Meister, wir möchten, dass du uns eine Bitte erfüllst.« – 36 »Was wollt ihr?«, fragte er. »Was soll ich für euch tun?« 37 Sie antworteten: »Wir möchten, dass du uns in deiner Herrlichkeit neben dir sitzen lässt, den einen an deiner rechten Seite und den anderen an deiner linken Seite.« – 38 »Ihr wisst nicht, um was ihr da bittet«, entgegnete Jesus. »Könnt ihr den bitteren Kelch trinken, den ich trinken werde, und die Taufe empfangen, mit der ich getauft werden muss?« – 39 »Das können wir!«, erklärten sie. Da sagte Jesus zu ihnen: »Den Kelch, den ich trinke, werdet ihr zwar auch trinken, und die Taufe, mit der ich getauft werde, werdet auch ihr empfangen. 40 Aber darüber zu verfügen, wer an meiner rechten und an meiner linken Seite sitzen wird, das steht nicht mir zu. Wer dort sitzen wird, das ist von Gott bestimmt.«
41 Die übrigen zehn Jünger hatten dem Gespräch zugehört und ärgerten sich über Jakobus und Johannes. 42 Da rief Jesus sie alle zusammen und sagte: »Ihr wisst, dass die, die als Herrscher über die Völker betrachtet werden, sich als ihre Herren aufführen und dass die Völker die Macht der Großen zu spüren bekommen. 43 Bei euch ist es nicht so. Im Gegenteil: Wer unter euch groß werden will, soll den anderen dienen; 44 wer unter euch der Erste sein will, soll zum Dienst an allen bereit sein. 45 Denn auch der Menschensohn ist nicht gekommen, um sich dienen zu lassen, sondern um zu dienen und sein Leben als Lösegeld für viele hinzugeben.« (Mk 10)

Zehn Männer ärgern sich über zwei andere. Das hätten wir auch gemacht. Was denken die Zwei sich bloß? Sie wollen ganz schnell sein und sich die besten Plätze schnappen. Wer zuerst kommt, mahlt zuerst. Die anderen Zehn gönnen ihnen diesen Vorteil nicht.
Wie aber sind diese beiden ganz Schlauen überhaupt auf die Idee gekommen, es gäbe in der Herrlichkeit von Jesus bestimmte Regierungsbänke zu verteilen?
Nun, Jesus hatte eben von seinem brutalen Tod gesprochen, der kommen würde, und von seiner Auferstehung von den Toten. Die Schüler haben nur die Hälfte begriffen. Dass Jesus sterben sollte, das ging über ihren Verstand. Aber Auferstehung – das klang besser. Jesus war ja der versprochene Messias. Und Juden damals wussten, was mit dem Messias werden würde: Er würde die Herrschaft antreten und eine Regierung des Friedens anfangen. Keine Gottlosigkeit mehr und keine römischen Besatzertruppen. Scheinbar wird es bald losgehen mit dieser Messiasregierung. So haben sie Jesus verstanden. Und da wollten sie alle gerne weit oben dabei sein. Eigentlich alle zwölf. Wie ärgerlich nur, dass zwei von ihnen sich nach ganz obenauf gedrängt haben. Die zehn anderen waren sauer, weil sie fürchteten, weniger abzukriegen. Eins aber haben sie gar nicht gemerkt: dass sie alle die ganze Zeit über das falsche Thema sprachen.
Jesus hat es zurechtgerückt. Der Weg geht nicht nach oben auf den Gipfel. Der Weg geht untendurch, durch die Schlucht. Nicht Herrscher werdet ihr sein, sondern Diener. Keiner von euch wird groß rauskommen. Sondern wenn ihr ans Ziel kommen wollt, müsst ihr euch bücken. Niedrig werden. Einander dienen. Mehr noch: allen dienen. So kommt ihr ans Ziel. So kommt ihr sogar selbst auf eure Kosten. Ihr werdet nicht als die Verlierer dastehen! Aber das schafft ihr nur, wenn ihr erst mal jeden Ehrgeiz verloren gebt. So kommt ihr ans Ziel. „Wer unter euch groß werden will, soll den anderen dienen; wer unter euch der Erste sein will, soll zum Dienst an allen bereit sein.“

Liebe Gemeinde, bis hierher kennen wir das alles eigentlich. Wir wissen, wie wir uns verhalten sollen. Füreinander da sein. Sich selbst nicht in den Mittelpunkt stellen. Fragen, was der andere braucht. All das ist altbekannt und wir haben es oft so weit verinnerlicht, dass wir meinen: Jesus möchte eben, dass wir uns bremsen. Unserem Ehrgeiz Fesseln anlegen. Unsere Selbstbehauptung an die Kette legen. Das geht zwar wider unsere Natur, aber nun gut, Jesus möchte es so, also versuchen wir es recht und schlecht, auch wenn wir uns nicht sicher sind, ob wir am Ende schlecht dastehen.
Wenn das aber so wäre – wer wäre Jesus dann? Jemand, der uns Fesseln anlegt. Jemand, der unsere Energie kappt. Einer, der unsere Lebenstriebe an die Kette legen will. Ist Jesus so jemand?

Als Jesus mit seinen Schülern geredet hat, da hat er es anders gesagt. Und dieser Unterschied ist entscheidend wichtig. Jesus hat zuerst erinnert, wie es der Lauf der Welt ist und wie es unserer menschlichen Natur entspricht. „Ihr wisst, dass die, die als Herrscher über die Völker betrachtet werden, sich als ihre Herren aufführen und dass die Völker die Macht der Großen zu spüren bekommen.“ Ja, das ist mitten aus dem Leben genommen. So sind nicht nur die Politiker und Wirtschaftskapitäne, sondern ich bin so, jeder von uns. Sobald wir ein wenig Macht oder Einfluss haben, sind wir geneigt, uns damit höher zu stellen. Und wenn einer nicht mitmacht, machen doch die meisten anderen so weiter und der eine kommt unter die Räder. Das sind die Tatsachen dieser Welt. Also verlangt Jesus, dass wir entgegen diesen Tatsachen leben? Uns unter die Räder fallen lassen? ‚Der Lauf der Welt ist nun mal so, aber ihr sollt euch dagegen stemmen!‘ –?

Gerade so sagt Jesus es nicht. Hier, im Markusevangelium, lautet sein Satz nicht: In der Welt geht es nun mal so zu – aber bei euch soll es nicht so sein. Jesus sagt es hier anders, nämlich so: In der Welt unterdrücken die Mächtigen andere – bei euch ist es aber nicht so! Es ist einfach nicht so. Es ist nun mal anders bei euch! Jesus fordert nichts. Sondern er beschreibt eine Tatsache. Es ist anders im Kreis der Jesus-Schüler, dieser Tatsache müsst ihr nur mal ins Auge sehen.

Welche Tatsache meint Jesus?
„Denn auch der Menschensohn ist nicht gekommen, um sich dienen zu lassen, sondern um zu dienen und sein Leben als Lösegeld für viele hinzugeben.“ Das ist die Tatsache. Jesus ist so gekommen. Jesus selber ist die Tatsache. Jesus selber ist anders als das Muster dieser Welt, er strebt nicht nach dem Gipfel, sondern geht untendurch, durch die Schlucht, er sogar durch das Tal des Todes. Jesus ist diese Tatsache, mitten im Leben dieser Welt und mitten im Leben seiner Schüler. Es ist wie mit der Expeditionsgruppe, von der ich erzählt habe. Sie hatten sich Sorgen gemacht und hatten geplant anhand der Tatsachen, die sie für gültig befanden. Aber plötzlich war eine neue Tatsache in Person unter ihnen – jemand, der sich nun wirklich auskannte. Und von dieser neuen Tatsache mitten in ihrem Leben ausgehend haben sie sich dann natürlich auch anders verhalten. Jetzt wäre es völliger Blödsinn gewesen, weiter nach oben zu wollen, wo doch die Fakten sagen: untendurch geht der Weg. Aber nun musste sie keiner mehr dazu überreden. Und sie mussten sich auch nicht bremsen und an die Kette legen, weil sie doch eigentlich immer noch auf den Gipfel wollten. Nein, keiner mehr wollte auf den Gipfel. Denn die neue Tatsache sprach dagegen.

