Mittwoch, 25. Oktober 2017

Glaubensprobe oder süßes Gift?



Warum Gott uns nicht in Versuchung führt – und warum er es doch tut. Die Vaterunserbitte in ihrem gesamtbiblischen Zusammenhang

Es gibt wohl kaum ein Gebet, das so regelmäßig gebetet wird und dabei so oft irritiert wie die Vaterunserbitte: „Und führe uns nicht in Versuchung“. Wer nur ein wenig nachdenkt, stolpert sofort: Ja, führt Gott uns denn etwa in Versuchung? Würde er es tun, wenn wir nicht dagegen beten würden?
Vielen fällt auch sofort das Wort aus Jakobus 1 ein, dass Gott niemanden in Versuchung führt und dass man gar nicht auf so eine Idee kommen sollte.
Andererseits: Versuchungssituationen kommen im Leben eines jeden Christen vor; Weggabelungen, an denen man sich entscheiden muss: Gehe ich den leichten, aber gefährlichen Weg oder den schweren, auf dem ich Gott treu bleibe?
Was ist, wenn mir jemand etwas Böses antut? Bin ich in Versuchung geführt, mich zu rächen? Und wenn ja, woher kommt die Versuchung? Vom Teufel, der mich von Gott wegziehen will? Oder von Gott, der mir eine Gelegenheit gibt, meine Treue zu seinem Willen zu bewähren, sodass ich am Ende sogar gestärkt herauskommen könnte? Was ist, wenn ich eine Durststrecke durchlebe? Ist das eine vom Bösen kommende Anfechtung? Eine Bewährungsprobe Gottes? Oder einfach eine Situation, die man als Mensch eben erlebt – aber sie kann mir zur Versuchung werden, dass ich mich gegen Gott auflehne, rebelliere? Was ist, wenn ich eine großartige berufliche Aufstiegsmöglichkeit vor mir habe, um den Preis eines nur ganz kleinen Kompromisses? Schickt Gott mir so etwas in den Weg? Der Teufel? Oder sind es die Begierden meines eigenen Herzens, die mich nach „mehr“ streben lassen?
Wenn wir versuchen, das ganze Bild zu erfassen, das die Bibel zeichnet, dann werden wir entdecken: Nein, Gott führt niemanden aufs Glatteis, damit der Betreffende scheitert. Ja, viele Versuchungen kommen aus dem eigenen Herzen. Und – doch, Gott führt seine Leute durchaus in Versuchung! Mit seinem Volk tat er das oft, auf verschiedene Weise, mit verschiedenen Zielen und aus verschiedenen Gründen. Wir werden also sehen: Die Vaterunserbitte ist nicht das einzige Wort zum Thema, und der Satz von Jakobus, dass Gott niemanden versucht, auch nicht.

1. Woher kommt die Versuchung?

1.1 Die Versuchung kommt nicht von Gott

Die Aussage von Jakobus ist klar und sie ist grundsätzlich gemeint: Gott führt niemanden in Versuchung, und wer in Versuchung gerät, soll das nicht auf Gott zurückführen (1,13). Jesus selbst ist es, dessen Leben dies bestätigt. Jesus wurde in der Wüste 40 Tage lang versucht, und zwar vom Teufel, der geradezu den Beinamen „Versucher“ bekommt (Mt 4,1-11). Auch der 1. Petrusbrief liegt auf dieser Linie: Heiße Verfolgung ist über die Christen gekommen, und das ist für sie eine Versuchung (4,12) – aber diese Verfolgung kam ja nicht von Gott.

1.2 Die Versuchung kommt von Gott

Auf der anderen Seite steht eine Fülle von Situationen, in denen Gottes Volk oder einzelne Glaubende gerade doch von Gott selbst in Versuchung geführt wurden! Das bekannteste Beispiel ist Abraham (1Mo 22,1), daneben gibt es aber noch viele weitere (2Mo 15,25; 16,4; 20,20; 5Mo 13,4; 33,8; Ri 2,22; 3,1.4; 2Chr 32,21). Auch Jesus „versuchte“ einen seiner Jünger (Joh 6,6). An diesen Beispielen lässt sich zeigen, welchen Sinn oft so eine Versuchung hat. Aber zunächst ist der Befund verwirrend. Gott führt doch in Versuchung? Und wenn ja – warum sollen wir dann darum beten, dass er es nicht tut?

