Montag, 14. Juni 2010

Predigt: „Einander abgeben“

Predigt über Apg 20,32
Liebe Gemeinde,
ich habe viele Wegbegleiter. In den letzten acht Jahren hier in Marburg gab es sie, aber natürlich auch solche, die mich schon länger begleiten. Einer dieser ganz langen Wegbegleiter ist die Apostelgeschichte aus der Bibel. Es hat mich nicht überrascht, dass ich hier etwas gefunden habe, das meine Gedanken und Gefühle ausdrückt, wenn ich ans Abschiednehmen denke. Es gibt dort den Bericht über einen Prediger, der Abschied nimmt von denen, die er bisher begleitet hat. Ihre gemeinsame Zeit ist zu Ende gegangen. Der Prediger sucht ein letztes Mal den Kontakt, er spricht zu den Gemeindeverantwortlichen und er macht dabei etwas, das ich sehr passend und wichtig finde: Er gibt die ihm bisher anvertrauten Menschen an Gott ab. Und sie, so nehme ich an, geben ihn auch an Gott ab. Das ist eine sehr tiefe und schöne Form des Abschiednehmens.
Einen Satz aus den Abschiedsworten dieses Predigers – es ist Paulus – möchte ich heute aufgreifen.

Und nun vertraue ich euch Gott und dem Wort seiner Gnade an, das die Kraft hat, aufzubauen und das Erbe in der Gemeinschaft der Geheiligten zu verleihen. Apg 20,32

Paulus hat die Gemeindeältesten aus Ephesus zu sich gerufen. Das war eine Gemeinde, wo er einige Jahre sehr intensiv gelebt und gearbeitet hatte. Er hat viel an Lehre hinterlassen und auch manchen Kampf zusammen mit der Gemeinde für das Evangelium auszufechten gehabt. Nun geht es weiter. Aber wie geht es weiter? Paulus kennt sein nächstes Reiseziel. Wie aber wir es ihm dort ergehen? Und wie geht es mit der Gemeinde Ephesus weiter? Keiner weiß es. Deshalb ist die Art, wie Paulus Abschied nimmt, so passend, so sachgemäß. Er gibt sie an Gott ab. „Und nun vertraue ich euch Gott und dem Wort seiner Gnade an.“ Er kann loslassen, weil Gott weiter festhalten wird. Wenn Christen einander an Gott abgeben, dann gehen sie also nicht einfach auseinander. Sie lassen den jeweils anderen nicht einfach los und der wäre dann mit sich selbst allein. Christen wissen, wohin sie einander abgeben und in wessen Namen sie einander verabschieden und sie wissen auch, wer darüber wacht, was der gemeinsame Weg an Ertrag gebracht haben mag.
Ich möchte diesen Abschiedssatz von Paulus noch etwas genauer mit euch anschauen und möchte auf vier Dinge aufmerksam machen.

1. Gottes Wort hat bleibende Kraft
„Ich vertraue euch Gott an und dem Wort seiner Gnade, das die Kraft hat.“ Gott ist mächtig und auch Gottes Wort steckt voller Kraft. Gottes Wort ist ganz nah an Gott selber. Gott ist größer als sein Wort. Der unendlich mächtige und grenzenlos liebende Gott spricht nicht alle seine Geheimnisse aus. Er ist größer und passt schon gar nicht zwischen zwei Buchdeckel. Aber dennoch ist sein Wort – das, was er sagt – ganz nahe an seinem Wesen dran. Er hat viel Herzblut in sein Wort gelegt. Gott und sein Wort stehen sogar so nahe zusammen, dass man gar nicht genau weiß, wie man den Satz von Paulus richtig verstehen soll. Entweder meint Paulus: Gott hat die Kraft, euch aufzubauen. Oder er will sagen: Gottes Wort hat die Kraft, euch aufzubauen. Ja wer denn nun – Gott oder sein Wort? Es hat vielleicht seinen tieferen Sinn, dass man den Satz auf beiderlei Weise übersetzen kann. Gottes Wort nimmt Teil an Gottes Kraft! Gott handelt oft gerade durch sein Wort. Gott schafft Neues, indem er spricht. Gottes Wort nimmt Teil an Gottes Kraft.