Wenn Jesus in unser Leben tritt, dann gruppiert sich alles neu, weil er in Person die Tatsache ist, die alles verändert. Jesus verändert alles, weil er den Weg der Hingabe ging. Er ist wie das Weizenkorn, das in die Erde fällt und sich dort in der Dunkelheit auflöst, aber gerade so bringt es neue Frucht hervor. So ist Jesus, und momentan ist die Zeit im Kirchenjahr, wo wir das nahe an uns heranlassen. Jesus hat sich selber preisgegeben, als Lösegeld, und wir sind damit freigekauft. Also gerade nicht gebremst und an die Kette gelegt, sondern freigekauft. Das verändert uns natürlich. Unsere Expedition wird nun den richtigen Weg gehen, durch die Schlucht, nicht auf den Gipfel; wir werden Diener statt Herrscher, und auch das wird anstrengend sein. Unsere Taten sind jetzt dienende Taten. Aber aus nur einem einzigen Grund: Die Sachen, die wir tun, richten sich nach der Tatsache, die Jesus heißt. Jesus ist die neue Tatsache mitten im Leben, und von daher kommen unsere Taten und Sachen. Aber nicht, weil wir müssen, sondern einfach deshalb, weil es nun das einzig Sinnvolle ist.

Wie tritt Jesus heute mitten in unser Leben als Tatsache?

Es gibt viele Möglichkeiten. Bist du getauft? Erinnerst du dich? Da hat Jesus Christus doch Ja zu dir gesagt. Dich angenommen, ohne eine Vorleistung von dir. Er hat die Vorbedingung erfüllt. Darauf wurdest du getauft. Und es war wie eine Eheschließung: ab jetzt – für immer. Seinen Geist hat er in dich geschenkt. Wenn du dich an deine Taufe erinnerst und zu ihr zurückkehrst – dann siehst du wieder klar die Jesus-Tatsache in deinem Leben.

Hast du Menschen, die dich akzeptieren, so wie du bist? Deine Kinder vielleicht? Dein Ehepartner? Ein guter Freund? Deine Eltern? Leute, die dich spüren lassen: Bleib der, der du bist, so bist du okay? Diese Wertschätzung ist ein Spiegel von Gottes Liebe. Wenn es dich schon wärmt, wie einige Menschen dich akzeptieren – Gott tut das vielfach mehr. Menschen, die dich annehmen, können so eine Erinnerung werden an die Jesus-Tatsache. Jesus sagt: Ich habe dich noch viel mehr akzeptiert.

Die Jesus-Tatsache tritt auch dann neu in dein Leben, wenn du an dein Lebensende denkst. Was wird Jesus dir dann wohl sagen, wenn er dich am Tor des Todes abholt? Wird er sagen: „Ich hoffe, du hast dich auch genug angestrengt in deinem Leben?“ Wird er nach deinen Erfolgen fragen? Wird er nicht vielmehr so sprechen: „Mein Kind, die besten Momente in deinem Leben waren die, wo du mir vertraut hast. Und jetzt: willkommen – weil du mir vertraut hast.“ Wenn du so an dein Lebensende denkst und an Jesus, dann rücken sich die Wichtigkeiten und Unwichtigkeiten heute zurecht. Und heute schon siehst du wieder Jesus als Tatsache in deinem Leben.

Jesus tritt schließlich auch gerade jetzt in dein Leben, wenn du ihn in dieser Predigt sagen hörst: ‚Ich habe mein Leben als Lösegeld gegeben. Für dich, um dich zu lösen. Ich zwänge dich nicht ein, sondern habe dich erlöst. Ich lege dich nicht an die Kette, sondern ich löse dich.‘ Wenn diese Worte jetzt in dein Herz fallen, wie wenn sie von Jesus gesprochen seien, auch dann ist Jesus als Tatsache in dein Leben getreten.
Wir wollen an dieser Stelle die Predigt unterbrechen und bei Jesus blieben. Wir wollen ihm ein Lied singen: „Mein Jesus, mein Retter“
...

Und nun setzen wir die Predigt noch für eine kurze Weile fort. Mich hat noch eine Einzelheit in unserem biblischen Bericht berührt und die möchte ich noch mit euch teilen.
Jesus sagt: „Denn auch der Menschensohn ist nicht gekommen, um sich dienen zu lassen, sondern um zu dienen und sein Leben als Lösegeld für viele hinzugeben.“ Das ist so ein unschätzbar wichtiger Satz über Jesus. Er zeigt zusammengefasst, welchen Sinn der schreckliche Tod von Jesus hatte. Nur hier hat Jesus gesagt, er würde uns freikaufen durch seinen Tod. Wenn Jesus seinen Schülern nicht diese Auskunft geschenkt hätte, wenn er sich selber nicht so erklärt hätte – dann wäre es für sie noch schwerer gewesen, an einen Gekreuzigten zu glauben und für uns auch. Dann wäre es für uns auch schwerer, in Frieden zu sterben und getröstet dem Tod zu begegnen. So aber können wir es, weil wir von Jesus wissen: Er hat uns freigekauft, erlöst.

Warum aber hat Jesus das gesagt? Wie kam er dazu, sich seinen Schülern so zu erklären?
Weil seine Schüler so beschränkt gewesen sind! Weil sie Jesus nicht begriffen haben. Weil sie auf die absurde Idee gekommen sind, sie könnten sich auf die Regierungsbänke in der Herrlichkeit drängeln. Als ob es um Glanz und Gloria ginge! Die Schüler waren so beschränkt gewesen, das zu glauben. Sie hatten die total falsche Richtung im Sinn, zum Gipfel anstatt untendurch – und was macht Jesus? Er zeigt ihnen, wo es langgeht, und er beschenkt sie dann mit einer unschätzbar wichtigen Auskunft. Wenn die Schüler nicht so unbedacht losgeplappert hätten in all ihrer Einfältigkeit, dann hätten wir heute womöglich dieses Kernwort von Jesus gar nicht in unseren Bibel.

