Sonntag, 11. September 2011

11. September - 10 Jahre später

Vor zehn Jahren, wenige Tage nach den Terroranschlägen vom 11.9. 2001, habe ich diese Predigt gehalten. Ich war stark berührt, sogar bestürzt darüber, welche Ähnlichkeiten des Geschehens sich zu einem bestimmten Bibeltext gezeigt haben.
Nach zehn Jahren bleiben manche Fragen offen: Hat die Betroffenheit von damals zu einem wirklichen Hören auf Gott geführt? Zu einer Umkehr, einer Lebensveränderung? Ich bin beunruhigt darüber, wie sehr ich selbst weitergelebt habe wie zuvor. Vielleicht ist die Erinnerung nach zehn Jahren ein guter Anlass, noch einmal über diese biblische Botschaft nachzudenken.

Brennende Stadt, stürzender Turm.
Der Terror-Anschlag vom 11.9.2001 im Spiegel der Bibel

Predigt über Offb 18,1-19 und Lk 13,1-5, am 16.9.2001 gehalten in der Friedenskirche Lüneburg
Liebe Gemeinde,
seit letzten Dienstag ist die Welt nicht mehr die gleiche. Das kann man ohne Übertreibung sagen. In den USA und hier bei uns ist die Sorglosigkeit dahin. Selbst wenn es nicht zum Krieg kommt, hat sich doch die Gesellschaft verändert. Außer daß unvorstellbar viele Menschen getötet wurden, ist es auch eine schallende und gezielte Ohrfeige in das Nationenbewußtsein der Amerikaner. Die Seele der Bürger der USA wird ihre Narben noch lange tragen, und dementsprechend wird sich dieses Land auch noch lange verhalten.
Was sollen wir dazu sagen? Was denkt Gott über diesen terroristischen Anschlag? Kann man darüber überhaupt was sagen? Muß man nicht die Hand auf den Mund legen? In aller Zurückhaltung gehe ich das Wagnis ein, nicht bloß einen Kommentar zu sprechen, sondern eine Predigt aus Gottes Wort zu halten. Und knüpfe zunächst daran an, was wir eben aus der Bergpredigt von Jesus gehört haben: „Selig die Trauernden, denn sie werden getröstet werden. Selig, die keine Gewalt anwenden, denn sie werden das Land erben. Selig, die hungern und dürsten nach Gerechtigkeit, denn sie werden satt werden. Selig die Barmherzigen; denn sie werden Erbarmen finden. Selig, die Frieden stiften, denn sie werden Kinder Gottes genannt werden.“ Das ist die Sicht Gottes: Er will trösten. Er steht auf Seiten der Opfer. Der Mord an seinen Geschöpfen ist ein Anschlag auf den Schöpfer. Die schallende Ohrfeige hat nicht nur die Seele der USA-Bürger getroffen, sondern auch das Gesicht Gottes. Wenn die Welt mit den Angehörigen und dem Vaterland der Toten trauert, wenn Glocken läuten und Schweigeminuten gehalten werden, dann stehen wir als Christen vollen Herzens dabei. Auf dem Ankündigungsplakat für diesen Gottesdienst stand die Frage: „Leidet Gott mit den Opfern?“ Der Bergprediger Jesus sagt eindeutig: Ja, er leidet mit ihnen. Viele der Opfer sind ja leider nicht weit weg. Auch Deutsche sind umgekommen. Auch hierzulande, vielleicht auch in unserer Stadt und womöglich in unseren Reihen hier, ich weiß es nicht, sind Angehörige von Opfern aus den brennenden Häusern oder Flugzeugen. An ihrer Seite stehen wir, und das gerade auch im Namen Gottes.
Das ist übrigens keine Frage der Nation. Gott leidet nicht besonders mit, weil es das nordamerikanische Volk wäre, das auf seinen Dollarscheinen stehen hat: “In God we Trust” – „Auf Gott vertrauen wir“. Der Schöpfer ist getroffen über seine toten Geschöpfe nicht deshalb, weil es so oft geheißen hat: “God bless America”. Das himmelschreiende Unrecht wäre genauso groß, wenn Menschen in Schanghai oder Santiago, in Tunis oder Bangalore, in Bagdad oder Tiflis umgekommen wären. Der Schöpfer ist an menschengemachten Nationengrenzen nicht so sehr interessiert wie wir. Die Geschöpfe sind es, die ihm am Herzen liegen. Wenn es ein Volk gäbe, mit dem wir als Volk besonders fühlen, dann wären es die Juden. Jemand hat New York die zweitgrößte jüdische Stadt der Welt genannt, bezogen auf die Einwohnerzahl, und die USA sind ja eine politische Schutzmacht für Israel. Auch die Juden wurden gezielt getroffen. Hier würden wir genauer hinsehen, wenn es um Nationen geht. Doch ansonsten steht im Vordergrund: Menschen wurden getötet, und dieses Unrecht ist auch vor Gott ein Unrecht.