Wir haben also allen Anlass, uns viel von Gottes Wort zu versprechen. Denn das ist ja die bleibende Kraft, wenn Wege auseinandergehen. Paulus macht es später noch konkreter. Er sagt, er habe sein Leben geführt „in der Erinnerung an die Worte Jesu“. Das gibt er nun auch seiner Gemeinde mit. Erinnert euch an die Worte von Jesus. Geht damit um, was Jesus gesagt hat. Wir finden das in der Bibel. Also steckt zwischen diesen zwei Buchdeckeln doch sehr viel Energie! Wann immer ihr zusammen seid und euch mit wichtigen Fragern befasst:“Wie soll ich mich entscheiden, wenn ich auf meine Kinder reagieren muss? Wie teile ich mir mein Geld ein? Wie komme ich klar, wenn Sorgen mich überfluten?“ – wann immer ihr zusammen seid und euch mit solchen Fragen befasst: Bringt Gottes Wort ins Gespräch! Erinnert euch daran, was Jesus gesagt hat. Hat er denn nicht auch dazu etwas gesagt? Hm, was hat er denn gesagt? Mal nachlesen. Mal suchen und entdecken, wie seine Worte in meine Frage passen. Erinnert euch und kramt nach, was er denn wirklich gesagt hat. Mein Tipp dabei wäre: Verlasst euch dabei nicht zu sehr auf die Erinnerung, nicht zu sehr aufs Gedächtnis. Denn in der Erinnerung verändert sich mit der Zeit viel, auch die Worte Jesu. Besser ist nachlesen. Denn in der Bibel steht Gottes Wort und das ist voller Kraft.
Vor ca. 20 Jahren hat der Bibelausleger Adolf Pohl einen Ausdruck geprägt, der seitdem immer wieder zitiert wurde. Er sprach von einer „mutwilligem Bibelunkenntnis“. Damit meinte er nicht die Gesellschaft, sondern unsere Gemeinden! Im Laufe der 20 Jahre seitdem ist die Sache sicher nicht besser geworden. Liebe Gemeinde, meine dringende Bitte ist: Unterschätzt die Bibel nicht! Geratet nicht in die Versuchung zu meinen: „Das haben wir doch schon tausendmal gehört und wir wissen ja ungefähr, was drinsteht. Gehen wir lieber den nächsten Schritt, der Worte sind genug gewechselt, jetzt wollten wir Taten sehen.“ Nein, ungefähr ahnen, was in der Bibel drinsteht, reicht oft nicht. Unser Gedächtnis spielt uns oft einen Streich. Bitte lest wieder und wieder nach – und dann bringt die Bibel ins Gespräch. Scheut euch nicht zu fragen: Was hat Jesus denn zu unserem heutigen Mittagstisch-Thema gesagt?
Paulus vertraut seine Gemeindemitarbeiter Gottes Wort an, an Gottes Wort gibt er sie ab. Warum? Weil darin Kraft liegt.

Paulus gibt uns noch eine genauere Beschreibung, wie er Gottes Wort sieht. Was er darin zu finden erwartet.

2. Das Wort der Gnade
Wenn Gott redet, dann spricht er Erbarmen aus. Gottes Wort ist das Wort der Gnade. Der Begnadigung. Barmherzigkeit. Compassion.