Ich sehe daran, wie Gott aus menschlicher Dummheit noch etwas wunderbar Großes machen kann. Das war schon immer Gottes Art gewesen. Menschen planten Böses, aber Gott hat Gutes daraus geplant. (Gen 50,20). Wo die Sünde stark geworden ist, ist die Gnade noch viel stärker geworden! (Röm 5,20) So macht Gott es. Bitte erlaubt mir einen vielleicht etwas deftigen Vergleich.
Ein früherer Bekannter von Kerstin und mir war in Hamburg Tontechniker in den Studios von Sony. Er hat da Aufnahmen mit berühmten Künstlern gemacht, Opern mit namhaften Dirigenten aufgezeichnet. Aber natürlich auch mit anderen Musikern. Manchmal waren die Aufnahmebedingungen mies. Er hatte da etwas auf dem Band und musste es wieder und wieder bearbeiten, damit es für die CD tauglich würde. Und einmal hat er geseufzt: „Ich bekomme manchmal so schlechtes Zeug – und dann soll ich aus Schiete Marmelade kochen!“ Liebe Geschwister, ich weiß, dieses Wort gehört sich nicht in der Predigt, aber ich kann mir nicht helfen: Wenn ich an mein Leben denke und was Gott immer wieder noch schafft daraus zu machen, dann muss ich an Toni denken und seinen Job und dass Gott es noch viel besser kann: aus – äh – Ungenießbarem noch was Köstliches machen.
Was die Schüler von Jesus vorhatten, war Mist! Glanz und Gloria unter sich verteilen! Aber Jesus hat sie nicht weggejagt, sondern mit dem Wort beschenkt, das ihnen nun Klarheit gibt im Leben und im Sterben. Jesus hat es öfter so gemacht. Ein weiteres Kernwort über Jesus haben wir anfangs im Gottesdienst gehört: „Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben – niemand kommt zum Vater außer durch mich.“ (Joh 14,6) Unvorstellbar, wenn dieses Basiswort nicht in der Bibel stünde! Und wieder hat Jesus es nur deshalb gesagt, weil sein Schüler Thomas es vorher nicht kapiert hat! „Wir wissen nicht, welchen Weg du meinst“, hat er gesagt. Wir Schülerinnen und Schüler Jesu heut wissen auch oft nicht, was Jesus meint, wir stehen wie der Ochs vorm Scheunentor, wir sind manchmal ziemlich beschränkt. Und dann nimmt Jesus uns an der Hand und erklärt es noch mal ganz langsam und beschenkt uns dann mit einem Wort, das unendlich kostbar ist. Ich denke manchmal, wenn ich an Gottes Gedanken so kilometerweit vorbeischieße: Es ist zum Weglaufen mit mir. Aber Jesus läuft nicht weg von seinen Leuten, sondern geht noch näher auf uns zu. Wichtige Worte von Jesus, theologisch zentrale Bekenntnissätze stehen in der Bibel, weil Jesus sich nicht abgewendet hat von seinen beschränkten Schülern, sondern sie um so reicher beschenkt hat.

Ich will daraus Hoffnung schöpfen, für mich, für uns. Jesus kann von jedem Punkt unseres Lebens aus weiter kommen mit uns. Nichts ist hoffnungslos, wenn wir es an Jesus abgeben, keine persönliche Krise und auch nichts in der Gemeinde. Lasst uns diese Hoffnung nie vergessen!
Und lasst uns im Blick behalten, was die wirkliche Tatsache in unserem Leben ist: Jesus selbst in Person. Alles andere ordnet sich dann von ihm aus. Auf ihn also lasst uns zugehen!
Noch einmal singen wir miteinander, jetzt wirklich zum Ende der Predigt:
„Jesus, zu dir kann ich so kommen, wie ich bin.“

Mittwoch, 10. März 2010

Predigt „Voneinander enttäuscht – und nun?“

Predigt über 2Kor 12,19–13,13 (in Auswahl) „Voneinander enttäuscht – und nun?“
Liebe Gemeinde,
ein Vater beugt sich über die Wiege seines vor einigen Tagen geborenen Kindes und ist völlig versunken. Die Mutter betritt unbemerkt das Zimmer und, ohne sich zu rühren, betrachtet sie das ungläubige Staunen, die tiefe Freude und das deutliche Entzücken auf dem Gesicht ihres Mannes. Ganz leise und tief gerührt nähert sie sich dem Vater, legt liebevoll ihren Arm um seine Schultern und haucht: „Mein Liebster, ich kann mir gut vorstellen, was dich jetzt bewegt!”
Überrascht fährt der Vater aus seiner Versunkenheit auf und sagt: „Ja, ich wüsste für mein Leben gern, wie man solch eine hübsche Wiege für vierzig Euro herstellen kann. Das ist fast ein Wunder!“ (Axel Kühner)

Und es ist kein Wunder, dass die Frau enttäuscht ist. Das war nicht die erwartete Antwort. Wahrscheinlich hat jeder von uns in der letzen Woche die ein oder andere Enttäuschung erlebt, vielleicht klein, vielleicht auch groß. Wir erleben Enttäuschungen gerade da, wo man sich eigentlich liebt. Weil meine Frau mich liebt, erwartet sie natürlich auch anderes und mehr von mir als von anderen Menschen. „Hast du denn nicht gesehen, dass ...“ – ääh, manchmal habe ich es wirklich nicht gesehen. Ihre Erwartung ist enttäuscht.
Derjenige, der mir egal ist, der kann mich nur selten enttäuschen. Von dem erwarte ich ja sowieso nichts. Aber wenn mir an jemanden etwas liegt und der sich anders als erwartet verhält, dann denke ich oder sage ich: „Das hätte ich nicht gedacht! Wie konnte der nur!“
Enttäuschung ist, wo Liebe ist. Das passiert in Freundschaften, in der Ehe und auch zwischen Glaubensgeschwistern. Das war schon so, als Gemeinde gerade erst entstanden war. Jesus wurde enttäuscht von seinen Jüngern. Und auch z. B. die Christen in Korinth waren immer wieder eine große Enttäuschung. Hören wir auf einige Briefzeilen von Paulus, der einmal ziemlich enttäuscht von seiner Gemeinde war:

19 Schon längst meint ihr, dass wir uns vor euch rechtfertigen. Vor Gott reden wir in Christus. All das aber, ihr Lieben, um euch aufzubauen. 20 Ich fürchte nämlich, dass ich euch, wenn ich komme, nicht so vorfinde, wie ich es will, und dass auch ich nicht so von euch vorgefunden werde, wie ihr es wollt. Vielmehr befürchte ich Streit, Eifersucht, Wutausbrüche, Egoismus, Verleumdungen, Intrigen, Arroganz und Durcheinander, 21 so dass, wenn ich das nächste Mal komme, mein Gott mich vor euch erniedrigen wird. Dann fürchte ich in Trauer zu geraten über viele, die schon länger in Sünde leben und nicht umgekehrt sind von ihrer Art, alles in den Dreck zu ziehen, von ihrem Ehebruch und ihrer triebhaften Lebensweise. [...]
13,2 Ich hab’s bereits gesagt und sage es jetzt voraus, (damals) bei meinem zweiten Besuch nicht anders als jetzt aus der Ferne – (ich sage es) denen, die schon länger in Sünde leben und allen anderen: Wenn ich erneut komme, werde ich schonungslos auftreten. [...]
5 Prüft euch selbst, ob ihr im Glauben seid; schätzt euch selbst ein! Oder erkennt ihr euch selbst nicht als solche, in denen Jesus Christus ist? Wenn nicht, dann hättet ihr die Probe nicht bestanden. 6 Ich hoffe aber, ihr werdet erkennen, dass wir bei dieser Probe nicht durchfallen. 7 Doch beten wir zu Gott, dass ihr keinerlei Böses tut – nicht damit wir uns als Bewährte herausstellen, sondern damit ihr das Gute tut, wir aber wie Versager dastehen. [...] 9 So freuen wir uns, wenn wir schwach sind, ihr aber etwas ausrichten könnt. Darum nämlich beten wir: um eure Wiederherstellung. 10 Deswegen schreibe ich euch das aus der Ferne, damit ich nicht bei meinem Besuch schroff vorgehen muss gemäß der Vollmacht, die der Herr mir gegeben hat zum Aufbauen und nicht zum Einreißen.
11 Im Übrigen, Geschwister: freut euch, lasst euch wieder herrichten, lasst euch ermahnen, seid auf dasselbe bedacht, haltet Frieden. So wird der Gott der Liebe und des Friedens mit euch sein. [...]
13 Die freundliche Zuwendung des Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit euch allen. 2Kor 12/13

Paulus und seine Korinther. Der Gründervater und seine Gemeinde. Beide haben es nicht leicht miteinander. Und es ist eben deshalb besonders schwer, weil jedem der andere etwas bedeutet; weil sie sich lieben. Im Moment liegen sie quer zueinander. Und zwar so, dass Paulus befürchtet, es würde eine wechselseitige Enttäuschung geben:
„Ich fürchte nämlich, dass ich euch, wenn ich komme, nicht so vorfinde, wie ich es will, und dass auch ich nicht so von euch vorgefunden werde, wie ihr es wollt.“ Also wird Paulus unzufrieden mit der Gemeinde sein und die Gemeinde unzufrieden mit Paulus. Die bevorstehende Enttäuschung ist keine Einbahnstraße. Paulus weiß, dass auch er selbst nicht allen Erwartungen gerecht werden kann.
Wir können uns eine Menge abschauen an der Art, wie Paulus diese drohende Enttäuschung nun angeht. Ich möchte das, was er schreibt, in drei Durchgängen betrachten: Zum ersten möchte ich die Grundlinien zeigen, die Paulus erkennen lässt, damals für Korinth. Dann möchte ich ableiten, was wir heute daraus ziehen können für unsere Partnerschaften und Ehen. Und drittens frage ich danach, was das für Enttäuschungen in unserer Gemeinde heißen kann.