1.3 Zusammenwirken mehrerer Faktoren

Eine erste „Auflösung“ ergibt sich durch den vielleicht wichtigsten Versuchungsbericht, die Versuchung von Jesus. Hier kann man exakt beobachten: Ja, es ist der Teufel, der Versucher, der Jesus verleiten will. Aber es ist Gottes Geist, der Jesus in diese Situation hineinführt. Insofern gilt beides: Gott versucht niemanden und er führt in die Versuchung. Gott lässt Versuchungen zu – und mehr noch, er legt es in Einzelfällen geradezu darauf an.
Versuchungen können also ein Doppelgesicht haben. Der Teufel wirkt ein und Gott ebenso. Dieses Doppelgesicht kann sich auch noch anders darstellen: Eine Versuchung erscheint einerseits allein durch eine bestimmte Konstellation verursacht, durch eine menschengemachte Situation. Damit könnte man sie schon hinreichend erklären. Andererseits kann man aber in derselben Situation auf Gottes Wirken erkennen bzw. bekennen, der das alles so herbeigeführt hat. Ein wichtiges biblisches Beispiel dafür ist die Volkszählung von König David, die zweifellos nicht Gottes Willen entsprach. Der Bericht in 2Sam 24,1 sagt eindeutig: Gott verleitete David dazu! (Allerdings nicht so, dass David keinen Ausweg gehabt hätte – er wird durchaus gewarnt, 2Sam 24,3, doch David hört nicht darauf. Es liegt also keine Zwangsläufigkeit vor.) Dasselbe Geschehen wird im Parallelbericht (1Chr 21,1) anders geschildert – wobei es hier auf die richtige Übersetzung und das exakte Verständnis ankommt: „Ein Feind“, ein „Widersacher“ stellte sich gegen David und verleitete ihn dazu, Israel zu zählen. Man muss sich das ungefähr so vorstellen, dass ein übermächtiger Gegner auftrat und David nun genau wissen wollte, welche militärische Stärke er selbst denn hatte. Das war nicht gut, denn dadurch wurde er verleitet, auf sich selbst statt auf Gott zu vertrauen.
Nun sagen die meisten Bibelübersetzungen an dieser Stelle: „Der Satan stellte sich gegen Israel und verleitete David“. Daraus hat man gefolgert, dass das 1. Chronikbuch eine Korrektur aus dem Bericht im 2. Samuelbuch anbringen wollte – es war eben doch nicht Gott, der David versuchte (ein offenbar anstößiger Gedanke), sondern der Teufel. Aber diese Übersetzung ist nicht korrekt, denn im Grundtext steht – anders als bei allen anderen Erwähnungen des Satans – kein Artikel. Es heißt also nicht „Der Satan“ (das Wort bedeutet „Widersacher“), sondern ein Widersacher. (So übersetzen sachgemäß die Neue evangelistische Übersetzung / bibel.heute, die Bibel in gerechter Sprache und die Neues Leben Bibel in den Ausgaben seit 2017.) Die Stelle kommt als Beleg, der Satan führe in Versuchung, nicht in Betracht!
Das Doppelgesicht der Versuchung ist also hier dieses: Einerseits passiert mir etwas (ein „Widersacher“ kommt) und ich muss darauf reagieren und mich in meiner Reaktion vor Gott bewähren – und andererseits war Gott es, der mir diese Situation vor die Füße geworfen hat. Um mich aber darin zu bewähren, ist der Tiefenblick, dass Gott dahintersteckt, nicht nötig. Allein das, womit ich konfrontiert bin, und das, was ich über Gottes Willen und über seine Verheißungen weiß, genügt, um eine richtige (oder eben falsche) Entscheidung zu treffen.
Eine vergleichbare Situation ist die Versuchung von Hiskia – Weiteres dazu siehe unten unter Punkt 3.3.

1.4 Und was meinte nun Jakobus?

Was würde Jakobus zu der Sache mit David sagen? Ist Jakobus widerlegt, weil Gott doch in Versuchung führt? Hier ist zunächst ein Blick auf das Wort „Versuchung“ nötig.

1.4.1 „Peirasmós“

Das griechische Wort für Versuchung, „peirasmós“, hat (dummerweise) zwei Aspekte, die sich im Wort selbst nicht unterscheiden lassen. Es bedeutet einmal: zum Bösen verleiten, aufs Glatteis führen, eine Falle stellen. So wird es z. B. verwendet, wenn beschrieben wird, wie die Pharisäer Jesus auflauern und ihm im übertragenen Sinne ein Bein stellen wollen. Zum anderen heißt es: versuchen, erproben, testen, eine Reaktion provozieren. So verwendet es z. B. das Johannesevangelium, um zu beschreiben, wie Jesus seinen Jünger Philippus auf die Probe stellte (6,6). Leider hat das neutestamentliche Griechisch hier keine differenzierte Begrifflichkeit. Um zu erfassen, was gemeint ist, kommt es also jeweils auf den Kontext an.

1.4.2 Der Zusammenhang bei Jakobus

Jakobus 1 spricht in der Tat auf verschiedene Weise von der Versuchung. Sie kann letztlich etwas Gutes sein (Vers 12), und wer versucht wird, kann sich glücklich schätzen. Denn er hat die Chance, jetzt standzuhalten (also durchaus nicht aus der Situation wegzulaufen) und sich dadurch zu bewähren. Am Ende steht er stärker da als zuvor. So sieht es auch 1Petr 1,6-7. Nennen wir dies versuchsweise Typ I der Versuchung.
In Jak 1,13-15 klingt alles dann ganz anders. Versuchung ist negativ, sie hängt mit den inneren Begierden zusammen und hat das Ziel, Sünde hervorzurufen und so in den Tod zu führen (Typ II). All das hat nichts mit Gott zu tun, denn dieser kann nicht vom Bösen versucht werden und tut das daher auch mit andern nicht. Interessant ist hier der Zusatz „vom Bösen“ in Vers 13: Er ist offenbar nötig, um eindeutig zu signalisieren, dass jetzt eben die negativen Seite des  peirasmós gemeint ist. Das Wort peirasmós an sich, in seiner Bedeutungsbreite, hätte dies noch nicht klar angezeigt.
Nach Franz Schnider ist also „Jak 1,13-15 gedanklich klar von 1,2-4.12 zu trennen, Dort geht es um Prüfungen, die den Menschen ohne sein eigenes Zutun treffen, Hier geht es um die Verantwortlichkeit des Menschen bezüglich seines eigenen Tuns.“ Schnider verweist auf Martin Dibelius, der unterscheidet: In „1,2-4.12 handelt es sich um Prüfungen, die von außen auf die Menschen zukommen, in 1,13-15 um Prüfungen, die vom Menschen selbst stammen.“ – „Nach S. Laws spielt Jak[obus] bewusst mit den beiden Bedeutungen ‚prüfen‘ bzw. ‚versuchen‘.“ (Der Jakobusbrief, übersetzt und erklärt von Franz Schnider, Regensburg 1987, S. 39-40)
Auch Jakobus lässt also die Möglichkeit offen, dass Glaubende in Versuchung kommen und dass ihnen das zum Segen werden kann. Für diese Variante der Versuchung sagt er nicht, dass sie von Gott kommt, aber sachlich schließt er es auch nicht unbedingt aus. Die Art, wie Jakobus sich ausdrückt, ist freilich knapp, gedrängt und daher auf verschiedene Weise zu deuten. Die oben skizzierte Deutung ist vielleicht die wahrscheinlichste.