Dafür haben viele auch in unserem Land ein Empfinden – nicht nur für das Unrecht, sondern auch, daß es vor Gott eines ist. Wie selten zuvor wird nach Gott gefragt und wird gebetet – und auch öffentlich davon geredet. Das läßt hoffen. Offenbar sind wir so abgestumpft denn doch noch nicht, daß wir nicht wenigstens jetzt an Gott denken würden. Die Gewalt und der Tod haben ein so unvorstellbares Ausmaß angenommen, daß es wirklich das rein Menschliche überschreitet. Übermenschlich scheint es, und da kommen wir auf Gott. Es ist ein ehrliches Empfinden, das viele von uns dabei leitet, auch viele derer, die sonst nicht in der Bibel lesen. Und wenn irgendwann leider der Gewöhnungseffekt an den Schrecken eingesetzt hat, diese Gewöhnung, die wir aus unserer Fernsehgesellschaft kennen, dann ist Gott hoffentlich nicht auch damit wieder vergessen.
Dennoch sind wir zur Sorgfalt gerufen. Nicht alles, wofür Gott jetzt angerufen wird, ist im Sinne Gottes. Nicht jeder Ruf nach Gott ruft nach dem biblischen Gott, dem Vater Jesu Christi. Der Gott, der die westliche Welt liebt und die islamischen Araber haßt, ist jedenfalls nicht der biblische Gott! Und Rache ist nicht seine Absicht. Ich habe bisher noch nie in den Tagesthemen erlebt, daß vollständige Bibelverse vorgelesen wurden. Am Mittwoch nach dem Anschlag passierte jedoch genau dies. Die Kommentatorin sagte: „Präsident Bush muß jetzt das Neue Testament vergessen und das Alte Testament zur Hand nehmen.“ Und dann zitierte sie die Worte aus dem dritten Mosebuch, in denen von der Vergeltung Auge um Auge, Zahn um Zahn die Rede ist. Erschütternd fand ich das. Das ist eine klare Entscheidung! Eine Entscheidung für Religion, die unserem verständlichen Wunsch nach Vergeltung Rückenwind geben möge. Eine Entscheidung aber gegen die Worte Jesu und gegen Gott, den Vater Jesu Christi. Der Bergprediger hat nicht bloß die selig gepriesen, die nach Gerechtigkeit hungern und dürsten, sondern auch die Gewaltlosen, die Barmherzigen und die Friedensstifter. Wenn doch genauso viel von Jesus die Rede wäre, wie man jetzt von Gott redet!
Ich habe in der Predigt einen ersten Kreis geschlagen. Ich habe die Frage bewegt, ob Gott mit den Opfern leidet. Ich habe in die Bergpredigt Jesu geschaut und ein klares Ja gefunden. In einem zweiten Kreis möchte ich ausholen und fragen, ob die Bibel noch mehr sagt zur Katastrophe vom Dienstag. Ob noch eine andere Deutung darin liegt. Auf dem Einladungsplakat habe ich das mit der Frage skizziert: „Woran leidet Gott noch?“ Terror uns Gewalt gefällt ihm nicht. Was gefällt ihm noch nicht? Ich möchte dazu einen weiteren Bibeltext vorlesen, der in der Tat das Geschehen deutet. Es ist immer ein Wagnis, auch ein theologisches Wagnis, aktuelle Ereignisse biblisch zu deuten. Ich habe so etwas in der Predigt noch nie gemacht. Aber ich komme nicht vorbei an einem biblischen Abschnitt aus dem Buch der Offenbarung, der so klar schildert, was wir an den Fernsehschirmen sahen. Nach dem ersten Schock aus den Nachrichten war das mein persönlicher zweiter Schock, auf diesen Bibelabschnitt hingewiesen zu werden. Aus Offenbarung, Kapitel 18 – der Prophet beschreibt, welche Zukunftsschau er sieht:
Danach sah ich, wie ein anderer Engel vom Himmel herabkam. Er hatte besondere Macht, und von seinem Glanz erstrahlte die ganze Erde. 2 Mit gewaltiger Stimme rief er: »Gefallen ist Babylon, die große Stadt! Ja, sie ist gefallen! [...] 3 Haben sich nicht alle Völker von dieser Stadt und ihren Verlockungen berauschen lassen! Sie konnten gar nicht genug bekommen! Auch die Herrscher dieser Erde haben sich mit ihr eingelassen. Und durch ihren verschwenderischen Luxus rafften sich die Händler der Welt ihre Reichtümer zusammen.«