Paulus und die Enttäuschung
Paulus ist noch nicht völlig ernüchtert, aber er sieht es kommen. Und es wird ihm weh tun. Er spürt schon Vorboten der Trauer, es wird vielleicht auch nicht ohne Tränen abgehen. Wie geht er die Enttäuschung an?
Wir können eine Reihe von Grundzügen beobachten.

1. Paulus spricht alles offen an. Er verschleiert nicht, was schief läuft. Klare Worte fallen: Eifersucht, Wutausbrüche, Verleumdungen, Intrigen, Arroganz, Ehebruch, triebhafte Lebensweise – und das ist nur eine Auswahl. Der Brief, den Paulus geschrieben hat, wurde ja damals im Gottesdienst öffentlich vorgelesen und die Gemeindemitglieder müssen zusammengezuckt sein, als diese Worte wie Hammerschläge kommen. Sie haben sich vielleicht auch ängstlich umgesehen: Ist hoffentlich heute kein Gast im Gottesdienst? Aber Paulus hat es so klar ausgesprochen. Das Fehlverhalten war vor den Augen aller passiert, also benennt er es auch in der Gemeindeöffentlichkeit. (Paulus lässt sogar durchblicken, dass er an einzelne Menschen denkt: Es sind „viele, die schon länger in Sünde leben und nicht umgekehrt sind von ihrer Art, alles in den Dreck zu ziehen.“ Die Korinther konnten sich ausrechnen, an wen Paulus dachte. Peinliche Bloßstellung?) Paulus hielt es für nötig, so deutlich zu werden.

2. Paulus hat seine Enttäuschung sortiert. Er ist nicht persönlich beleidigt und breitet das etwa aus. Persönlich enttäuscht hätte er wohl sein können. Zu viele Korinther haben seine Predigten nicht befolgt. Er wurde als Mitarbeiter und als Mensch angegriffen. Man hatte sich zwischenzeitlich anderen Autoritäten zugewandt. Verständlich wäre es gewesen, wenn Paulus sich beklagt hätte: ‚So geht ihr mit mir um? Das muss ich mir bieten lassen? Ist da nicht wenigstens ein kleiner Rest an Wertschätzung?‘ Aber all das lässt Paulus unter den Tisch fallen. Er selber wäre bereit, als Verlierer aus dem Streit herauszugehen, wenn die Gemeinde nur wieder auf den richtigen Weg zurückfände: „Wir beten zu Gott, dass ihr keinerlei Böses tut – nicht damit wir uns als Bewährte herausstellen, sondern damit ihr das Gute tut, wir aber wie Versager dastehen.“ Paulus verteidigt nicht sich – sondern es geht ihm um eine größere Sache.
Welche Sache ist das?

3. Paulus erinnert daran, was er und die Gemeinde eigentlich gemeinsam wollten. Er zeigt auf den gemeinsamen Start. Damals hatte er Christus gebracht und viele haben Christus als ihren Herrn angenommen. Sie wurden dann Gemeinde. Also darum muss es gehen: Lebt ihr noch im Glauben? Also – setzt ihr noch euer ganzes Vertrauen auf Gott? Lebt Christus noch in euch? Werft ihr die Zerstörungskräfte aus eurem Leben immer noch raus, Hass z. B. und Ehebruch? Gleicht eurer Lebensstil immer noch dem Leben von Jesus? Darum geht es. Um diese Sache streitet Paulus gern und hier wäre er bitter enttäuscht, wenn die Korinther das verloren hätten. Die Korinther mögen ihrerseits von Paulus enttäuscht sein, dass er nicht moderner denkt, dass er z. B. nicht erlaubt, an öffentlichen Opferfesten teilzunehmen. Dass er auch nicht erlaubt, was alle Griechen sich erlaubten, nämlich eine Extra-Freundin für’s Bett. Hier bleibt Paulus fest, egal, ob er die Erwartungen der Gemeinde enttäuscht. Hier hält er einen hohen Anspruch aufrecht. Es gibt Dinge, da muss man enttäuschen! Wenn die Korinther sich weiter beharken, verleumden, Intrigen spinnen, dann haben sie eben nicht nur Paulus enttäuscht, sondern sich gegen Christus gestellt.
Paulus malt den Korinthern noch ein Bild vor Augen: „Ich sage all das, ihr Lieben, um euch aufzubauen.“ Das Ursprungswort lässt den Hausbau anklingen. Und damit sagt Paulus: ‚Liebe Leute, damals hat Jesus doch angefangen, etwas unter uns aufzubauen. In jedem von euch ist seine Wohnung entstanden. Wir alle als Gemeinschaft bilden Gottes Haus. Christus baut daran und wir bauen mit. Ich und ihr. Das ist doch unser gemeinsames Vorhaben. Das dürfen wir doch nicht zerstören.‘
Also geht es Paulus darum, ob das Leben in Christus aufgebaut wird oder nicht. Wenn nicht, dann wäre er sehr enttäuscht. Wenn doch, dann ist er sogar bereit, persönlich als Schwächling dazustehen. Egal. Sich selbst verteidigt Paulus nicht. Aber das gemeinsame Vorhaben sehr wohl. „Seid auf dasselbe bedacht!“
Macht Paulus also der Gemeinde Vorwürfe? Schreibt er: ‚Ihr habt euch ja total verrannt, ihr fahrt gerade mit Höchstgeschwindigkeit vor die Wand?‘
Nein, Paulus schreibt anders, und das ist der nächste Grundzug:

4. „Prüft euch selbst, ob ihr im Glauben seid; schätzt euch selbst ein! Oder erkennt ihr euch selbst nicht als solche, in denen Jesus Christus ist?“ Paulus hat sehr wohl seine Diagnose, aber er beharrt nicht darauf. Sondern die Gemeinde kann es selber herausbekommen. Sie müssen sich nur an die echten Ziele erinnern: ob das Leben in Christus sich bei ihnen aufbaut. ‚Ist das so? Ich beurteile euch nicht. Ihr selbst müsst das tun.‘

5. Und schließlich fügt Paulus noch ganz bewusst einen unverzichtbaren Schritt hinzu: „Wir beten zu Gott, dass ihr keinerlei Böses tut.“ Paulus gibt die Gemeinde im Gebet an Gott ab. Wer betet, lässt ja seine eigenen Ziele los und vertraut sie Gott an. Gott wird dann handeln und sich kümmern. Sobald Paulus betet, hat er keine Besitzansprüche mehr an die Gemeinde. Und wenn die Korinther ebenfalls für Paulus beten würden, von dem sie ja enttäuscht sind, dann hätten sie ihn auch an Gott abgegeben. Und aus ihren eigenen Erwartungen entlassen.

So. Eine Reihe von Grundzügen haben wir gesehen. So kann man es machen, wenn man voneinander enttäuscht ist. Die Knackpunkte offen ansprechen. Aber nicht sich selbst verteidigen oder rechtfertigen. Vielmehr an das erinnern, was doch beide gemeinsam wollten. An das erinnern, was Jesus Christus unter ihnen aufbauen will. Dann den, von dem man enttäuscht ist, fragen: Wie siehst du das denn? Wo siehst du dich? Bist du noch in Christus? Schließlich das Gebet. So kann man es machen, wenn man voneinander enttäuscht ist.
Wie leben wir so etwas praktisch? Wie passt das auf die vielen großen und kleinen Enttäuschungen im Alltag?
Enttäuschung ist, wo Liebe ist. Wer miteinander verheiratet ist, der z. B. hat zahlreiche Gelegenheiten zu enttäuschen. Wie kann es dann in der Ehe weitergehen?