2. Versuchung als Provokation, als Herausforderung

Ich möchte von einer ungewöhnlichen Versuchungsgeschichte ausgehen und von daher eine (Teil-)Deutung der Versuchung durch Gott vorschlagen.
Wie schon angedeutet, stellte Jesus einmal einen seiner Jünger auf die Probe. Am Ostufer des Sees Genezareth sind sie von einer Tausende Menschen starken Menge umgeben. Jesus fragt Philippus, wo man denn Brot für diese alle kaufen könnte. Dass er gerade diesen Jünger fragt, kann schlicht daran liegen, dass Philippus aus Betsaida, also aus der Gegend, kam. Aber das Johannesevangelium fügt noch eine Deutung an: „Er sagte das aber nur, um ihn auf die Probe zu stellen, denn er wusste schon, was er tun wollte“ (Joh 6,6). Jesus stellt also bewusst eine falsche Frage, legt vor dem Jünger eine falsche Fährte aus. Und will dann sehen, ob Philippus ihr folgt oder die Frage als falsche Frage erkennt. In seiner Antwort wechselt Philippus schon ein wenig die Ebene, er sucht nicht nach einem ausreichend bestückten Bäcker, sondern nach dem nötigen Geld, das sie dafür ja nicht haben. Danach kommt Andreas und zeigt auf einen Jungen, der ein paar Brote und Fische hat. Daran knüpft Jesus dann an – nicht an die Antwort von Philippus.
Diese Probe hat der Jünger also nicht bestanden – er ist durchgefallen. Aber bemerkenswert: Das macht überhaupt nichts! Jesus kritisiert ihn mit keiner Silbe, er zeigt ihm – und allen – einfach, was er vorhat. Philippus hat seine Lektion sicher gelernt, aber er steht nicht als Versager da. In dieser Situation ist es nicht schlimm, eine Probe Gottes nicht zu bestehen.
Wie hätte Philippus sich denn bewähren können? Die Situation war ja wirklich nach menschlichem Ermessen ausweglos. Nun, er hätte vielleicht an das denken können, was Jesus bisher gesagt und getan hat. Er hätte an die Vaterunserbitte um das tägliche Brot anknüpfen können und diese Möglichkeit ins Gespräch bringen können. Oder er hätte sich an das Wein-Wunder von Kana erinnern können und von daher Jesus auf dessen Möglichkeiten ansprechen können.
Oder aber – vielleicht die allerbeste Reaktion – er hätte einfach eine Rückfrage stellen können: „Keine Ahnung, Jesus – was hast du denn jetzt vor?“ Daraus hätte sich sicherlich etwas Gutes ergeben. Wie auch immer – auch ohne diese möglichen Reaktionen von Philippus hat sich ja etwas Gutes daraus ergeben!
Ich habe den Eindruck, diese Szene zeigt etwas vom Wesen der Versuchung – sofern es nicht schlicht die negative Versuchung zum Bösen, das Verleitetwerden zur Sünde ist (Typ II): Ich bin mit einer bestimmten Situation konfrontiert. Vielleicht ahne ich, dass sie von Gott arrangiert ist, vielleicht auch nicht. Jedenfalls muss ich reagieren. Und kann dabei auf meine eigenen Möglichkeiten setzen oder auf die Gottes. Die Versuchung, vor der ich stehe, ist eine Provokation, eine „challenge“. Gott will mal herausfinden, wie ich reagiere. Oder besser – er weiß wohl schon, wie ich reagieren könnte oder werde, aber ich selbst werde mir darüber klar, wie ich reagiert habe. Und für diese Reaktion gibt es vielleicht nicht nur die eine einzige richtige Möglichkeit. Wenn ich sonst gar nichts Besseres weiß, kann ich den Ball immer noch an Gott zurückspielen und fragen: „Gott, was hast du denn jetzt vor? Welches sind die Verheißungen, die mir jetzt gelten und von denen ich ausgehen soll?“
Dieses Verständnis von Versuchung ist vielleicht auch ein Schlüssel für die andere große Versuchungsgeschichte, die von Abraham in 1. Mose 22. Die Situation wird ja ganz klar so gedeutet, dass Gott Abraham auf die Probe stellte. Abraham hat sie auf seine Weise bestanden, und dafür wird er im Rest der Bibel mehrfach gelobt. Abraham zeigt Glauben. Und doch ist das Verhalten Gottes hier ja rätselhaft! Noch nie hat Gott ein Kinderopfer verlangt, im Gegenteil, das ist ihm ein Gräuel! Und selbst wenn Gott hier die einzige Ausnahme machte – darf man sich in dieser Geschichte denn wirklich nur auf die Beziehung von Gott und Abraham konzentrieren? Was ist mit Isaak? Wussten die Menschen im Alten Orient wirklich nichts vor seelischen Traumata? Auch wenn diese Dimension nicht im biblischen Bericht erwähnt wird?
Vielleicht hätte Abraham diese Probe auch auf andere Weise bestehen können: indem er sich provozieren ließ und Gott in ein Gespräch verwickelt hätte (das war in 1. Mose 18 ja auch der richtige Weg gewesen, den Gott anerkannte!). Wäre die Frage „Gott, was soll das, Gott, was willst du jetzt wirklich?“ nicht auch eine angemessene Reaktion gewesen – wenn sie in Demut und Glauben gestellt worden wäre? Vermutlich kann in einer separaten exegetische Studie gezeigt werden, dass Gott nach dem hebräischen Wortlaut seinen Auftrag in Vers 2 in einer solchen Form stellte, dass es eine Einladung zum Gespräch war, eine Provokation, die zu einer Gegenrede oder zumindest Rückfrage herausfordern konnte.

