Vor zehn Jahren, wenige Tage nach den Terroranschlägen vom 11.9. 2001, habe ich diese Predigt gehalten. Ich war stark berührt, sogar bestürzt darüber, welche Ähnlichkeiten des Geschehens sich zu einem bestimmten Bibeltext gezeigt haben.
Nach zehn Jahren bleiben manche Fragen offen: Hat die Betroffenheit von damals zu einem wirklichen Hören auf Gott geführt? Zu einer Umkehr, einer Lebensveränderung? Ich bin beunruhigt darüber, wie sehr ich selbst weitergelebt habe wie zuvor. Vielleicht ist die Erinnerung nach zehn Jahren ein guter Anlass, noch einmal über diese biblische Botschaft nachzudenken.
Brennende Stadt, stürzender Turm.
Der
Terror-Anschlag vom 11.9.2001 im Spiegel der Bibel
Predigt
über Offb 18,1-19 und Lk 13,1-5, am 16.9.2001 gehalten in der
Friedenskirche Lüneburg
Liebe Gemeinde,
seit letzten Dienstag ist die Welt
nicht mehr die gleiche. Das kann man ohne Übertreibung sagen. In den
USA und hier bei uns ist die Sorglosigkeit dahin. Selbst wenn es
nicht zum Krieg kommt, hat sich doch die Gesellschaft verändert.
Außer daß unvorstellbar viele Menschen getötet wurden, ist es auch
eine schallende und gezielte Ohrfeige in das Nationenbewußtsein der
Amerikaner. Die Seele der Bürger der USA wird ihre Narben noch lange
tragen, und dementsprechend wird sich dieses Land auch noch lange
verhalten.
Was sollen wir dazu sagen? Was denkt
Gott über diesen terroristischen Anschlag? Kann man darüber
überhaupt was sagen? Muß man nicht die Hand auf den Mund legen? In
aller Zurückhaltung gehe ich das Wagnis ein, nicht bloß einen
Kommentar zu sprechen, sondern eine Predigt aus Gottes Wort zu
halten. Und knüpfe zunächst daran an, was wir eben aus der
Bergpredigt von Jesus gehört haben: „Selig die Trauernden, denn
sie werden getröstet werden. Selig, die keine Gewalt anwenden, denn
sie werden das Land erben. Selig, die hungern und dürsten nach
Gerechtigkeit, denn sie werden satt werden. Selig die Barmherzigen;
denn sie werden Erbarmen finden. Selig, die Frieden stiften, denn sie
werden Kinder Gottes genannt werden.“ Das ist die Sicht Gottes: Er
will trösten. Er steht auf Seiten der Opfer. Der Mord an seinen
Geschöpfen ist ein Anschlag auf den Schöpfer. Die schallende
Ohrfeige hat nicht nur die Seele der USA-Bürger getroffen, sondern
auch das Gesicht Gottes. Wenn die Welt mit den Angehörigen und dem
Vaterland der Toten trauert, wenn Glocken läuten und Schweigeminuten
gehalten werden, dann stehen wir als Christen vollen Herzens dabei.
Auf dem Ankündigungsplakat für diesen Gottesdienst stand die Frage:
„Leidet Gott mit den Opfern?“ Der Bergprediger Jesus sagt
eindeutig: Ja, er leidet mit ihnen. Viele der Opfer sind ja leider
nicht weit weg. Auch Deutsche sind umgekommen. Auch hierzulande,
vielleicht auch in unserer Stadt und womöglich in unseren Reihen
hier, ich weiß es nicht, sind Angehörige von Opfern aus den
brennenden Häusern oder Flugzeugen. An ihrer Seite stehen wir, und
das gerade auch im Namen Gottes.