4 Dann hörte ich eine andere Stimme vom Himmel her rufen: »Verlasse diese Stadt, du mein Volk, damit du nicht mitschuldig wirst an ihren Sünden und von ihrem Plagen mitbetroffen wirst. 5 Denn ihre Sünden sind so unermeßlich groß, daß sie bis an den Himmel reichen. Aber Gott hat nicht eine einzige ihrer Schandtaten vergessen. [...] 7 So wie sie einst in Saus und Braus gelebt hat, soll sie jetzt Qual und Leid ertragen. Insgeheim aber denkt sie: „Ich bin Königin und werde weiter herrschen. Ich bin keine hilflose Witwe; Not und Trauer werde ich niemals erfahren.“ 8 Aber an einem einzigen Tag wird alles über sie hereinbrechen: Hunger, Trauer und Tod. Im Feuer wird sie verbrennen. Denn Gott, der Herr, der mit ihr abrechnet, ist stark und mächtig. 9 Wer wird sie dann beweinen, wer ihr Ende beklagen? All die Mächtigen, die Herrscher der Erde, die ihr nachgelaufen sind und sich mit ihr eingelassen haben, werden jammern und klagen, wenn sie den Rauch der brennenden Stadt sehen. 10 Zitternd vor Angst werden sie aus großer Entfernung alles mitansehen und laut schreien: „Ach, Babylon! Du großes, du starkes Babylon! In einer einzigen Stunde ist das Gericht über dich hereingebrochen!“ 11 Auch die Kaufleute der Erde weinen und trauern; denn niemand kauft mehr ihre Waren: 12 all das Gold und Silber, die Edelsteine und Perlen, feine Leinwand, teuerste Stoffe, Seide und scharlachrotes Tuch; edle Hölzer, Gefäße aus Elfenbein, kostbare Schnitzereien, Kupfer, Eisen und Marmor; 13 Gewürze, duftende Salben und Weihrauch, Wein und Olivenöl, feinstes Mehl und Weizen, Rinder und Schafe, Pferde und Wagen, ja sogar lebendige Menschen. 14 Auch die Früchte, die du so sehr liebtest, gibt es nicht mehr. Alle strotzenden und protzenden Dinge sind dahin. Nie mehr wird dieser Reichtum wiederkehren. 15 So werden die Kaufleute, die durch ihren Handel mit Babylon reich geworden sind, alles von ferne mitansehen, weil sie Angst haben vor den Qualen dieser Stadt. Weinend und jammernd werden sie rufen: 16 „Welch ein Elend hat dich getroffen, du mächtige Stadt! Wo sind all deine Schätze, die kostbare Leinwand, die Purpur- und Scharlachstoffe? Du strahltest doch in goldenem Glanz und warst geschmückt mit Gold, Edelsteinen und Perlen! 17 Und in einer einzigen Stunde ist alles vernichtet, zerstört und verloren!“ Von weitem beobachteten Kapitäne und Steuermänner mit ihren Schiffsbesatzungen, was dort geschah. 18 Als die den Rauch der brennenden Stadt sahen, riefen sie: „Was auf der Welt konnte man mit dieser Stadt vergleichen?“ 19 In ihrer Trauer streuten sie sich Asche auf den Kopf, und laut weinend klagten sie: „Welch ein Jammer um dich, du mächtige Stadt! Mit unseren Schiffen wurden wir reich durch deinen Reichtum. Und so schnell ist es damit nun endgültig vorbei!“
Das ist das Bild, welches der biblische Prophet gesehen hat: Eine Stadt, Zentrum des Welthandels, Hochburg des Luxus. Sie ist gefallen. An einem Tag, ja in einer Stunde hat das Unglück sie getroffen. Nur noch von Ferne kann man sehen, wie der Rauch über der Stadt steht, und es sind vor allem die Händler und Kaufleute, die klagen: All unser Gewinn ist verloren. Unsere Geschäfte werden wir nie mehr so lukrativ abwickeln können wie bisher. In der Tat – alle Handelsgüter sind im Kurs gefallen; keiner kauft sie mehr. Diese Stadt wird Babylon genannt. Und Bibellesern zu allen Zeiten war klar, daß das ein symbolischer Name sein muß. Oft hat man gemeint, das antike Rom sei diese Stadt, und das nicht zu Unrecht. Doch einige Einzelheiten passen nicht auf das antike Rom – alle Bemerkungen, die vom Welthandel sprechen.