Enttäuscht vom Ehepartner
Enttäuschung fängt nicht erst an, wenn einer fremdgegangen ist. Es geht auch eine Nummer kleiner. Sie ist von ihm enttäuscht, dass er so viel arbeitet, anstatt Zeit für zu Hause zu haben. Er ist von ihr enttäuscht, weil sie ihrer besten Freundin manchmal mehr anvertraut als ihm, ihrem Mann. Sie hätte von ihm erwartet, dass er auch mal mit dem Klassenlehrer telefoniert, um einen Schulkonflikt zu lösen, anstatt das auf ihr hängen zu lassen. Er hätte von ihr erhofft, dass sie mal Danke sagt für den Reifenwechsel am Familienauto. Das sind nur vier Beispiele aus tausend Möglichkeiten.
Was nun, wenn sie oder er so enttäuscht ist?

Gehen wir die Reihe durch, die wir eben bei Paulus gesehen haben. Sie kann offen ansprechen, was an ihr nagt. Sie wartet nicht – „da muss er doch selber drauf kommen“ – denn dann kann sie manchmal warten, bis sie verschimmelt. Nein, sie sagt z. B.: „Mir macht das etwas aus, dass du nie mal eine Idee einbringst, wie wir einen Ehe-Abend gestalten können. Im Job hast du hundert Ideen und für uns nicht – das macht mir was aus.“
Aber gleichzeitig nörgelt sie (oder er) nicht nur, sondern spricht über das gemeinsame Ziel: „Wir sind doch mal anders gestartet. Wir wollten doch viel mehr miteinander teilen als wir es momentan tun. Wir wollten doch einander treu sein, weit vor allem anderen. Wenn du eher mit deinem Beruf verheiratet bis als mit mir (oder er sagt z. B.: Wenn du als Mutter eher mit den Kindern verheiratet bist als mit mir) – das haben wir uns doch damals anders gedacht.“ Das Jawort bei der Hochzeit, es war doch wie ein gemeinsames Haus, das begann. Nicht eins aus Steinen, sondern eins aus Treue und Liebe und dass man aufeinander zugeht. Dieses Ehe-Haus weiter zu bauen, das ist das Ziel.

In der Ehe-Enttäuschung ist es weiter wichtig, nicht einfach Vorwürfe zu machen. Nicht einfach den anderen zu beurteilen: „Du willst dich ja gar nicht ändern!“ Sondern wie Paulus seine Leute eingeladen hatte: „Prüft euch mal selbst!“ So was geht auch in der Ehe-Enttäuschung. „Du, wo siehst du denn gerade unsere Ehe? Wo stehen wir denn, was denkst du? Und wo siehst du dich in unserer Ehe?“ Das ist eine offene Frage. Darauf kann man Antworten suchen.
Eins wird in der Ehe nicht so gut gehen wie bei Paulus und den Korinthern. Paulus meinte: Wenn ihr nur wieder in die Reihe kommt, dann kann ich gerne wie ein Depp dastehen. Paulus hat sich selbst zurückgestellt. In der Ehe ist das manchmal nötig, dass einer sich zurücknimmt, weil sonst der Streit überkocht. Nur wenn einer auf Dauer als Depp dasteht, das hält keine Ehe lange aus. Davon hat auch der scheinbare Gewinner im Streit nichts. Denn wer will mit einem Deppen verheiratet sein? Dein Partner braucht einen selbstbewussten, geradlinigen Ehepartner und keinen, der sich verbiegt um des lieben Friedens willen. Du kannst dein Recht wohl mal aus der Hand geben. Aber nie deine Würde. Das macht kaputt. Jeder vertrete also schon seine Interessen. Aber nicht um Recht zu behalten. Sondern wegen des gemeinsamen Ehe-Hauses. Das ist das Ziel und das kann das Ziel von beiden sein.

Und schließlich: Betet füreinander, wenn ihr voneinander enttäuscht seid. Du kannst den nicht mehr gut hassen, für den du betest.

Enttäuschungen in der Ehe werden passieren. Aber auf diesen Grundlinien können wir Ehepaare damit zurechtkommen. Und wo jemand enttäuschte und dabei wirklich schuldig wurde, da kann Vergebung die Tür wieder aufstoßen.

Enttäuscht in der Gemeinde
Enttäuschung ist, wo Liebe ist. In der Ehe werden Enttäuschungen passieren, mit Sicherheit, und in der Gemeinde auch. Paulus und Korinth, sie waren kein Sonderfall. Mir ist sehr bewusst, dass auch in unserer Gemeinde hier einige voneinander enttäuscht sind. Und da können wir am besten so mit umgehen, wie Paulus es vorgezeichnet hat.
[An dieser Stelle wurden in der Predigt einige Punkte benannt.]

Wie aber nun weiter miteinander? Wir haben in der Bibel gesehen, dass es keinen Sinn hat, sich selber zu rechtfertigen. Darauf hat Gott keine Verheißung gelegt. Sondern es muss um unsere gemeinsame Sache gehen. „Seid auf dasselbe bedacht!“ Worauf denn?

Nach der Bibel muss unsere gemeinsame Sache sein, mit dem zu brechen, was Zerstörung anrichtet. Also „Streit, Eifersucht, Wutausbrüche, Egoismus, Verleumdungen, Intrigen, Arroganz und Durcheinander“, um noch einmal Paulus zu zitieren. Unsere gemeinsame Sache muss weiter sein, dass wir unser ganzes Vertrauen auf Gott setzen und von ihm alles erwarten. Nichts anderes heißt ja „glauben“. „Prüft euch selbst, ob ihr im Glauben seid; schätzt euch selbst ein! Oder erkennt ihr euch selbst nicht als solche, in denen Jesus Christus ist?“ Jesus Christus will in jedem einzelnen von uns leben und auch zwischen uns, in unserer Gemeinschaft. Tut er das? Kann er das? Erfahren wir es oder reden wir nur davon?
„All das aber, ihr Lieben, um euch aufzubauen“, sagt Paulus weiter. Aufbauen – Christus baut sein Haus unter uns. Sein Haus aus uns, aus uns lebendigen Steinen. Das ist das gemeinsame Ziel. Passiert das? Lassen wir uns von Christus aufbauen und zusammenfügen? Oder ist jeder sein eigener Architekt, mauert vor sich hin und lässt sich von keinem was sagen?
Dies sind die Maßstäbe. Unser ganzes Vertrauen auf Gott setzen. Ein Haus für Christus sein, das ihm gehört. An diesen Maßstäben müssen wir uns messen lassen, wir alle: die Gemeindeleitung und der Pastor und die, die sich zurückziehen und die, die da bleiben. Die Maßstäbe suchen wir uns nicht selbst. Sie sind uns aus Gottes Wort gegeben. Und wenn einer vom anderen enttäuscht ist, weil der sich gerade nach dem Christus-Maßstab richten will und nicht anderweitig einlenkt – dann muss diese Enttäuschung wohl sein. Dann sind wir beim Kern der Sache angelangt. Dann ist es immer noch bedrückend, das wir einander enttäuschen. Aber dann reden wir nicht mehr über Vorlieben und Gewohnheiten und Geschmäcker, sondern über das Wesen der Gemeinde Jesu. Wie gut, wenn wir zu diesem Kern vordringen!