Worte der Gnade höre ich manchmal auch, z. B. wenn ich nach Hause komme. „Schön, dass du da bist.“ Oder: „Wie war dein Tag?“ Das ist eigentlich der Normalfall. Ich höre aber beim Nachhausekommen nicht immer Worte der Gnade. Manchmal kommt als erstes die Nachricht: Die Waschmaschine ist ausgelaufen. Oder: Bring mal gleich die Einkäufe mit rein. Oder ich platze in ein Wortgefecht, das gerade stattfindet. Oder ich höre – und zwar zu Recht und weil ich’s mal wieder vergeigt habe: „Na, wo bleibst du denn? Du wolltest doch eher da sein.“ Meine Leute zu Hause sind weit entfernt davon, unbarmherzig zu sein. Ich weiß fest, wie lieb sie mich haben, aber wie das Leben so spielt, ist nicht jedes Mal die Zeit für Worte der Gnade ...
Bei Gott muss niemand erst mal schnuppern, wie grad die Stimmung ist. Wenn Gott uns anspricht, dann zuverlässig aus tiefer Barmherzigkeit.

Und alles, was wir als Christen einzeln und miteinander erleben und zu gestalten versuchen, ist doch eine Verbindung mit Gottes Erbarmen. Wenn wir einen Kranken besuchen, möchten wir ihn in Kontakt mit Gottes Barmherzigkeit bringen. Wenn wir einander Fahrdienste geben, einer holt den anderen ab, dann passiert das, um Gottes Barmherzigkeit weiterzugeben. Wenn wir für jemanden beten oder wenn wir Gottes Wort ausgelegt bekommen oder was auch immer noch in unserem Gemeindeleben stattfindet – eigentlich hat jede Regung das Ziel: Gottes Gnade soll sich entfalten. Wir als Gemeinde leben in dieser Stadt, um für das Evangelium zu stehen – für Gottes Barmherzigkeit. Gemeinde ist der Umschlaghafen für Gottes Gnade.
Wenn wir aber dazu da sind, Gottes Wort weiterzugeben, das Wort der Gnade, dann können wir das ja nur auf eine Weise tun, die selbst von Gnade geprägt ist. Gottes Güte nach außen tragen geht nur, wenn wir auch innen miteinander gütig sind. Der Lungenchirurg ist unglaubwürdig, der selbst 30 Zigaretten am Tag raucht. Es taugt keiner zum Eheberater, der selbst nach Feierabend heimlich ins Pornokino geht statt nach Hause zur Frau. Genauso absurd wäre es, wenn wir als Gemeinde von Gottes Gnade reden wollen, aber dabei unbarmherzig miteinander sind.

Wenn Gott redet, atmet das Erbarmen. Ebenso soll es unter uns sein. Unser Umgang soll Erbarmen atmen – sonst haben wir mit dem Evangelium nicht mehr viel zu tun.
Gibt es denn wirklich unverzeihliche Fehler unter uns? Sollte bei uns etwas unverzeihlich sein, wenn Gott uns doch vergeben hat und noch und noch vergibt?
Bei Kindern können wir manchmal beobachten, wie sie niesen müssen und das strahlend einem direkt ins Gesicht tun. (Bei Erwachsenen kann das auch vorkommen, aber seltener ...) Wir rennen dann schreiend weg – Krankheit steckt an. Bazillen verbreiten sich rapide. Leider ist das mit der Gesundheit nicht so. Ansteckende Gesundheit gibt es nicht. Aber ansteckende Barmherzigkeit? Funktioniert das Ansteckungsprinzip bei der Barmherzigkeit vielleicht doch? Ich möchte euch anstiften, das einfach auszuprobieren! Niest einander mal eure Barmherzigkeit ins Gesicht. Oder besser: Strahlt einander eure Barmherzigkeit ins Gesicht. Testet, was dann passiert. Ob sich diese Antikrankheit nicht doch ausbreitet. Versucht es mal mit ansteckender Güte. Und warum nicht am nächsten Sonntag hier berichten, ob es geklappt hat? Wenn Gott redet, spricht er Barmherzigkeit aus. Worte der Gnade. Das könnten wir ihm doch ein wenig nachmachen!