Das ist übrigens keine Frage der
Nation. Gott leidet nicht besonders mit, weil es das
nordamerikanische Volk wäre, das auf seinen Dollarscheinen stehen
hat: “In God we Trust” – „Auf Gott
vertrauen wir“. Der Schöpfer ist getroffen über seine toten
Geschöpfe nicht deshalb, weil es so oft geheißen hat: “God
bless America”. Das himmelschreiende Unrecht wäre genauso
groß, wenn Menschen in Schanghai oder Santiago, in Tunis oder
Bangalore, in Bagdad oder Tiflis umgekommen wären. Der Schöpfer ist
an menschengemachten Nationengrenzen nicht so sehr interessiert wie
wir. Die Geschöpfe sind es, die ihm am Herzen liegen. Wenn es ein
Volk gäbe, mit dem wir als Volk besonders fühlen, dann wären es
die Juden. Jemand hat New York die zweitgrößte jüdische Stadt der
Welt genannt, bezogen auf die Einwohnerzahl, und die USA sind ja eine
politische Schutzmacht für Israel. Auch die Juden wurden gezielt
getroffen. Hier würden wir genauer hinsehen, wenn es um Nationen
geht. Doch ansonsten steht im Vordergrund: Menschen wurden getötet,
und dieses Unrecht ist auch vor Gott ein Unrecht.
Dafür haben viele auch in unserem Land
ein Empfinden – nicht nur für das Unrecht, sondern auch, daß es
vor Gott eines ist. Wie selten zuvor wird nach Gott gefragt und wird
gebetet – und auch öffentlich davon geredet. Das läßt hoffen.
Offenbar sind wir so abgestumpft denn doch noch nicht, daß wir nicht
wenigstens jetzt an Gott denken würden. Die Gewalt und der Tod haben
ein so unvorstellbares Ausmaß angenommen, daß es wirklich das rein
Menschliche überschreitet. Übermenschlich scheint es, und da kommen
wir auf Gott. Es ist ein ehrliches Empfinden, das viele von uns dabei
leitet, auch viele derer, die sonst nicht in der Bibel lesen. Und
wenn irgendwann leider der Gewöhnungseffekt an den Schrecken
eingesetzt hat, diese Gewöhnung, die wir aus unserer
Fernsehgesellschaft kennen, dann ist Gott hoffentlich nicht auch
damit wieder vergessen.
Dennoch sind wir zur Sorgfalt gerufen.
Nicht alles, wofür Gott jetzt angerufen wird, ist im Sinne Gottes.
Nicht jeder Ruf nach Gott ruft nach dem biblischen Gott, dem Vater
Jesu Christi. Der Gott, der die westliche Welt liebt und die
islamischen Araber haßt, ist jedenfalls nicht der biblische Gott!
Und Rache ist nicht seine Absicht. Ich habe bisher noch nie in den
Tagesthemen erlebt, daß vollständige Bibelverse vorgelesen wurden.
Am Mittwoch nach dem Anschlag passierte jedoch genau dies. Die
Kommentatorin sagte: „Präsident Bush muß jetzt das Neue Testament
vergessen und das Alte Testament zur Hand nehmen.“ Und dann
zitierte sie die Worte aus dem dritten Mosebuch, in denen von der
Vergeltung Auge um Auge, Zahn um Zahn die Rede ist. Erschütternd
fand ich das. Das ist eine klare Entscheidung! Eine Entscheidung für
Religion, die unserem verständlichen Wunsch nach Vergeltung
Rückenwind geben möge. Eine Entscheidung aber gegen die Worte Jesu
und gegen Gott, den Vater Jesu Christi. Der Bergprediger hat nicht
bloß die selig gepriesen, die nach Gerechtigkeit hungern und
dürsten, sondern auch die Gewaltlosen, die Barmherzigen und die
Friedensstifter. Wenn doch genauso viel von Jesus die Rede wäre, wie
man jetzt von Gott redet!