Eins sollte uns nicht passieren: dass wir uns gegenseitig Vorwürfe machen und Punkt. Oder Ausrufezeichen! Paulus hat nicht mit Ausrufezeichen um sich geworfen, sondern alle eingeladen: Prüft euch selbst. Auf uns heute angewandt, lautet die Frage dann ungefähr so: wo siehst du denn momentan unsere Gemeinde? Wo siehst du dich selbst in unserer Gemeinde? Und wo siehst du Dich auf deinem Weg mit Christus? Diese Fragen sind uns von Gottes Wort gestellt, aber nicht so, dass einer sie für den anderen beantwortet, sondern jeder für sich selbst.

Wird dann unsere gegenseitige Enttäuschung geringer? Lösen sich die Knoten? Zu einem guten Teil wohl schon. Nämlich dann, wenn ich erkenne: Ich war vom anderen enttäuscht, weil ich von ihm etwas erwartet habe, was ich eigentlich nicht erwarten konnte. Gottes Maßstäbe haben meine Erwartungen korrigiert. Das könnte so passieren – und dann ist die Enttäuschung schon geringer geworden.

Noch weiter geht es, wenn wir es Paulus nachmachen und noch bewusster füreinander beten. „Wir beten zu Gott, dass ihr keinerlei Böses tut – nicht damit wir uns als Bewährte herausstellen, sondern damit ihr das Gute tut, wir aber wie Versager dastehen.“ So sagt Paulus es. Wenn wir füreinander beten, dann nicht so, dass ich einen anderen in das Bild hineinbete, das ich von ihm habe. Sondern ich bete und gebe ihn damit an Gott ab. Ich bete, ich entlasse ihn so aus meinen Erwartungen – vielleicht waren sie berechtigt, vielleicht waren sie falsch, aber ich entlasse ihn jedenfalls aus meinen Erwartungen und stelle ihn im Gebet vor Gott. Auch das hilft in der Enttäuschung.

Paulus konnte nicht jede Enttäuschung vermeiden. Einige aus Korinth musste er enttäuschen, weil er am Christus-Maßstab festhielt. Auch wir werden nicht jede Enttäuschung vermeiden können. Eins aber können wir: dann in Würde miteinander umgehen. Einander nicht noch mehr verletzen. Einander freigeben. Einander vor Gott bringen. Und immer wieder uns zusammenbinden lassen in das gemeinsame Ziel, das Gott uns vorgegeben hat: Christus unter uns, und er baut uns auf als sein Haus. In diesem Ziel müssen wir uns gemeinsam treffen.
Werden unsere Beziehungen so heilen? Ist die Beziehung von Paulus und den Korinthern wieder ins Reine gekommen? Wir wissen es nicht genau. Paulus hat seine Gedanken jedenfalls abgeschlossen mit einem Segenswunsch für die, die ihn enttäuschten und die er enttäuschte. Er hat sie diesem Segen anvertraut und das klingt so:

„Im Übrigen, Geschwister: freut euch, lasst euch wieder herrichten, lasst euch ermahnen, seid auf dasselbe bedacht, haltet Frieden. So wird der Gott der Liebe und des Friedens mit euch sein. [...] Die freundliche Zuwendung des Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit euch allen.“
Amen.

Dienstag, 2. März 2010

Predigt „Im Griff der Wut? Die Wut im Griff!“

Predigt über Gen 4,1-8: „Im Griff der Wut? Die Wut im Griff!“
Liebe Gemeinde,
ich möchte wetten, die meisten von uns haben letzte Woche elektrischen Strom benutzt. Und ziemlich viele das Internet. Wahrscheinlich alle haben irgendwo ein Rad gebraucht – kein Fahrrad, sondern irgend ein Rädchen in einer Maschine oder Räder an einem Fahrzeug. Es gibt Erfindungen, die eben gar nicht mehr wegzudenken sind aus unserem Leben.
Fast alle wichtigen technischen Erfindungen sind für das Militär gemacht worden: um Krieg führen zu können. Tatsächlich: Das Internet wurde zunächst fürs Militär entwickelt. Die Atomkraft wurde erforscht, um die Bombe zu bauen. Mit den ersten Raketen flog man nicht ins Weltall, sondern man schoss sie ins Feindesland. Das Schießpulver war sowieso dazu da, um zu töten.
Andere Erfindungen hatten nicht sofort diesen Zweck, wurde aber sehr schnell dazu benutzt, um anderen zu schaden. Mit elektrischem Strom werden elektrische Stühle betrieben. Der Buchdruck machte es möglich, Propagandabücher zu drucken, die den Gegner erledigen sollen. Das Rad baute man nicht nur in Mühlen ein und Ochsenkarren, sondern sofort auch in Kriegswagen. Selbst der Faustkeil aus der Steinzeit diente dazu, etwas auszugraben und – dem anderen ein Loch in den Kopf zu hauen.
Der Mensch ist nun mal einer, der andere verletzt. Der den Mitmenschen erledigen will. Alles, was dem Menschen in die Finger kommt, kann er dazu benutzen. Wir merken es jeden Tag, dass wir so sind. Wir merken es auch unter uns Christen – wir sind nicht besser.
Ich werde heute in der Predigt sagen, wie wir davonkommen, wie wir dieses Verhalten loswerden. Aber vorher müssen wir auch begreifen, was mit uns passiert, wenn plötzlich einer den anderen erledigen will.
Schon ganz am Anfang der Bibel steht diese uralte Geschichte, wie es losging mit den Menschen. Hören wir auf 1.Mose 4:

2 Eva brachte [nach ihrem ersten Sohn Kain] auch Abel, seinen Bruder, zur Welt. Abel wurde Schafhirt und Kain wurde Ackerbauer. 3 Nach einiger Zeit brachte Kain von den Früchten der Erde dem Herrn ein Opfer. 4 Und Abel ebenfalls; er brachte eins von den Erstgeborenen seiner Herde und von ihrem Fett. Und der Herr schenkte dem Abel Aufmerksamkeit und seinem Opfer, 5 aber dem Kain und seinem Opfer schenkte er keine Aufmerksamkeit. Da überkam es Kain ganz heiß, und sein Gesicht fiel nach unten. 6 Der Herr sagte zu Kain: Warum überkommt es dich ganz heiß, und warum fällt dein Gesicht nach unten? 7 Ist es denn nicht so: Wenn du im Reinen bist, kannst du aufrecht sein; aber wenn du nicht im Reinen bist, so ist da die Sünde: Das lauert vor der Tür, und dich will es kriegen, du aber herrsche darüber! 8 Da sagte Kain zu seinem Bruder Abel: Gehen wir aufs Feld. Und als sie auf dem Feld waren, reckte sich Kain über seinen Bruder Abel und erschlug ihn. Gen 4

Zwei Brüder. Sie sind ganz unterschiedlich. Sie gehen verschiedenen Berufen nach. Sie müssten nicht unbedingt miteinander konkurrieren. Brüder müssen nicht zwangsläufig Rivalen sein. Sie werden es aber oft. Und dann beginnt auch oft eine Geschichte, die in einen Strudel mündet.
Gehen wir einmal dieser Geschichte entlang.

1. Gekränkt!
Der Landwirt und der Viehzüchter, Kain und Abel, sie haben beide gearbeitet. Beide haben erkannt, dass nicht einfach ihnen ihre Arbeit geglückt ist. Sondern Gott hat seinen Segen dazugetan. Deshalb bringen sie jetzt ein Opfer vom Ertrag ihrer Arbeit. Beide kamen auf diese Idee. Ob gleichzeitig und hübsch nebeneinander, das wird gar nicht gesagt. Es könnte auch jeder für sich irgendwann gemacht haben.
Eins aber war bald zu merken: Gott hat beide Brüder unterschiedlich behandelt. Abel hat er Aufmerksamkeit geschenkt, dem Kain nicht. Gott war einseitig. Wie haben die beiden das wohl gemerkt? Wir müssen uns hier einmal freimachen von den Bildern, die wir vielleicht aus den Kinderbibeln vor Augen haben – als ob der Rauch auf Abels Altar schön gerade hochgestiegen sei und der von Kains Altar vom Winde verweht sei. So haben antike Hebräer nicht gedacht. Ein Hebräer damals hätte es vor allem am nächsten Ernteerfolg gemerkt. Segen ist, wenn Gott mir eine gute Ernte schenkt oder einen guten Geburtsjahrgang Lämmer. Und wenn die Ernte ausbleibt oder knapp ausfällt, dann hat Gott nicht gesegnet, dann hat er – so der Rückschluss von Kain – dann hat er seinem Opfer wohl keine Aufmerksamkeit geschenkt. Gott hat Kain übersehen! Abel aber nicht, den hat er wohl gesegnet.