Ist also New York diese Stadt? Wurde ihr Unglück vor zwei Jahrtausenden in der Bibel angekündigt? Hört bitte genau zu, was ich sage und was ich nicht sage! Ich sage nicht: Jetzt ist die letzte Phase der Weltgeschichte angebrochen, die Endzeit. Wenn auch die biblische Vision auf den letzten Seiten der Bibel steht, habe ich doch keinen Anhaltspunkt, um heute die Endzeit auszurufen. Ich sage auch nicht: Gott habe die Menschen für ihre Sünden bestraft. Wer umgekommen ist, sei wegen seiner Schuld umgekommen. Nein, nur einer ist ganz unmittelbar wegen unserer Schuld umgekommen: Jesus Christus am Kreuz, stellvertretend. Auch sage ich nicht: Die Terroristen, wer immer es auch war, seien Werkzeuge Gottes gewesen, denn sie hätten das durchgeführt, was die Bibel hier ankündigt. Nein, Gott stiftet niemanden zur Gewalt an. Im biblischen Text ist ja überhaupt kein Urheber der Katastrophe angegeben. Niemand kann seine Untaten aus der Bibel legitimieren. Was aber dann enthüllt uns diese biblische Vision?
Sie macht klar, wozu Gott „Nein“ sagt. Der Name der Stadt „Babylon“ ist Symbol für das Antigöttliche – für das, was Gott ablehnt. Das ist, ich sag’s noch einmal, weder eine Nation noch ein einzelner Mensch. Wir zeigen nicht zynisch mit dem Finger nach Amerika. Sondern es geht um eine Haltung, einen Lebensstil. Und zwar um die Haltung, die ihr Vertrauen auf Macht setzt, auf Reichtum, auf Unterdrückung und trügerische Selbstsicherheit. Babylon in der biblischen Vision – das Welthandelszentrum, in dem nicht nur Luxusartikel aller Art umgeschlagen werden, sondern auch Menschenseelen. Ich zitiere dazu aus einem Kommentar aus dem Jahr 1969 – geschrieben, Jahre bevor die Türme des World Trade Centers standen. Babylon „hatte einen Luxus entwickelt, der unverschämt und geradezu sündhaft war. Weil ein solches Ausmaß an Reichtum immer auf Kosten anderer Menschen und Völker geht, darf kein Mensch ihn sich leisten. Es gibt einen unsozialen Reichtum. Dabei läßt sich allerdings nicht leugnen, daß dieser Luxus zu einem wirtschaftlichen Faktor ersten Ranges werden kann. Er versorgte im Falle Babels hunderte von Gewerben bis in die letzten Winkel des Landes mit Aufträgen, hielt den Geldumlauf im Gang und bedeutete einen unersättlichen Markt. [...] Aber eine Zivilisation, aufgebaut auf [Abgötterei] und Geldsucht, kann keinen Bestand haben. Eines Tages heißt es: Gefallen, gefallen ist Babel.“1
So weit der Bibelkommentar. Das ist es, was Gott nicht gefällt: Wenn der Wohlstand die Basis unseres ganzen Lebens ist, wenn wir darauf vertrauen und wenn das auf Kosten anderer geschieht. Niemand wird ja leugnen, daß die dritte Welt auch (!) deswegen arm bleibt, weil wir im Westen unseren Wohlstand ausbauen. Das ist es, was Gott anprangert, wenn er es mit dem Namen „Babylon“ bezeichnet.