Ich habe in der Predigt einen ersten
Kreis geschlagen. Ich habe die Frage bewegt, ob Gott mit den Opfern
leidet. Ich habe in die Bergpredigt Jesu geschaut und ein klares Ja
gefunden. In einem zweiten Kreis möchte ich ausholen und fragen, ob
die Bibel noch mehr sagt zur Katastrophe vom Dienstag. Ob noch eine
andere Deutung darin liegt. Auf dem Einladungsplakat habe ich das mit
der Frage skizziert: „Woran leidet Gott noch?“ Terror uns Gewalt
gefällt ihm nicht. Was gefällt ihm noch nicht? Ich möchte dazu
einen weiteren Bibeltext vorlesen, der in der Tat das Geschehen
deutet. Es ist immer ein Wagnis, auch ein theologisches Wagnis,
aktuelle Ereignisse biblisch zu deuten. Ich habe so etwas in der
Predigt noch nie gemacht. Aber ich komme nicht vorbei an einem
biblischen Abschnitt aus dem Buch der Offenbarung, der so klar
schildert, was wir an den Fernsehschirmen sahen. Nach dem ersten
Schock aus den Nachrichten war das mein persönlicher zweiter
Schock, auf diesen Bibelabschnitt hingewiesen zu werden. Aus
Offenbarung, Kapitel 18 – der Prophet beschreibt, welche
Zukunftsschau er sieht:
Danach
sah ich, wie ein anderer Engel vom Himmel herabkam. Er hatte
besondere Macht, und von seinem Glanz erstrahlte die ganze Erde. 2
Mit gewaltiger Stimme rief er: »Gefallen ist Babylon, die große
Stadt! Ja, sie ist gefallen! [...] 3 Haben sich nicht alle
Völker von dieser Stadt und ihren Verlockungen berauschen lassen!
Sie konnten gar nicht genug bekommen! Auch die Herrscher dieser Erde
haben sich mit ihr eingelassen. Und durch ihren verschwenderischen
Luxus rafften sich die Händler der Welt ihre Reichtümer zusammen.«
4
Dann hörte ich eine andere Stimme vom Himmel her rufen: »Verlasse
diese Stadt, du mein Volk, damit du nicht mitschuldig wirst an ihren
Sünden und von ihrem Plagen mitbetroffen wirst. 5 Denn
ihre Sünden sind so unermeßlich groß, daß sie bis an den Himmel
reichen. Aber Gott hat nicht eine einzige ihrer Schandtaten
vergessen. [...] 7 So wie sie einst in Saus und Braus
gelebt hat, soll sie jetzt Qual und Leid ertragen. Insgeheim aber
denkt sie: „Ich bin Königin und werde weiter herrschen. Ich bin
keine hilflose Witwe; Not und Trauer werde ich niemals erfahren.“ 8
Aber an einem einzigen Tag wird alles über sie hereinbrechen:
Hunger, Trauer und Tod. Im Feuer wird sie verbrennen. Denn Gott, der
Herr, der mit ihr abrechnet, ist stark und mächtig. 9 Wer
wird sie dann beweinen, wer ihr Ende beklagen? All die Mächtigen,
die Herrscher der Erde, die ihr nachgelaufen sind und sich mit ihr
eingelassen haben, werden jammern und klagen, wenn sie den Rauch der
brennenden Stadt sehen. 10 Zitternd vor Angst werden sie
aus großer Entfernung alles mitansehen und laut schreien: „Ach,
Babylon! Du großes, du starkes Babylon! In einer einzigen Stunde ist
das Gericht über dich hereingebrochen!“ 11 Auch die
Kaufleute der Erde weinen und trauern; denn niemand kauft mehr ihre
Waren: 12 all das Gold und Silber, die Edelsteine und
Perlen, feine Leinwand, teuerste Stoffe, Seide und scharlachrotes
Tuch; edle Hölzer, Gefäße aus Elfenbein, kostbare Schnitzereien,
Kupfer, Eisen und Marmor; 13 Gewürze, duftende Salben und