3. Ziele der Versuchung

Wenn wir von der „positiven“ Versuchung sprechen, von der, die Jakobus 1,12 meint und die dort selig gepriesen wird (Typ I) – welche Absichten hat Gott, wenn er jemanden so auf die Probe stellt?

3.1 Bewährung

Zunächst kann man sich in der Probe bewähren, wie Jak 1,12 sagt und wie Philippus es hätte erfahren können und wie Abraham es erfahren hat. 1. Petrus 1,6-7 bestätigt das. Auch im Alten Testament haben mehrere Proben bzw. Versuchungen dieses Ziel. Gott gab seinem Volk Gebote, bewusst als Probe, damit es diesen Geboten folgt (2Mo 15,25-26). Ein spezielles Gebot war die Anweisung, bei der wunderhaften Versorgung durch Manna nur für den einen Tag Vorrat zu sammeln, nicht mehr. So wollte Gott prüfen, ob das Volk sich daran hält oder nicht (2Mo 16,4). Dasselbe Ziel hat die Entscheidung Gottes, nach der Landnahme in Kanaan diejenigen Völker dort zu belassen, die Josua zu seinen eigenen Lebzeiten nicht vertreiben konnte: „um die Israeliten auf die Probe zu stellen, ob sie wie ihre Vorfahren auf meinem Weg bleiben oder nicht“ (Ri 2,22; vgl. ebenso 3,1.4).
So eine Probe kann gut oder schlecht ausgehen – es gibt immer die Möglichkeit, daran zu scheitern. Deshalb wird man wohl sagen müssen: Wenn diese Probe von Gott kommt, kann sie nichts Schlechtes sein (so würde Jakobus es bestätigen, 1,17). Aber diese Gabe Gottes ist „gefährlich“, weil sie den Menschen in die Verantwortung stellt und er daran scheitern kann (so war es ja schon im allerersten Anfang, als Gott dem Menschen im Garten Entscheidungsfreiheit gab). Von daher gewinnt die Vaterunserbitte guten Sinn, dass wir doch nicht (zu oft oder zu schwer) in Versuchung geführt werden mögen.

3.2 Gottesfurcht

Wenn Gott mit seinen Geschöpfen redet, ist das immer Gnade. Aber es kann auch schrecklich sein. Die Gottesoffenbarung am Sinai, als Mose die Zehn Gebote empfing, war – auch – eine Probe: Gott zeigte sich furchterregend, damit sein Volk ihn fürchtet und nicht sündigt (2Mo 20,18-20).
Falls das keine einmalige, unwiederholbare Situation war, könnte es also Momente geben, wo Gott uns mit etwas Gewaltigem konfrontiert und uns so klar machen will, wer er ist und wer wir vor ihm sind und was wir deshalb tun und was wir lassen sollen. Das ist dann keine Einschüchterung, sondern wir bekommen unsere Grenzen aufgezeigt – und es ist für den Menschen ja heilsam, seine Grenzen nicht zu überschreiten; es entsteht oft Unglück, wenn er es tut.

3.3 Klarheit darüber, was im eigenen Herzen ist

Ein oft genanntes Ziel der Versuchung ist, dass sie uns aufzeigen soll, was in unserem Herzen ist. Unter dieser Zielsetzung haben auch Proben, die wir nicht bestehen, noch ihr Gutes: Sie lassen uns ernüchternd erkennen, wie es um uns steht.
Dieses Ziel hatte z. B. der 40 Jahre dauernde Weg Israels durch die Wüste (5Mo 8,2): „Er wollte deine Gesinnung erkennen und sehen, ob du seine Gebote halten würdest oder nicht.“ Eine ebenso gelagerte Geschichte ist die von Hiskia. Er war ein in vielerlei Hinsicht gesegneter König, der Gott vertraute. Nach vielen Erfahrungen mit Gott kam einmal eine Gesandtschaft aus Babylon zu ihm; der äußere Anlass war ein Wunder Gottes an Hiskia, das bekannt geworden war. Aber solche Gesandtschaften hatten immer auch eine politische Bedeutung. Wenn Hiskia ihnen all seine Waffen und Schätze zeigte, dann war das wohl der Beginn von Koalitionsverhandlungen. Dies war nicht in Gottes Sinne (vgl. 2Kön 20,12-19). Die Strafe, die Gott dafür ankündigt, bezog sich auf die Generationen nach Hiskia – was diesen zu der Bemerkung veranlasste: Dann ist ja noch alles gut, wenn zu meinen Lebzeiten Friede und Sicherheit herrschen. Nicht unbedingt eine charakterstarke Reaktion. Im 2. Chronikbuch wird das Geschehen so gedeutet, dass Gott Hiskia sich selbst überließ („allein ließ“), „um ihn auf die Probe zu stellen, damit er alles erkannte, was in seinem Herzen war“ (2Chr 32,31). Das zugrundeliegende hebräische Verb nasah ist dasselbe wie an den bisher betrachteten Stellen. Die Versuchung hat also hier das Ziel, eine ernüchternde Selbsterkenntnis herbeizuführen – der Moment der Wahrheit ist gekommen.
Übrigens zeigt diese Episode noch einmal etwas über die Quelle der Versuchung. Ja, Gott hat sie zugelassen oder sogar herbeigeführt, aber auf dem Wege, dass er sich zurückgezogen und den Menschen sich selbst überlassen hat. Die eigentliche Versuchung, nämlich das Bestreben, sich auf eigenes Vermögen zu verlassen, kam dann aus dem Herzen des Menschen – ganz so wie es Jakobus betont.