Paulus vertraut seine Gemeinde dem Wort von Gottes Gnade an. Dieses Wort möge sie packen und durchdringen. Dieses Wort soll sein Werk in der Gemeinde tun. Das Wort der Barmherzigkeit ist für jeden Meter des Weges der Gemeinde wichtig, für jeden einzelnen Meter. Aber am Abschied ist es besonders wichtig. Was gäbe es besseres, als zum Schluss sich gegenseitig in Gottes Gnade zu entlassen?

Das Wort der Gnade hat Kraft. Es ist energiegeladen. Welche Kraft ist das? Was bewirkt diese Kraft?
„Und nun vertraue ich euch Gott und dem Wort seiner Gnade an, das die Kraft hat, aufzubauen.“ Gottes Wort baut auf.

3. Gottes Wort baut auf.
Am Anfang dieses Gottesdienstes haben wir gehört und gefeiert, dass Gott uns aufrichtet. Die Armen, die Elenden, jeden von uns, der das braucht. Gott zieht uns hoch, er baut uns auf.
Und wieder nimmt Gottes Wort Teil an Gottes Werk. Auch Gottes Wort baut auf. Paulus verwendet hier ein Wort, das eigentlich Hausbau bedeutet. Gottes Wort baut ein Haus. Es baut uns als Gemeinde auf – wie ein Haus. Gott ist der Konstrukteur und sein Wort ist konstruktiv.

In der Bibel stehen diese beiden Ausdrücke oft zusammen: Gemeinde und aufbauen. Gemeinde lebt geradezu, indem sie sich aufbaut. Und die Sprache der Bibel ist da bemerkenswert. Sie redet wirklich so, dass Gemeinde sich selbst aufbaut durch Gottes Energie. Gemeinde wird nicht aufgebaut, es sind nicht einzelne Menschen, die bauen, und denen stünde eine Gemeinde gegenüber, die von den Wenigen aufgebaut wird. Die Aktiven bauen und die anderen lassen das an sich geschehen – nein, so gerade nicht. Paulus kann an einer Stelle geradezu vom „Selbstaufbau der Gemeinde in Liebe“ sprechen (Eph 4,16).
Jetzt, beim Abschiednehmen, sagt Paulus den Gemeindeältesten Ähnliches. „Ich vertraue euch Gott und dem Wort seiner Gnade an, das die Kraft hat, aufzubauen.“ Oder Gott an, der die Kraft hat aufzubauen. Das ist also zunächst den Verantwortlichen gesagt. Gott baut euch auf, indem er mit euch spricht. Ihr Mitarbeiter, Gott ist an der Architektur eures Lebens gelegen, dass sie stabil und tragfähig ist.
Aber dann geht der Aufbau ja weiter in die Gemeinde hinein. Wie sieht das dann aus? Die Ältesten, die Gott aufgebaut hat, die bauen dann die Gemeinde auf? Vom Sprachgebrauch des Paulus her kommt das nicht in Frage. Sondern die Gemeinde selbst erlebt Aufbau. Wenn Gottes Lebensenergie in ihr wirkt, dann baut sie sich in Gottes Kraft selbst auf (vgl. auch Apg 9,31, LÜ).

Wir müssen in der Gemeinde also die richtigen Fragen stellen. Die richtige Frage ist nicht: „Wer baut uns denn auf?“ Es ist sehr gut, dass es einzelne Verantwortungsträger gibt, die sich reinhängen und konstruktiv, d.h. ja aufbauend sind. Deshalb noch einmal ein dankbares Willkommen hier heute morgen, G. H.! Und was E. G. leistet gerade auch in der Übergangszeit, ist ... ich möchte fast sagen: unersetzlich. Das hat ausdrücklich meine große Wertschätzung und ja nicht nur meine. Aber ... die richtige Frage in der Gemeinde ist trotzdem nicht: „Wer baut uns auf?“ Sondern diese: „Wie bauen wir uns auf?“ Und wie bin ich einzelner daran beteiligt?
Natürlich macht jeder was anderes und auch jeder unterschiedlich viel Viele Betagte haben ihre Beiträge längst früher geleistet und jetzt haben sie nicht mehr die Aufgabe, die Ärmel aufzukrempeln, sondern nur noch die, ansteckende Barmherzigkeit auszustrahlen. Jeder macht verscheiden viel. Aber Gemeinde ist nicht die, die von einzelnen hochgezogen wird. Sondern Gottes Kraft befähigt die Gemeinde, dass sie sich in Liebe selbst auferbaut.