Weihrauch, Wein und Olivenöl, feinstes Mehl und Weizen, Rinder und
Schafe, Pferde und Wagen, ja sogar lebendige Menschen. 14
Auch die Früchte, die du so sehr liebtest, gibt es nicht mehr. Alle
strotzenden und protzenden Dinge sind dahin. Nie mehr wird dieser
Reichtum wiederkehren. 15 So werden die Kaufleute, die
durch ihren Handel mit Babylon reich geworden sind, alles von ferne
mitansehen, weil sie Angst haben vor den Qualen dieser Stadt. Weinend
und jammernd werden sie rufen: 16 „Welch ein Elend hat
dich getroffen, du mächtige Stadt! Wo sind all deine Schätze, die
kostbare Leinwand, die Purpur- und Scharlachstoffe? Du strahltest
doch in goldenem Glanz und warst geschmückt mit Gold, Edelsteinen
und Perlen! 17 Und in einer einzigen Stunde ist alles
vernichtet, zerstört und verloren!“ Von weitem beobachteten
Kapitäne und Steuermänner mit ihren Schiffsbesatzungen, was dort
geschah. 18 Als die den Rauch der brennenden Stadt sahen,
riefen sie: „Was auf der Welt konnte man mit dieser Stadt
vergleichen?“ 19 In ihrer Trauer streuten sie sich Asche
auf den Kopf, und laut weinend klagten sie: „Welch ein Jammer um
dich, du mächtige Stadt! Mit unseren Schiffen wurden wir reich durch
deinen Reichtum. Und so schnell ist es damit nun endgültig vorbei!“
Das ist das Bild, welches der biblische
Prophet gesehen hat: Eine Stadt, Zentrum des Welthandels, Hochburg
des Luxus. Sie ist gefallen. An einem Tag, ja in einer Stunde hat das
Unglück sie getroffen. Nur noch von Ferne kann man sehen, wie der
Rauch über der Stadt steht, und es sind vor allem die Händler und
Kaufleute, die klagen: All unser Gewinn ist verloren. Unsere
Geschäfte werden wir nie mehr so lukrativ abwickeln können wie
bisher. In der Tat – alle Handelsgüter sind im Kurs gefallen;
keiner kauft sie mehr. Diese Stadt wird Babylon genannt. Und
Bibellesern zu allen Zeiten war klar, daß das ein symbolischer Name
sein muß. Oft hat man gemeint, das antike Rom sei diese Stadt, und
das nicht zu Unrecht. Doch einige Einzelheiten passen nicht auf das
antike Rom – alle Bemerkungen, die vom Welthandel sprechen.
Ist also New York diese Stadt? Wurde
ihr Unglück vor zwei Jahrtausenden in der Bibel angekündigt? Hört
bitte genau zu, was ich sage und was ich nicht sage! Ich sage nicht:
Jetzt ist die letzte Phase der Weltgeschichte angebrochen, die
Endzeit. Wenn auch die biblische Vision auf den letzten Seiten der
Bibel steht, habe ich doch keinen Anhaltspunkt, um heute die Endzeit
auszurufen. Ich sage auch nicht: Gott habe die Menschen für ihre
Sünden bestraft. Wer umgekommen ist, sei wegen seiner Schuld
umgekommen. Nein, nur einer ist ganz unmittelbar wegen unserer Schuld
umgekommen: Jesus Christus am Kreuz, stellvertretend. Auch sage ich
nicht: Die Terroristen, wer immer es auch war, seien Werkzeuge Gottes
gewesen, denn sie hätten das durchgeführt, was die Bibel hier
ankündigt. Nein, Gott stiftet niemanden zur Gewalt an. Im biblischen
Text ist ja überhaupt kein Urheber der Katastrophe angegeben.
Niemand kann seine Untaten aus der Bibel legitimieren. Was aber dann
enthüllt uns diese biblische Vision?