3.4 Ein gutes Ende

Wenn die Versuchung von Gott kommt, kann sie nichts Schlechtes sein – diese Einsicht spiegelt sich auch in einer weiteren Zielbestimmung der Erprobung wider. Die Gabe des Manna wird als nicht nur als Bewährungsprobe gedeutet (s.o., 3.1), sondern Gott schenkte sie auch, „um dich demütig zu machen und auf die Probe zu stellen und um dir am Ende Gutes zu tun“ (5Mo 8,16). Auch das gehört zum Gesamtbild: Egal wie die Probe ausgeht, Gott möchte es zu guter Letzt überbieten und seinen Leuten Gutes tun.

4. Die Mittel der Versuchung

Es sind verschiedene Wege, die Gott wählt, um seine Leute auf die Probe zu stellen.

4.1 Widerstände

Widrige Umstände, Hindernisse, Gegner können zur Versuchung werden. So ist es bei den Christen, an die sich der 1. Petrusbrief richtet (4,12), so ist es bei Israel, das 40 Jahre durch die Wüste musste, so ist es bei David, dem ein Widersacher gegenübertrat. Die Versuchung besteht darin, entweder sich den Widerständen zu unterwerfen und sich von ihnen aus der Bahn bringen zu lassen, oder sich dagegen zu wappnen, aber aus eigener Kraft, ohne das Vertrauen auf Gott.
Bibelkenner werden hier auch gleich an Hiob denken, der ja schlimmsten Widerständen ausgesetzt war. Und das sollte – der sogenannten Rahmenerzählung zufolge – dazu dienen, herauszustellen, dass Hiob sich nicht von Gott lossagen würde. Nach dem bisher Gesehenen müsste das also eine typische Prüfungs- bzw. Versuchungssituation sein. Aber bezeichnenderweise wird Hiobs Geschick in der Rahmenerzählung nicht als Versuchung gedeutet. Die hebräischen Wörter nasah und bachan kommen hier nicht vor. Hiob gebraucht sie später in seinen Klagen und auch Elihu in seiner Rede, aber beide sind ja im Hiobbuch keine Vertreter einer zutreffenden theologischen Deutung des Geschehens. Diese Beobachtung kann Anlass sein, auch heute mit Sinndeutungen behutsam zu sein: Nicht alle Widerstände, die uns herausfordern und an denen wir uns zu bewähren haben, sind eine Versuchung im Sinne der biblischen Redeweise.

4.2 Handlungsmöglichkeiten

Die Freiheit zum Handeln ist normalerweise etwas Gutes und gehört zur mit der Schöpfung gegebenen Würde des Menschen. Aber dadurch ergibt sich eben auch die Freiheit zu falschen Wegen. Jesus wurden in der Wüste großartige Handlungsmöglichkeiten in Aussicht gestellt. Hiskia hatte die Möglichkeit, sich mit den Babyloniern zu verbünden. Die Israeliten konnten aus der Fülle des Manna so viel nehmen, wie sie tragen konnten – bloß dass es nichts nützte, weil es am folgenden Tag vergammelt war (2Mo 16,17-21). David konnte planen, dem Widersacher mit seiner kompletten Heeresmacht zu begegnen.
Also nicht nur Grenzen, sondern auch Freiheit, Fähigkeiten und Kompetenz können zur Probe werden, und an unserer Reaktion zeigt sich, ob wir uns dabei bewähren.

4.3 Gottes Gebote

Zwar haben wir oft das Bedürfnis, Gottes Willen für unser Leben zu erkennen. Aber wenn Gott uns Weisung gibt, kann damit auch die Versuchung gekommen sein: Wollten wir denn wirklich seinen Willen erfahren? Oder suchten wir vielleicht nur eine Erleichterung bei einer schwierigen Entscheidung? In Mara erlebte Israel ein Versorgungswunder Gottes (1Mo 15,22-25). Und dann macht Gott mit einer eigentümlichen Gabe weiter: „Dort legte Gott Vorschriften und Recht für das Volk fest und stellte es auf die Probe.“ Es kam nun darauf an zu sehen, ob Gottes Volk diese Vorschriften wirklich einhalten wollte.
Wenn man diese Situation auf uns Christen und unsere Bibel übertragen darf, dann haben wir genug Anlass darüber nachzudenken, ob und wann uns unser Reichtum an Bibel – sie ist uns in der westlichen Welt stets verfügbar, wie haben eine Fülle an Übersetzungen und Erklärungen, wir „schwimmen“ ganz positiv in guter Theologie – zur Versuchung wird. Etwa dann, wenn die Bibel uns nur zur Beruhigung oder falschen Vergewisserung oder frommen Unterhaltung wird.