Der biblische Bericht mutet an dieser Stelle Unglaubliches zu. Wir erfahren nämlich mit keiner Silbe, warum Gott die beiden Brüder ungleich behandelt hat. Es ist kein Grund erkennbar. Und alle nachträglichen Vermutungen – als ob Kain schon von vornherein ein finsterer Typ gewesen sei, ein Neidhammel von Beginn an – all diese Vermutungen sind ja nur schwache Versuche, das Unerklärliche zu erklären. Aber Gottes Wort erklärt gerade nicht, warum Gott Kain übersehen hat. Kain ist zunächst okay!

Zurückgesetzt werden – o wie das kränkt! So ein Erlebnis frisst lange in der Seele. Und wenn man auch noch öffentlich zurückgesetzt wird, so wie Kain hier – das ist beschämend. Nun kann der Mensch viel aushalten und manches wegstecken. Aber öffentlich beschämt werden – das hält keiner aus. Da explodieren Energien in der Seele, die du kaum zügeln kannst. Wer sich schämt – nicht dafür, was er einmal getan hat, sondern sich schämt dafür, wie er nun einmal ist, der ist zu üblen Taten imstande. Jede Woche steht davon in der Zeitung. Wenn unter uns einer den anderen bloßstellt, öffentlich beschämt – Schlimmeres geht kaum.
Und nun berichtet die Bibel es tatsächlich so, als ob Gott der war, der den Kain bloßgestellt hatte. Für Gott hat Kain geopfert und dieses Opfer hat Gott übersehen.

Oder hat Kain das nur so gesehen? Hätte es ihm geholfen, einfach mehr Zeit zu lassen? Abel hatte eine wunderbare Ausbeute von seiner Herde und Kain nur eine dürre Ernte vom Feld – jetzt. Dieses Jahr vielleicht. Was hat Gott hier getan? Vielleicht hat Gott nicht mehr getan, als dass er beide Brüder nicht gleichzeitig gesegnet hat. Wer weiß denn, wie Kains Ernte demnächst ausfallen wird? Und Abels kommender Geburtsjahrgang? Da kann schon wieder alles im Lot sein. Kain hat den Augenblick für die ganze Wahrheit genommen – und das hat dann natürlich gekränkt.

2. Erhitzt
„Da überkam es Kain ganz heiß, und sein Gesicht fiel nach unten.“ So plastisch ist die Sprache der Bibel. Wut steigt brennend in dir auf, wenn du beschämt wirst. Der Arzt könnte es wahrscheinlich am Blutdruck feststellen. Dein Blick flackert hin und her. Frei und unbefangen aufschauen, gar jemandem aufrichtig in die Augen sehen – das geht nicht mehr. Es kann ja auch kaum anders sein, wenn Kain so ungerecht abgefertigt worden ist. Kain ist hier ganz Mensch. Noch nicht der entstellte Mensch, sondern einfach menschlich – so wird es doch jedem gehen, der sich schämt.

Ich glaube, das kennen wir gut: diese Wut, diese Glut, die in uns aufsteigt. Als ob da ein kleiner Kessel in uns eingebaut ist und wenn es dicke kommt, dann springt der Deckel auf und die heiße Wut kommt hoch. Wir kennen das wahrscheinlich von uns selber, wir nehmen es aber auch bei anderen wahr. Wir erleben es auch, wenn wir als Gemeinde miteinander reden. Helle Empörung kommt manchmal auf – auch das ist menschlich. In uns ist eben dieser kleine Kessel drin.

Was Kain da erlebt, ist aber zugleich noch mehr. Die Wut ist in ihm, aber da gibt es noch mehr Kräfte. Sie fallen ihn von außen an. Nicht aus heiterem Himmel, sondern sie fallen gerade den zuvor Zornigen an. Und so ist da mehr als der menschliche Zorn.
Gott hat es dem Kain so gesagt: „Ist es denn nicht so: Wenn du im Reinen bist, kannst du aufrecht sein; aber wenn du nicht im Reinen bist, so ist da die Sünde: Das lauert vor der Tür, und dich will es kriegen.“ Außer dem Zorn ist da die Sünde. Sie ist nicht dasselbe wie der Zorn. Zorn ist noch keine Sünde. Aber sie lauert – und hier ist der biblische hebräische Text sehr vielsagend. Die Sünde – das lauert vor der Tür. Das ist eigentlich schlechtes Deutsch und auch schlechtes Hebräisch: die Sünde – das lauert. Aber gerade so steht es da. Und will sagen: Die Sünde ist wie ein „Es“, wie ein Biest, eine Bestie, die dich anfallen will. Die Sünde ist mehr als nur dein Fehler. Sie ist eine Macht. Und dich will es kriegen.

Aufgepasst also, wenn die Empörung im Raum hängt. Sich empören ist menschlich, zumal wenn du so ungerecht behandelt wirst wie Kain. Aber Empörung macht angreifbar. Das Sündenbiest kommt und könnte zuschnappen.
Schnappt es zu bei Kain?

3. Aufgerufen!
Bevor Kain irgendetwas sagen oder tun kann, bevor sein heißer Zorn und sein gesenkter Blick ihn treibt, etwas anzustellen – da ruft Gott ihn an und ruft ihn auf.
„Da überkam es Kain ganz heiß, und sein Gesicht fiel nach unten. Der Herr sagte zu Kain: Warum überkommt es dich ganz heiß, und warum fällt dein Gesicht nach unten?“ Gott ruft dazwischen. Gott verschafft dem Kain eine Lücke, eine Atempause. Der muss sich nicht blindwütig in irgendwas hineinsteigern. Gott weckt ihn und zeigt ihm, was auch noch möglich wäre. „Ist es denn nicht so: Wenn du im Reinen bist, kannst du aufrecht sein; aber wenn du nicht im Reinen bist, so ist da die Sünde: Das lauert vor der Tür, und dich will es kriegen, du aber herrsche darüber!“ Du sollst herrschen! Du kannst wohl wütend sein und auch empört, aber du sollst darüber herrschen.

Wenn Gott den Kain so aufruft, ist das mehr als ein psychologisch weiser Schachzug. „Atme mal tief durch und komm zur Besinnung!“ Darin liegt mehr. Gott spricht dem Kain die Würde und die Autorität zu: „Du musst dich nicht gehen lassen. Du hast von mir das Rückgrat bekommen, dich zu beherrschen. Dazu bist du ermächtigt. Diese Macht sollst du nun gebrauchen, die Macht über deine heiße Wut und deinen heruntergefallenen Blick und auch über dieses Biest vor deiner Tür. Du sollst darüber herrschen!“ Diese Würde spricht Gott dem Kain zu.
Keiner von uns muss anderen etwas antun. Jeder seelisch gesunde Mensch unter uns ist so geschaffen wie Kain: mit dieser Autorität über sich selbst.