Sie macht klar, wozu Gott „Nein“
sagt. Der Name der Stadt „Babylon“ ist Symbol für das
Antigöttliche – für das, was Gott ablehnt. Das ist, ich sag’s
noch einmal, weder eine Nation noch ein einzelner Mensch. Wir zeigen
nicht zynisch mit dem Finger nach Amerika. Sondern es geht um eine
Haltung, einen Lebensstil. Und zwar um die Haltung, die ihr Vertrauen
auf Macht setzt, auf Reichtum, auf Unterdrückung und trügerische
Selbstsicherheit. Babylon in der biblischen Vision – das
Welthandelszentrum, in dem nicht nur Luxusartikel aller Art
umgeschlagen werden, sondern auch Menschenseelen. Ich zitiere dazu
aus einem Kommentar aus dem Jahr 1969 – geschrieben, Jahre bevor
die Türme des World Trade Centers standen. Babylon „hatte einen
Luxus entwickelt, der unverschämt und geradezu sündhaft war. Weil
ein solches Ausmaß an Reichtum immer auf Kosten anderer Menschen und
Völker geht, darf kein Mensch ihn sich leisten. Es gibt einen
unsozialen Reichtum. Dabei läßt sich allerdings nicht leugnen, daß
dieser Luxus zu einem wirtschaftlichen Faktor ersten Ranges werden
kann. Er versorgte im Falle Babels hunderte von Gewerben bis in die
letzten Winkel des Landes mit Aufträgen, hielt den Geldumlauf im
Gang und bedeutete einen unersättlichen Markt. [...] Aber eine
Zivilisation, aufgebaut auf [Abgötterei] und Geldsucht, kann keinen
Bestand haben. Eines Tages heißt es: Gefallen, gefallen ist Babel.“1
So weit der Bibelkommentar. Das ist es,
was Gott nicht gefällt: Wenn der Wohlstand die Basis unseres ganzen
Lebens ist, wenn wir darauf vertrauen und wenn das auf Kosten anderer
geschieht. Niemand wird ja leugnen, daß die dritte Welt auch (!)
deswegen arm bleibt, weil wir im Westen unseren Wohlstand ausbauen.
Das ist es, was Gott anprangert, wenn er es mit dem Namen „Babylon“
bezeichnet.
Und hier können wir uns nicht
ausnehmen, wir Deutschen nicht und wir Christen nicht. Denn wir sind
Teil dieser Gesellschaft. Was unsere Gesellschaft ausmacht, das wird
in diesen Tagen klar erkennbar. Der Kanzler und viele andere
Politiker haben erklärt: Der Angriff auf das Pentagon und das World
Trade Center war auch ein Angriff auf das Herz unserer Gesellschaft.
Damit ist alles gesagt. Das also ist das Herz unserer Gesellschaft,
nicht bloß nach Auskunft einiger Frommer, sondern nach Auskunft
derer, die diese Gesellschaft gestalten: Militärische Verteidigung
und der Welthandel der Industriestaaten. Auf makabre Weise haben sich
die Terroristen diejenigen Ziele ausgesucht, die am meisten
Symbolkraft haben. Und wenn wir diesen erschütternden Bibeltext
daneben halten, bekommt das Ganze aus Gottes Sicht noch einen Namen:
„Babylon“, also: das, was Gott ablehnt. Das, was bei Gott Trauer
und Zorn hervorruft. Der Mord an den Opfern ist ein Schlag der
Terroristen ins Gesicht Gottes. Doch genau so ein Schlag in sein
Gesicht ist unser Lebensstil, unser Vertrauen auf Wohlstand und auf
die politisch-militärische Absicherung dieses Wohlstandes. Gott
leidet mit den Opfern, jawohl. Doch genauso leidet er an unserem
menschlichen Herzen, das dem Geld verhaftet ist und das verhärtet
ist gegenüber den Armen, die mit ihrer Armut für unseren Wohlstand
bezahlen. Dazu sagt Gott Nein! Davon müssen wir umkehren. Natürlich
kann kein einzelner von uns austreten aus dieser Gesellschaft.