5. Versucht – durch eigenes Verschulden?

Wenn Gott jemanden auf die Probe stellt, wann tut er das? Aus heiterem Himmel? Oder ist es eine Konsequenz aus einer vorausgegangenen Untreue des Menschen?
Für beide Möglichkeiten gibt es biblische Beispiele. Manchmal hat die Versuchung eine Vorgeschichte aufseiten des Menschen. In Mara hatte das Volk vor der Versuchung gegen Gott gemurrt (2Mo 15,22-25). Ebenso war es bei der Versorgung mit Manna (2Mo 16,2-3). In 5Mo 13,2-4 geht der Versuchung voraus, dass ein falscher Prophet auftritt. Nach dem ersten Anlauf der Landnahme belässt Gott fremde Völker im Land, weil Israel ständig den Bund gebrochen hat (Ri 2,20-23). In diese Fällen könnte man sagen: Dass Gott seine Leute „in Versuchung“ führt, ist die Quittung dafür, dass sie ihn zuvor nicht ernst genug genommen haben. Dies ist auch die Meinung von Elihu gegenüber Hiob (Hi 34,35-37).
Diese Deutung greift aber längst nicht bei allen biblischen Versuchungssituationen. Beim Gottes Volk am Sinai (2Mo 20), bei den verfolgten frühen Christen (1Petr 1,6-7; 4,12) und bei Philippus am See Genezareth (Joh 6,6) kam die Erprobung „einfach so“ – vielleicht auch bei Abraham in 1Mo 22, falls man ihm nicht seine „Selbsthilfeversuche“ auf dem Weg zum verheißenen Sohn ankreiden will.
Es bleibt dabei: Wenn Gott jemanden auf die Probe stellt, ist das oft wirklich ein Handeln oder Zulassen Gottes, das seiner Überlegung entspringt und nach dem man ihn fragen und nicht einen Menschen zur Verantwortung ziehen würde.

6. Und wie beten wir nun die Vaterunserbitte?

Nach all dem Gesagten ist es nicht einfacher geworden, zu beten: „Und führe uns nicht in Versuchung.“ Wenn Gott es im Laufe der biblischen Geschichte doch immer wieder tat, sollte man dann nicht besser beten: „Und führe uns in der Versuchung?“

6.1 Verschiedene Arten von Gebet in der Bibel

Einzelne Psalmbeter gingen sogar noch weiter und baten ausdrücklich darum, von Gott erprobt zu werden (Ps 7,9-10; 139,23). Dort wird meist das etwas „schwächere“ Verb bachan verwendet, das so etwas wie eine Diagnose meint – wie wenn man ein Edelmetall auf Reinheit testet. Aber in Psalm 26,2 wird die Bitte um Erprobung mit dem „stärkeren“ Verb nasah ausgesprochen, das eben an den bis hierher untersuchten Stellen „Versuchung“ bedeutet. In Psalm 26 geht das damit einher, dass der Beter fest von seiner eigenen Gerechtigkeit überzeugt ist. Wer durch die Schule von Römer 1–7 gegangen ist oder auch die von Jesaja 65 oder Jeremia 17,9-10, wird einen Psalm wie den 26. nicht mehr so zuversichtlich beten können. Andere Gebete lauten denn auch anders und sind näher am Vaterunser, z. B. Psalm 143,2: „Geh nicht ins Gericht mit deinem Knecht, denn vor dir kann kein Lebendiger bestehen!“
Warum also sollen wir bitten, dass Gott uns nicht in Versuchung führt? Warum sollen wir es bitten, auch wenn wir – angesichts des gesamtbiblischen Bildes – vielleicht damit rechnen müssen, dass er es doch tut (oder sein Geist uns quasi in die Wüste der Versuchung schickt, sodass wir dem Versucher gegenübertreten)?
Zunächst: Jesus wusste, wovon er sprach, er hatte es in der Wüste 40 Tage lang erlebt. Er wusste, wie schwer es ist, standzuhalten. Die Vaterunserbitte zielt vielleicht darauf, dass wir nicht allen möglichen schwierigen Bewährungsproben ausgesetzt werden. Vielleicht dürfen wir bitten, dass „der Kelch an uns vorübergeht“ und Gott Rücksicht auf unsere Schwäche nimmt, Ebenso hat Jesus es ja – als er selbst um Verschonung vor dem Kelch bat – seinen Jüngern aufgetragen: „Seid wachsam und betet, dass ihr nicht in Versuchung kommt! Der Geist ist willig, aber der Körper ist schwach.“ (Mk 14,38). Wir sind meist schwächer als Jesus; deshalb ist uns die Vaterunserbitte wohl angeraten.

6.2 Der Zusammenhang mit der folgenden Vaterunserbitte

Was Jesus in der Wüste erlebte, war ja die „zweite“, die negative Variante des peirasmós, diejenige, die aufs Glatteis führt und von der Jakobus sagt, dass sie Sünde hervorbringt und in den Tod führt. Gegen diese Art von Versuchung – auch wenn nicht Gott es ist, der uns so versucht – dürfen und sollen wir auf jeden Fall beten. Für diese Auffassung der Vaterunserbitte spricht auch ihr unmittelbarer Zusammenhang: „Führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen.“ Die Versuchung, die Jesus hier meint, muss also mit dem Bösen zusammengesehen werden. Dieses „Böse“ ist bei Jakobus ja benannt: die eigene Begierde, welche die Sünde hervorbringt, die wiederum den Tod gebiert (1,14-15). Bewähren wir uns nicht an dieser Versuchung, kommt eben doch das „Böse“ zum Tragen, von dem Jakobus 1,14 spricht. Die Sicht von Jakobus stimmt genau mit dem „Menschenbild“ von Jesus überein: Dieses Böse kommt nicht von außen, sondern wohnt in unserem eigenen Herzen (Mt 15,19). Hier überschneiden sich die beiden Bedeutungsebenen von peirasmós, wie sie in Abschnitt 1.4.1 unterschieden wurden. Jesus erlebte in der Wüste, dass der Versucher von außen auf ihn zukam (Typ I), aber wenn Jesus der Versuchung nachgegeben hätten, dann deshalb, weil diese Verlockung in ihm, in seinem Herzen, „gezündet“ hätte (Typ II). „Führe uns nicht in Versuchung“ bedeutet also: Erlöse uns vom Zündstoff in unserem Herzen.