Macht Gott das heute auch jedes Mal: wenn einer wütend wird, berechtigt vielleicht, dass Gott dazwischengeht und ihn aufruft? Ich weiß nicht, wie Gott das jedes Mal macht. Ich glaube aber, dass du und ich, wenn wir miteinander reden und vielleicht miteinander streiten, dass wir dann hellhörig bleiben können für Gottes Aufruf. Da äußert jemand Ansichten, die du untragbar findest? Die Reaktion, die schnelle scharfe Antwort schießt dir bereits durch den Kopf? Das wäre der Moment, wo Gott aufruft. Ein Blick nach vorn aufs Kreuz erinnert uns, dass Christus für mich gestorben ist und auch für den anderen mit der schrägen Ansicht. Eine Erinnerung, was Gott dir vielleicht im letzten Gottesdienst gesagt hat – oder wenigstens die Erinnerung, dass man da miteinander Gottesdienst gefeiert hat, das wären so Momente, wo Gott uns aufruft.

Kain hat Gottes Aufruf gehört. Kain zieht Konsequenzen – aber es sind tödliche Konsequenzen. Ein Plan ist in seinem Kopf entstanden. Wir lesen nicht, wie schnell er ihn ausführte oder wie viel Zeit er sich ließ. Aber dann war es soweit: „Da sagte Kain zu seinem Bruder Abel: Gehen wir aufs Feld. Und als sie auf dem Feld waren, reckte sich Kain über seinen Bruder Abel und erschlug ihn.“

4. Zum Täter geworden
Kain hat es getan: hat zugeschlagen, draufgehauen, totgeschlagen. Erinnern wir uns: Den Anlass dazu hat Kain nicht an den Haaren herbeigezogen. Er war gekränkt worden. Er hat Ungerechtigkeit einstecken müssen. Und er konnte sich noch nicht einmal beim Verursacher beschweren – wer würde sich schon direkt gegen Gott auflehnen? Kain ist jemand, der verletzt wurde.

Aber dann tut Kain das, was auch bei uns der Sündenfall im Miteinander ist: Der Verletzte nimmt jetzt sofort sein Recht in die eigene Hand. Der Verletzte verletzt andere. Und das offenbar in der Meinung, er habe das Recht dazu, eben weil er verletzt ist. Das ist der Trugschluss. Keine erlittene Verletzung gibt das Recht, andere zu verletzen. Das ist der zwischenmenschliche Sündenfall, der sich unter uns ebenfalls so oft ereignet.
Selten schlägt einer bei uns den anderen tot. Aber Jesus hat ja gesagt: Wer tötet, verfällt dem Gericht und wer seinem Bruder zürnt, verfällt ebenfalls dem Gericht. Wer zu seinem Bruder sagt: Du Trottel, der verfällt dem höchsten Gericht, und wer „Du Idiot“ sagt, der ist auf dem Weg zur Höllenstrafe. (Mt 5,21f.) Nach diesem Maßstab sind wir alle Kain, sind wir alle Mörder.

Kain war neidisch. Er hatte eine bestimmte Sache gegen seinen Bruder, nämlich dass Gott ihn bevorzugt hat. Ein Anklagepunkt. Aber Kain schlug den ganzen Menschen Abel tot. So läuft es oft auch bei uns. Eine Sache haben wir vorzuwerfen. Eine Haltung, eine Meinung, eine Verhaltensweise. So weit, so gut. Darüber darf gestritten werden. Darüber muss man sich nicht einmal um jeden Preis einig werden. Die Grenze aber überschreiten wir, wenn wir den ganzen Menschen abschreiben. Die Schwester oder den Bruder als ganzen Menschen erledigen wollen. Christus hat viele Denkmuster und Verhaltensweisen der Leute abgelehnt. Die Menschen an sich aber nicht. Das muss unsere Linie sein. Einzelnes kritisieren wohl, aber nie den Menschen abschreiben.

Kain hat es nicht geschafft. Er hat nicht über sich geherrscht. Er wurde zum Täter. Gott hat ihn bestraft, ihn fortgeschickt, „jenseits von Eden“, wie es in der Bibel heißt (1.Mose 4,16). Und Gott hat ihm dennoch einen Schutz gegeben. Den Mörder durfte niemand wieder morden. Der Täter Kain blieb am Leben. Aber hat er seitdem geherrscht über sich und über die Sünde vor der Tür? Keine Ahnung. Wichtiger ist, ob wir es schaffen. Wie erlöst Gott uns vom heißen Zorn und vom gesenkten Blick und von der Sünde vor unserer Tür?

5. Zum Herrschen eingesetzt
Wir können uns beherrschen, wenn andere Beherrscher in uns vertrieben sind. Erst muss die eine Herrschaft gebrochen werden, die Herrschaft der Wut und der Sünde. Eine bessere Herrschaft muss her. Und exakt dies steht uns zur Verfügung. Genau damit beschenkt Gott uns, er hat es getan und er kann das täglich erneuern, auch heute. Und hier muss ich einfach Bibel vorlesen – Worte, Gold wert, über die bessere Herrschaft in unserem Leben:

12 Lasst nicht die Sünde euer Leben beherrschen; gebt ihrem Drängen nicht nach. 13 Lasst keinen Teil eures Körpers zu einem Werkzeug für das Böse werden, um mit ihm zu sündigen. Stellt euch stattdessen ganz Gott zur Verfügung, denn es ist euch ein neues Leben geschenkt worden. Euer Körper soll ein Werkzeug zur Ehre Gottes sein, so dass ihr tut, was gerecht ist! 14 Die Sünde hat die Macht über euch verloren, denn ihr steht nicht mehr unter dem Gesetz, sondern seid durch Gottes Gnade frei geworden. Röm 6
15 Und der Friede Christi regiere in euren Herzen; zum Frieden seid ihr berufen als Glieder des einen Leibes. Und dafür sollt ihr dankbar sein. Kol 3

Über die bessere Herrschaft ist hier alles gesagt. Die Sünde muss nicht mehr zwangsläufig herrschen. Der Friede von Jesus Christus, er will die Herrschaft antreten in uns.
Gott schenkt dir damit eine ganz neue Qualität. Das ist Verbesserung auf einer viel tieferen Ebene. Die Sünde, so hat Kain es gehört, die lauert vor der Tür. Der Friede von Jesus aber ist nicht ebenfalls vor der Tür, sondern er beherrscht dein Herz von innen her. Gottes Geist will dich ja von innen ausfüllen. Natürlich ist in mir und dir, innen, immer noch anderes. Immer noch Wut. Dieser kochende Kessel. Aber der ist eben nicht mehr die einzige Kraft in uns. Sondern der Heilige Geist und der Friede Christi beherrscht mein Herz und deins.

Kain wurde zum Herrschen eingesetzt – „du aber herrsche über die Sünde.“ Du und ich, wir sind ebenso zum Herrschen eingesetzt. Wir sind dem nicht gewachsen. Nun aber ist auch noch Christus in uns zur Herrschaft eingesetzt. Christus in mir, Christus in dir, Christus in der Schwester und in dem Bruder, der mich zur Weißglut treibt. Nun muss keiner mehr den anderen erledigen, weder mit Fäusten noch mit Worten.

Wie wird eine Gemeinde wieder gesund? – Ich kann nur bei mir selber anfangen.
Ich möchte spüren lernen, wenn die heiße Wut hochkommt. Ich möchte dann gerne von Gott unterbrochen werden. Vernehmen, wie er mich aufruft. Möchte dann aufwachen.
Ich möchte unterscheiden lernen zwischen dem Verhalten und dem Menschen. Was meine Schwester oder mein Bruder tut, dann kann ich kritisieren. Aber sie und ihn, die will ich nicht verteufeln.
Ich möchte lernen, mein Recht aus der Hand zu geben. Auch wenn ich verletzt bin, habe ich nicht das Recht, andere zu verletzen.
Ich möchte jeden Tag neu Christus als Herrscher über mich einsetzen. Damit der Friede Christi aus meinem Herzen in mein Leben strömt und dann in meine Umgebung.
Ich nehme mir das vor. Wenn wir alle das tun, dann beginnt Christus die Heilung.
Amen.