Natürlich ist es nicht damit getan, von nun an mit schlechtem
Gewissen zu konsumieren. Aber daß wir unseren Lebensstil allzu
fraglos hingenommen haben und für den Normalfall erklärt haben; daß
wir nicht unzufriedener waren mit den ungerechten Strukturen, welche
unsere Industriestaaten hervorbringen, das ist unsere Schuld. Und sie
wird aufgedeckt im Spiegel der Terroranschläge auf die symbolischen
Herzen unserer Gesellschaft. Selig sind, die hungern und dürsten
nach Gerechtigkeit sagt Jesus. Selig also alle Angehörigen der
unschuldig umgekommenen Opfer. Selig aber auch alle Armen dieser
Welt, die jahrzehntelang schon gehungert und gedürstet haben nach
Gerechtigkeit, und wir leben auf Seiten derer, die den Handel treiben
und davon profitieren und auf diese Weise auch im Verborgenen, wie
der Bibeltext es sagt, mit „Seelen von Menschen“ handeln, mit
ihren Leben. Die Anklage Gottes steht. Auch wenn die Zeiten der
Sklaverei weithin vorbei sind.
Darin liegt der Schock, liebe Gemeinde
und liebe Gäste, der zweite Schock, den ich empfand, als ich auf
dieses Bibelwort stieß. Die von Gott angeklagte Stadt namens Babylon
– das sind auch wir. Wir Angehörige westlicher
Industriegesellschaften. Auch wir Christen. Christen haben immer
wieder versucht herauszufinden, wer denn in der biblischen Vision
gemeint sei: Das gottlose Rom? Der gottlose Kommunismus? Der Islam
vielleicht? Der Hammer ist nun dies: Wenn die Deutung dieser Predigt
stimmt, daß Bibeltext und Attentat zusammengehören – und bitte
prüft selbst nach, ob sie stimmt! – wenn sie stimmt, dann sind
auch wir westlichen Christen gemeint unter denen, die tun, was Gott
ablehnt. Dann sagt Gott Nein zum Vertrauen in unsere
Gesellschaftsordnung. Natürlich vertrauen wir auch Gott und Gott am
meisten. Aber Hand aufs Herz: Wieviel reale Sicherheit, wieviel
tatsächliche Beruhigung haben wir doch bezogen aus unserem
Wohlstand? Aus unserer Gesellschaftsordnung? Aus unserem stabilen
Staatengefüge?
Wenn es eine biblische Deutung des
Terror-Attentats gibt, dann ist es diese: Das Attentat muß uns
aufrütteln und zur Umkehr rufen. Wir sind vor die Wahl gestellt, daß
wir Schluß machen mit unserem doppelten Vertrauen auf Gott und auf
unsere Gesellschaft mit ihrem Wohlstand. „Verlaßt diese Stadt“,
also diesen Lebensstil ‚Babylon‘. Gott ruft uns zur Umkehr –
und zur Hinkehr zur Gerechtigkeit. Das wird auch heißen, daß wir
die Not der Armen ernster nehmen als wir weithin bisher getan haben.
In solcher Umkehr werden wir aber auch
Halt finden. Da, wo jetzt in der Welt Angst regiert, wo man getroffen
spürt, wie verletzlich und angreifbar unsere Zivilisation ist, wie
man der Willkür von Selbstmordattentätern ausgeliefert ist, da ruft
Gott zum Glauben. Ruft dazu, unsere Fundamente in ihm festzumachen.
Unsere Wurzeln herauszuziehen aus dem Boden, der lang schon ethisch
vergiftet war, und wir haben es nicht sehen können oder wollen.