In unserem Alltag gibt finden wir Gebäude, das sich selbst aufbaut. Das müssen schon die Bauarbeiter machen. Aber unser Körper ist ein Beispiel. Der wächst selbst, der baut sich selbst auf. Und zwar hat er ja verschiedene Wachstumsphasen. Nach der Geburt wächst so ungefähr alles, aber die Muskel wachsen schneller als der Rest. Und die Haare! Viele Babys sind glatzköpfig, aber bald wachsen die Haare. Später kommen andere Wachstumsphasen. Die Schädelplatten wachsen zusammen. Das Gehirn verschaltet sich. In der Pubertät bilden sich die Merkmale eines Erwachsenen aus. Und der ganze Körper wächst in die Länge. In vorgerücktem Alter dann wachsen vor allen die Speckringe um den Bauch. Auch diese Wachstumsphase kann länger anhalten. Noch später wachsen die Kalkablagerungen in den Gelenken .... Also: Der Körper baut sich auf, aber nicht alle Zellen wachsen zu jeder Zeit gleichmäßig. Jeder Wachstumsbereich hat seine Zeit und seinen Platz.
Du und deine Gemeinde: An welchem Ort, zu welcher Zeit bist du eine Wachstumszelle? An welcher Stelle macht dein Wachstumsbeitrag die Gemeinde stark? Bist du eher bei den Sinnesorganen dabei oder den Muskeln? Eine Hirnzelle? Schützende Haut? Ein inneres Organ? Irgendwann jedenfalls ist auch deine Zeit gekommen und die Wachstumsphase, die dann dran ist, baut auch auf dir auf.
Ohne Bild gesagt: Die Gemeinde wird nicht von einzelnen gebaut, sondern baut sich in Gottes Kraft selbst auf. Also stellt bitte die richtige Frage. Nicht: Wer baut uns denn jetzt auf? Sondern: Wie bauen wir uns jetzt auf?

Gott und sein Wort haben diese konstruktive Kraft. Aufbau. Und ein Letztes bewirkt Gott noch durch sein Wort und seine Kraft. Paulus fügt diesen Hinweis an.
„Ich vertraue euch Gott und dem Wort seiner Gnade an, das die Kraft hat, das Erbe in der Gemeinschaft der Geheiligten zu verleihen.“
Gott gibt am Ende das große Erbe.