Und hier können wir uns nicht ausnehmen, wir Deutschen nicht und wir Christen nicht. Denn wir sind Teil dieser Gesellschaft. Was unsere Gesellschaft ausmacht, das wird in diesen Tagen klar erkennbar. Der Kanzler und viele andere Politiker haben erklärt: Der Angriff auf das Pentagon und das World Trade Center war auch ein Angriff auf das Herz unserer Gesellschaft. Damit ist alles gesagt. Das also ist das Herz unserer Gesellschaft, nicht bloß nach Auskunft einiger Frommer, sondern nach Auskunft derer, die diese Gesellschaft gestalten: Militärische Verteidigung und der Welthandel der Industriestaaten. Auf makabre Weise haben sich die Terroristen diejenigen Ziele ausgesucht, die am meisten Symbolkraft haben. Und wenn wir diesen erschütternden Bibeltext daneben halten, bekommt das Ganze aus Gottes Sicht noch einen Namen: „Babylon“, also: das, was Gott ablehnt. Das, was bei Gott Trauer und Zorn hervorruft. Der Mord an den Opfern ist ein Schlag der Terroristen ins Gesicht Gottes. Doch genau so ein Schlag in sein Gesicht ist unser Lebensstil, unser Vertrauen auf Wohlstand und auf die politisch-militärische Absicherung dieses Wohlstandes. Gott leidet mit den Opfern, jawohl. Doch genauso leidet er an unserem menschlichen Herzen, das dem Geld verhaftet ist und das verhärtet ist gegenüber den Armen, die mit ihrer Armut für unseren Wohlstand bezahlen. Dazu sagt Gott Nein! Davon müssen wir umkehren. Natürlich kann kein einzelner von uns austreten aus dieser Gesellschaft. Natürlich ist es nicht damit getan, von nun an mit schlechtem Gewissen zu konsumieren. Aber daß wir unseren Lebensstil allzu fraglos hingenommen haben und für den Normalfall erklärt haben; daß wir nicht unzufriedener waren mit den ungerechten Strukturen, welche unsere Industriestaaten hervorbringen, das ist unsere Schuld. Und sie wird aufgedeckt im Spiegel der Terroranschläge auf die symbolischen Herzen unserer Gesellschaft. Selig sind, die hungern und dürsten nach Gerechtigkeit sagt Jesus. Selig also alle Angehörigen der unschuldig umgekommenen Opfer. Selig aber auch alle Armen dieser Welt, die jahrzehntelang schon gehungert und gedürstet haben nach Gerechtigkeit, und wir leben auf Seiten derer, die den Handel treiben und davon profitieren und auf diese Weise auch im Verborgenen, wie der Bibeltext es sagt, mit „Seelen von Menschen“ handeln, mit ihren Leben. Die Anklage Gottes steht. Auch wenn die Zeiten der Sklaverei weithin vorbei sind.
Darin liegt der Schock, liebe Gemeinde und liebe Gäste, der zweite Schock, den ich empfand, als ich auf dieses Bibelwort stieß. Die von Gott angeklagte Stadt namens Babylon – das sind auch wir. Wir Angehörige westlicher Industriegesellschaften. Auch wir Christen. Christen haben immer wieder versucht herauszufinden, wer denn in der biblischen Vision gemeint sei: Das gottlose Rom? Der gottlose Kommunismus? Der Islam vielleicht? Der Hammer ist nun dies: Wenn die Deutung dieser Predigt stimmt, daß Bibeltext und Attentat zusammengehören – und bitte prüft selbst nach, ob sie stimmt! – wenn sie stimmt, dann sind auch wir westlichen Christen gemeint unter denen, die tun, was Gott ablehnt. Dann sagt Gott Nein zum Vertrauen in unsere Gesellschaftsordnung. Natürlich vertrauen wir auch Gott und Gott am meisten. Aber Hand aufs Herz: Wieviel reale Sicherheit, wieviel tatsächliche Beruhigung haben wir doch bezogen aus unserem Wohlstand? Aus unserer Gesellschaftsordnung? Aus unserem stabilen Staatengefüge?
Wenn es eine biblische Deutung des Terror-Attentats gibt, dann ist es diese: Das Attentat muß uns aufrütteln und zur Umkehr rufen. Wir sind vor die Wahl gestellt, daß wir Schluß machen mit unserem doppelten Vertrauen auf Gott und auf unsere Gesellschaft mit ihrem Wohlstand. „Verlaßt diese Stadt“, also diesen Lebensstil ‚Babylon‘. Gott ruft uns zur Umkehr – und zur Hinkehr zur Gerechtigkeit. Das wird auch heißen, daß wir die Not der Armen ernster nehmen als wir weithin bisher getan haben.