6.3 Realismus angesichts der Bedrohung

Versuchungen sind gefährlich, auch solche, die unsere Treue erproben und an denen wir uns theoretisch bewähren könnten (also die Art, die Jakobus in 1,12 nennt, Typ I). Aus einer Niederlage in solch einer Versuchung kann großes Unheil entstehen, nicht nur für den Gescheiterten selbst, sondern auch für seine Umgebung, wie die tragische Geschichte von David in 2. Samuel 24 zeigt. Die Bitte, dass Gott uns nicht in so etwas hineinführt, wäre also zutiefst realistisch, weil sie der großen Gefahr Rechnung trägt.

6.4 Vergleich mit weiteren Vaterunserbitten

„Müssen“ wir also konsequent diese Vaterunserbitte beten? Und wenn wir es (zu oft) versäumen, führt uns Gott dann also doch in eine Versuchung, die uns besser nicht getroffen hätte?
Nun, wie ist es mit den anderen Bitten des Vaterunsers? Wir sollen darum beten, dass Gottes Name geheiligt wird, dass sein Reich kommt, sein Wille geschieht, dass wir vom Bösen erlöst werden. All das deckt sich mit Gottes eigenen Interessen. All das wird Gott sowieso tun, auch wenn wir nicht darum bitten. Gott wird es vielleicht umso lieber tun, wenn auch wir ihn bitten – aber grundsätzlich können wir annehmen, dass Gott mit seinen Absichten zum Ziel kommen will und wird. Dennoch sollen wir für diese Ziele beten. Wir stimmen uns damit ein auf Gottes Ziele. Wir stimmen ihnen zu und machen sie uns zu eigen. Wir beten, dass er mit uns zum Ziel kommt und nicht ohne uns.
Wenn wir in gleicher Weise um Bewahrung vor der Versuchung bitten, identifizieren wir uns mit dem Ziel, nicht untreu zu werden. Wir wollen an der Probe nicht scheitern. Wir wollen das, was uns zur Versuchung werden könnte (z. B. Widerstände, Handlungsmöglichkeiten, Gottes Wort, s.o. Abschnitt 4) nicht auf die leichte Schulter nehmen.
Und wie gesagt: Weil Versuchung selten in chemisch reiner Form ausschließlich von Gott kommt, weil meist ja auch die Versuchlichkeit unseres eigenen Herzens mitspielt, besagt die Vaterunserbitte auch: „Bewahre uns vor uns selbst. Überlass uns nicht uns selbst, so wie du es mit Hiskia machtest, damit wir nicht dann in Versuchung kommen und ihr erliegen.“

6.5 Bewahrung vor und in der Versuchung

Jesus hat an einer anderen Stelle ebenfalls von der Gefährdung seiner Jünger und vom Gebet gesprochen (Lk 22,31-32). Nach dem letzten Abendmahl sagte er, dass der Satan nach den Jüngern, speziell wohl nach Petrus, greifen wolle, um sie zu „durchsieben“ wie Weizen. Hier ist nicht ausdrücklich von einer Versuchung die Rede, aber das verwendete Bild lässt an eine Qualitätsprüfung denken, die je nach Beschaffenheit positiv oder negativ ausgehen kann – der oder das Geprüfte wird sich als tauglich oder untauglich erweisen.
In dieser Situation ist es nötig, dass gebetet wird. Und zwar sollen hier nicht die Jünger beten, sondern Jesus verspricht seine Fürbitte. Es fällt auf, dass das Ziel seines Gebetes anders ist als im Vaterunser; er bittet nicht, dass die Jünger gar nicht erst in so eine Prüfung kommen, sondern dass ihr Glaube in der Prüfung erhalten bleibt. Wenn man das verallgemeinern darf, dann wäre es durchaus sinnvoll, nicht nur zu beten: „Führe uns nicht in Versuchung“, sondern daneben, als Ergänzung, auch: „Bewahre uns in der Versuchung.“
Ähnlich ausgerichtet scheint die andere große Fürbitte von Jesus zu sein, nämlich sein Gebet in Johannes 17. Auch hier ist nicht von Versuchung die Rede, auch hier sagt Jesus aber klar voraus, dass die Jünger in der Welt mit Widerstand zu rechnen haben. Sein Gebet lautet dabei: „Ich bitte dich nicht darum, sie aus der Welt wegzunehmen, aber ich bitte dich, sie vor den Bösen zu bewahren“ (Joh 17,15). Die Zielrichtung dieses Gebetes scheint mir nicht ganz klar definiert zu sein. Man könnte es so verstehen, dass die Jünger in der Welt bleiben und daher auch Versuchungen ausgesetzt sind, aber in diesen Versuchungen mögen sie vor dem Bösen bewahrt werden. Das wäre ein Gebet darum, dass sie der Versuchung standhalten. Es wäre aber auch das Verständnis möglich, dass die Jünger zwar in der Welt sind, aber deren Versuchung sie gar nicht richtig erreicht, weil sie vor dem Bösen bewahrt bleiben. Knapp gesagt, könnte die Bitte von Jesus eine Bewahrung vor der Versuchung oder in der Versuchung meinen. Weil Jesus aber betont, dass der Hass der Welt auf jeden Fall da sein wird (17,14; vgl. auch 16,2), dürfte die Bewahrung in der Versuchung die wahrscheinlichere Möglichkeit sein.
Das Gebet in Johannes 17,15 wäre dann eine weitere Ergänzung zur Vaterunserbitte. Wir als Beter des Vaterunsers können daraus die Freiheit ableiten, beim Thema „Versuchung“ nicht starr am Wortlaut allein des Vaterunsers festzuhalten, sondern zusätzlich auch um Bewahrung in der Versuchung zu beten.