4. Gott gibt am Ende alles.
Das Erbe in der Gemeinschaft der Geheiligten. Da wüsste man gerne, was das ist und wie das aussieht. Paulus gibt keine weiteren Einblicke. Aber eins ist klar: Das Erbe kommt am Ende. Das große Ganze kommt zum Schluss. Und das heißt: jetzt noch nicht. Jetzt ist alles, was wir sehen und glauben, alles was wir tun und versuchen – jetzt ist alles unvollständig. Es kann auch gar nicht anders sein. Denn nicht wir machen alles neu. Gott macht alles neu. Wir leben nicht im Letzten, sondern im Vorletzten. Das ist kein Betriebsunfall in Gottes Heilsgeschichte, sondern das ist gerade sein Plan. Die vorletzte Zeit ist unsere Platzanweisung.
Diese Platzanweisung ist total wichtig für uns. Für unseren Umgang miteinander. Unser Umgang miteinander ist ja sehr davon geprägt, was wir voneinander erwarten. Von meiner Frau erwarte ich lebenslange Treue. Also gehe ich auch entsprechend mit ihr um. Und wäre dementsprechend enttäuscht und verletzt, wenn sie nicht treu wäre. Von meinem Paketboten erwarte ich keine lebenslange Treue. Da darf gern auch mal ein anderer Zusteller kommen. Und ich bin auch nicht enttäuscht und schon gar nicht verletzt, wenn das passiert. Zu einem anderen Boten bin ich dann auch freundlich. – Unser Umgang miteinander ist davon geprägt, was wir voneinander erwarten.
Wir müssen in der Gemeinde das Richtige voneinander erwarten. Und da ist es eben wichtig, dass wir im Vorletzten leben und nicht im Letzten. Das große Ganze kommt erst noch. Wir dürfen es nicht schon jetzt voneinander erwarten. Jetzt werden wir unvollkommen bleiben. Wir machen Fehler aneinander und werden das auch weiterhin tun. Wir werden schuldig aneinander. Wir werden immer wieder etwas versäumen. Wir können einander das letzte Glück nicht geben. Im Leben unserer Gemeinde werden wir immer wieder nur halbe Sachen fertigbekommen, selbst dann, wenn wir mit ganzem Herzen rangehen.
Es wäre verkehrt, dann enttäuscht zu sein. Dann hätten wir zu viel erwartet: Vollendung erwartet, die jetzt noch nicht versprochen ist. Je tiefer wir unsre Platzanweisung begreifen – wir leben im Vorletzten und nicht im Letzten – je tiefer wir das begreifen, desto barmherziger werden wir miteinander sein können. Desto eher werden wir hinnehmen, wenn jemand nicht perfekt ist oder perfekt arbeitet. Je klarer wir unseren Platz hier sehen, desto eher werden wir bereit zum Vergeben sein. Denn in dieser Zeit, bevor das große Ganze von Gott gekommen ist, kommen wir ohne Vergebung nicht aus. Paulus erinnert an das Erbe, das erst noch kommt, gerade in seiner Abschiedssituation. Gerade wenn Wege auseinandergehen, ist Barmherzigkeit und Vergebung lebenswichtig. Dass wir einander zugestehen: Wir sind unvollkommen. Wir haben manchmal nur Halbes zustande gekriegt. Aber wenn dieses Halbe aus aufrichtigem Herzen kam und manchmal sogar aus ganzer Hingabe, dann war dieses Halbe genug. Genug zumindest im Vergleich zur Ewigkeit. Das große Ganze kommt erst noch, und wenn es kommt, dann bestimmt nicht von uns. In diesem Abschiedswort von Paulus an seine Gemeindemitarbeiter von Ephesus ist der Same der Barmherzigkeit gesät.

„Und nun vertraue ich euch Gott und dem Wort seiner Gnade an, das die Kraft hat, aufzubauen und das Erbe in der Gemeinschaft der Geheiligten zu verleihen.“ Vier Dinge haben wir heute über dieses Abschiedwort gehört:
Gottes Wort hat bleibende Kraft. Um die anzuzapfen, muss man es lesen. Und mutig ins Gespräch bringen.
Gottes Wort ist das Wort der Gnade. Gottes Wesen atmet Barmherzigkeit. Das soll ihm einer mal nachmachen! Jawohl, das können wir ihm nachmachen. Der Versuch allein zählt schon. Testen wir es!
Das Wort baut auf. So dass die Gemeinde sich aufbaut. Sich selbst aufbaut, alle sind beteiligt.
Gott gibt am Ende alles. Dann erst. Jetzt bleibt vieles bruchstückhaft. Schenken wir uns doch gegenseitig die Barmherzigkeit, das anzuerkennen.

Paulus nimmt Abschied. Er zeigt uns die beste Weise, Abschied zu nehmen, die es gibt: sich gegenseitig Gott anvertrauen und seinem Wort. Sich gegenseitig in Gottes Barmherzigkeit zu entlassen. Sich auch im Abschied miteinander Gott auszusetzen, wie er mit uns redet. Und was er redet, ist klar angesagt: Worte der Gnade.
Amen.