Seien wir nicht bloß aufgewühlt von den Nachrichten. Seien wir
aufgerüttelt zu Gott hin. Daß uns die Frage nach ihm nicht mehr
losläßt, auch wenn wir uns an die Katastrophe gewöhnt haben. Gott
bietet uns das Vertrauen an. Er ist ja der letzte Herr der Welt. Auch
das macht das Buch der Offenbarung deutlich: All das Schreckliche,
das noch kommen kann, ist eingebettet in Gottes Herrschaft. Gott läßt
sie sich nicht aus der Hand nehmen. Bei ihm haben wir eine viel
sicherere Zuflucht als in den Sicherheitsangeboten unserer
Zivilisation. Machen wir also neu ernst mit Gott. Drücken wir es
konkret aus in der Hinkehr zu ihm und in der Abkehr vom falschen
Vertauen und auch in der Abkehr von Ungerechtigkeit, die Gott kraß
mißfällt.
Die brennende Stadt heute – sie ist
nicht von Gott inszeniert worden. Gott bestraft damit nicht
diejenigen, die den Tod fanden. Wir aber sind es, die diese brennende
Stadt deuten können. Ich deute sie so, daß Gott darin aufdeckt, was
er haßt. Ich deute sie im Licht der Bibel als Aufruf zur Umkehr.
Zum Schluß noch ein weiteres
Bibelwort. Es dient dazu, das Gesagte noch einmal zu bündeln. Es
bringt uns nichts Neues, aber unterstreicht noch einmal, was die
Bedeutung von Katastrophen im Lichte Gottes ist. Lukas 13:
Zu
dieser Zeit berichtete man Jesus, daß Pilatus einige Männer aus
Galiläa während des Opferdienstes im Tempel hatte [blutig]
niedermetzeln lassen. [...] 2 «Ihr denkt jetzt
vielleicht», sagte Jesus, «diese Galiläer seien schlimmere Sünder
gewesen als andere Leute, weil sie so grausam ermordet wurden. 3
Ihr irrt euch! Aber eins sollt ihr wissen: Wenn ihr euch nicht zu
Gott hinwendet und euer schlechtes Leben ändert, dann werdet ihr
genauso umkommen. 4 Erinnert euch an die achtzehn Leute,
die starben, als der Turm von Siloah einstürzte. Glaubt ihr
wirklich, daß ausgerechnet sie die schlimmsten Sünder in Jerusalem
waren? 5 Nein! Aber wenn ihr euer Leben nicht ändert,
wird es euch ebenso gehen.»
Nicht nur von der brennenden Stadt
redet die Bibel, sondern auch vom stürzenden Turm. Im Gegensatz zur
Vision über Babylon ist die Begebenheit mit dem stürzenden Turm ein
echtes geschichtliches Vorkommnis. Die Leute damals fragten, was
dieses Unglück zu bedeuten hatte. Jesus antwortet: Ihr könnt an dem
Unglück nicht ablesen, wer etwa gesündigt hat. Die Umgekommenen
waren keine besonderen Sünder, die Gott etwa bestraft hätte.
Vielmehr hätte er Anlaß, uns alle zu bestrafen, und daher gibt es
jetzt nur eins: Umkehr zu Gott.
Keiner möge die heutige Predigt als
zynisch empfinden, wenn ich angesichts des zehntausenfachen Leids zur
Umkehr aufrufe und wenn ich aufzeige, was Gott ablehnt. Damit das
richtig gehört wird, deshalb habe ich eben noch diesen weiteren
Bibelabschnitt herangezogen. Der stürzende Turm, ob er nun 18 wie
damals oder 1800 oder 18.000 erschlüge – er ist keine unmittelbare
Strafe Gottes. Aber deutlich wird, wie abhängig wir von Gott sind.
Wie wenig unsere eigene Sicherung vermag. Wir haben heute
Gelegenheit, uns Gott zuzuwenden. Das Gespräch mit ihm aufzunehmen.
Unsere Lebenswurzeln zu überprüfen. Gott läßt uns heute sagen,
angesichts der Ereignisse der letzten Woche: Kehrt um zu mir. Sucht
mich, und ihr werdet leben!
Amen.
1A.
Pohl, Die Offenbarung des Johannes Bd. 2, Wuppertal (Sonderausgabe)
1983, 222.