7. Das Evangelium in der Versuchung

Wie wir unterm Strich mit Versuchungen klarkommen, hat vielleicht am besten Paulus ausgedrückt (1Kor 10,12-13). Er hält fest:
        Für Leichtsinn gibt es keinen Anlass. Wer stabil zu stehen meint, sehe zu, dass er nicht hinfällt.
        Dass Versuchungen kommen – egal woher, diese Frage interessiert Paulus hier nicht –, damit muss man rechnen.
        Gott trägt dafür Sorge, dass keine Versuchung kommt, die unsere Widerstandskraft übersteigt.
        Der Grund dafür liegt in Gottes Treue – also in seinem ureigensten Wesen. Es entspricht Gottes eigenen Interessen, uns in der Versuchung zu bewahren.
        Gott schafft uns in jeder Versuchung den Ausweg, sodass wir sie bestehen können. Gott ist also „kreativ tätig“. Selbst wenn wir – auf dem Hintergrund des Alten Testaments – annehmen, dass Gott uns (aktiv) auf die Probe stellt, er ist parallel dazu mindestens ebenso aktiv, nämlich indem er uns einen Ausweg schafft. Das ist der zusätzliche Aspekt, die besondere Botschaft, die Paulus mit seinen Zeilen zum Thema beiträgt.
Wenn wir uns also einer Versuchung gegenübersehen, dann kommt es nicht primär darauf an, zu analysieren, woher sie kommt. Sondern entscheidend ist, den von Gott geschaffenen Ausweg zu erkennen und ihn zu benutzen. Selbst wenn wir aufgrund des gesamtbiblischen Bildes zu der Einsicht kommen, dass Gott uns durchaus einmal „in Versuchung führt“ – Gottes Wort im 1. Korintherbrief sagt uns klar, dass er uns auch wieder herausführen will.

8. Versuchung – ein Deutungsmuster für unser Leben?

Wohl jeder kennt aus seiner Biografie rätselhafte Umstände, also Wendungen und Fügungen, die keinen Sinn zu ergeben scheinen. Die Situationen, in denen man sich fragt: Warum passiert mir das jetzt? Wozu war das gut? Das können geplatzte Hoffnungen sein, Krankheitsphasen, Verletzungen, von denen Gott zugelassen hat, dass man sie uns zufügte, eine unverschuldete finanzielle Krise oder anderes.
Wäre es ein Deutungsmuster, dass man solche Momente auch als „Versuchung“ betrachtet? Ein Deutungsmuster unter mehreren (gleichzeitig) möglichen)? Ich meine damit nicht den fast fatalistischen Satz: „Gott schickt uns Prüfungen“. Und auch nicht die Sichtweise: All das ist Anfechtung von außen – da will mich jemand zu Fall bringen. Ich meine es eher in dem Sinne, dass uns etwas in den Weg gestellt wird, auf das wir reagieren müssen (siehe Abschnitt 2). An unserer Reaktion zeigt sich, wie wir vor Gott aufgestellt sind. Ob wir die Lage mit ihm bewältigen, in Bewegung zu ihm hin, oder nicht. Und wenn es uns gelungen ist, vertrauensvoll zu reagieren – egal ob sich eine Situation dann auflöst oder nicht, egal ob z. B. die geplatzte Hoffnung wiederhergestellt wird oder nicht –, wenn uns eine „gute“ Reaktion also gelungen ist, dann kann eine rätselhafte Lebenslage allein dadurch schon einen Sinn gewonnen haben. Weil sie dazu beitrug, dass wir uns bewähren konnten. Weil sie uns im Nachhinein stärker gemacht hat. Weil wir uns vergewissern konnten, dass wir an Gott festgehalten und unser Vertrauen nicht weggeworfen haben.
Das wird nicht das einzige Deutungsmuster für Lebensrätsel sein können. Und es wird auch nicht für jedes einzelne Lebensrätsel zutreffen. Die Momente, wo Gott in der Bibel seinem Volk oder Einzelnen eine Probe in den Weg stellte, waren ja eher selten – zumindest nach dem Alten Testament. Das erlebt man offenbar nicht alle Tage. Andererseits ist nach dem Jakobus- und dem 1. Petrusbrief die Versuchung doch eine geläufige Erfahrung. Dass z. B. die Adressaten des 1. Petrusbriefs verfolgt wurden, gehörte ja über längere Zeiträume permanent zu ihrem Alltag. Von dieser Beobachtung ausgehend würde man schon mit häufigeren Lebenssituationen rechnen, die wir als „Versuchung“ deuten könnten.
Jedenfalls: Die Selbstverständlichkeit, mit der die Bibel davon spricht, dass Gott die Herzen prüft (z. B. Jer 17,10) und dass er seine Leute versucht, sollte uns fragen lassen: Haben wir hier nicht ein weithin unerschlossenes Feld der Biblischen Theologie und der menschlichen Lebenserfahrung vor uns?
Dem Thema „Versuchung“ nachzudenken, könnte dann durchaus den Ertrag haben, dass im (aktuellen oder rückschauenden) Blick auf das eigene Leben die ein oder andere belastende Fügung eine Sinndeutung bekommt. Und das wäre ein großes Geschenk.