In solcher Umkehr werden wir aber auch Halt finden. Da, wo jetzt in der Welt Angst regiert, wo man getroffen spürt, wie verletzlich und angreifbar unsere Zivilisation ist, wie man der Willkür von Selbstmordattentätern ausgeliefert ist, da ruft Gott zum Glauben. Ruft dazu, unsere Fundamente in ihm festzumachen. Unsere Wurzeln herauszuziehen aus dem Boden, der lang schon ethisch vergiftet war, und wir haben es nicht sehen können oder wollen. Seien wir nicht bloß aufgewühlt von den Nachrichten. Seien wir aufgerüttelt zu Gott hin. Daß uns die Frage nach ihm nicht mehr losläßt, auch wenn wir uns an die Katastrophe gewöhnt haben. Gott bietet uns das Vertrauen an. Er ist ja der letzte Herr der Welt. Auch das macht das Buch der Offenbarung deutlich: All das Schreckliche, das noch kommen kann, ist eingebettet in Gottes Herrschaft. Gott läßt sie sich nicht aus der Hand nehmen. Bei ihm haben wir eine viel sicherere Zuflucht als in den Sicherheitsangeboten unserer Zivilisation. Machen wir also neu ernst mit Gott. Drücken wir es konkret aus in der Hinkehr zu ihm und in der Abkehr vom falschen Vertauen und auch in der Abkehr von Ungerechtigkeit, die Gott kraß mißfällt.
Die brennende Stadt heute – sie ist nicht von Gott inszeniert worden. Gott bestraft damit nicht diejenigen, die den Tod fanden. Wir aber sind es, die diese brennende Stadt deuten können. Ich deute sie so, daß Gott darin aufdeckt, was er haßt. Ich deute sie im Licht der Bibel als Aufruf zur Umkehr.
Zum Schluß noch ein weiteres Bibelwort. Es dient dazu, das Gesagte noch einmal zu bündeln. Es bringt uns nichts Neues, aber unterstreicht noch einmal, was die Bedeutung von Katastrophen im Lichte Gottes ist. Lukas 13:
Zu dieser Zeit berichtete man Jesus, daß Pilatus einige Männer aus Galiläa während des Opferdienstes im Tempel hatte [blutig] niedermetzeln lassen. [...] 2 «Ihr denkt jetzt vielleicht», sagte Jesus, «diese Galiläer seien schlimmere Sünder gewesen als andere Leute, weil sie so grausam ermordet wurden. 3 Ihr irrt euch! Aber eins sollt ihr wissen: Wenn ihr euch nicht zu Gott hinwendet und euer schlechtes Leben ändert, dann werdet ihr genauso umkommen. 4 Erinnert euch an die achtzehn Leute, die starben, als der Turm von Siloah einstürzte. Glaubt ihr wirklich, daß ausgerechnet sie die schlimmsten Sünder in Jerusalem waren? 5 Nein! Aber wenn ihr euer Leben nicht ändert, wird es euch ebenso gehen.»
Nicht nur von der brennenden Stadt redet die Bibel, sondern auch vom stürzenden Turm. Im Gegensatz zur Vision über Babylon ist die Begebenheit mit dem stürzenden Turm ein echtes geschichtliches Vorkommnis. Die Leute damals fragten, was dieses Unglück zu bedeuten hatte. Jesus antwortet: Ihr könnt an dem Unglück nicht ablesen, wer etwa gesündigt hat. Die Umgekommenen waren keine besonderen Sünder, die Gott etwa bestraft hätte. Vielmehr hätte er Anlaß, uns alle zu bestrafen, und daher gibt es jetzt nur eins: Umkehr zu Gott.
Keiner möge die heutige Predigt als zynisch empfinden, wenn ich angesichts des zehntausenfachen Leids zur Umkehr aufrufe und wenn ich aufzeige, was Gott ablehnt. Damit das richtig gehört wird, deshalb habe ich eben noch diesen weiteren Bibelabschnitt herangezogen. Der stürzende Turm, ob er nun 18 wie damals oder 1800 oder 18.000 erschlüge – er ist keine unmittelbare Strafe Gottes. Aber deutlich wird, wie abhängig wir von Gott sind. Wie wenig unsere eigene Sicherung vermag. Wir haben heute Gelegenheit, uns Gott zuzuwenden. Das Gespräch mit ihm aufzunehmen. Unsere Lebenswurzeln zu überprüfen. Gott läßt uns heute sagen, angesichts der Ereignisse der letzten Woche: Kehrt um zu mir. Sucht mich, und ihr werdet leben!
Amen.

1A. Pohl, Die Offenbarung des Johannes Bd. 2, Wuppertal (Sonderausgabe) 1983, 222.