Bestandsaufnahme: Christus sieht nach seinen Gemeinden
Unter diesem Titel folgt in den nächsten Wochen eine Serie von Bibelgesprächen über die sieben Gemeindebriefe aus Offenbarung 2 und 3.
Gesprächsfragen für eine Gruppe sind grün makriert.
1 Der Herr ergreift das Wort
Text: Offb 1,9-20
Der Prophet Johannes ist an einem einsamen Ort und wird dort vom Heiligen Geist ergriffen. Er begegnet dem Reden Gottes und bekommt danach Botschaften für sieben einzelne Ortsgemeinden in Kleinasien. Diese Botschaften sind eine Bestandsaufnahme der Gemeinde Jesu durch ihren Herrn Jesus. Bevor wir diese einzelnen Botschaften betrachten, machen wir uns klar, wer der ist, der diese Botschaften sagt.
Johannes hört und sieht etwas von Gott. „Etwas von Gott“: Es ist noch nicht sofort klar, wer genau ihm begegnet. Das Bild enthüllt sich erst nach und nach. Erst gegen Ende hin wird der göttliche Sprecher erkennbar.
Die Beschreibung dessen, der Johannes begegnet, ist getränkt von alttestamentlichen Ausdrücken. Aber die Formulierungen werden nicht einfach wiederholt, sondern formen sich zu einem neuen Ganzen.
Die Gestalt, die der Prophet sieht, gleicht zunächst einem Menschen, „einem Menschensohn“ (V. 13). Das ist oft eine Ehrenbezeichnung für Christus. Es kann aber auch – und so ist es hier – einfach bedeuten: wie ein gewöhnlicher Mensch.
Sehen wir uns nacheinander einzelne Züge des prophetischen Vision an:
1.1 Der mitten zwischen den Leuchtern ist
Bevor wir erfahren, wie er aussieht, sehen wir seinen Ort: Der Sprechende ist mitten zwischen den sieben Leuchtern. (V. 12f.). Diese Leuchter sind ein himmlisches Symbol für die Gemeinden (V. 20). Der Herr hat also seinen Ort gewählt mitten in den Gemeinden. Er stellt sich buchstäblich zu ihnen (vgl. auch 2,1). Diese Gemeinden waren damals gefährdet, verfolgt, den Regierungsmächten ausgeliefert und vom Judentum an die Seite gedrängt. Man hätte fürchten können, die Gemeinde Jesu wären nur eine vorübergehende Randerscheinung. Der Herr aber zeigt das ganze Gegenteil: Er macht sie zum Mittelpunkt und hält sich in ihrer Mitte auf.
Auch die Christen selbst hatten Anlass zur Furcht wegen des Drucks. „Sollten sie ihren Anspruch nicht doch zurücknehmen und so ihren Frieden mit Juden und Heiden machen? Gegenüber einer solchen Flucht stellt die Offenbarung grundsätzlich fest: Ihr seid der goldene Leuchter, ihr seid das messianische Volk, ihr seid erwählt, erlöst und zu Priestern Gottes in der Welt gemacht (1,5-6)!“ (A. Pohl).
1.2 Der gegenwärtige Richter
Wenn der Herr beschrieben wird (V. 13-15), blenden sich Bilder aus dem Danielbuch ein (Kap 7 und 10). Die Beschreibungen zeigen Merkmale des Hohenpriesters und des Richters. Die Betonung liegt dabei auf dem Richter. Das zeigen z. B. die weißen Haare. Bei Daniel ist so Gott auf dem Richterthron beschrieben. Besonders auch das scharfe Schwert, das aus seinem Mund kommt, ist Zeichen für das Richterurteil.
Wir müssen nun aber sehen, was für ein Richter es ist – wann er im Laufe der Weltgeschichte sein Amt ergreift. Hier, zu Beginn des Offenbarungsbuches, ist es nicht der endzeitliche Richter der ganzen Welt. Sondern der gegenwärtige Richter seiner Gemeinden! Denen steht er gegenüber. Der Lauf der Welt ist noch längst nicht am Ende. Das Böse in der Welt hat noch großen und bedrohlichen Raum. Das Schwert des Herrn richtet sich noch nicht gegen alles Böse. Wohl aber gegen das Böse in der Gemeinde Jesu. „Das Gericht fängt an am Hause Gottes.“
Es ist schwer zu fassen: Christen sind ja durch Jesus freigekauft. Die Verurteilung ist aufgehoben und nichts kann sie mehr verklagen (siehe Römer 8). Auch muss keiner fürchten, Gott würde eine Strafe verhängen, nachdem Gott ja bereits die allerhärteste Strafe vollstreckt hat: an seinem Sohn am Kreuz, der alle Strafe auf sich gezogen hat.
Und dann soll die Gemeinde Jesu doch wieder vor einem Richter stehen? Wie passt das zusammen?
Blicken wir zurück zum irdischen Jesus. Auch er hat nicht nur begnadigt, sondern gelegentlich ein Richterurteil gefällt: z. B. gegen die Menschen in Judäa (Lk 13,5) oder im Gleichnis gegen den hochmütigen Pharisäer (Lk 18,14). Er hat von der Sünde gegen den Heiligen Geist gesprochen und einzelnen Städten aus Galiläa Gericht angedroht (Mt 11,20-24). Das waren aber nie endgültige Urteile, sondern „Wenn-Urteile“: Wenn jemand so weitermacht, dann wird ihn das Urteil treffen. (Das „Wehe“ über die galiläischen Städte ist keine Festlegung, sondern eine warnende Drohung.)
Ebenso ist es gegenüber den Gemeinde in Offb 2+3: Nie wird gesagt, dass eine Strafe unausweichlich ist. Sondern wenn man nicht umkehrt, dann trifft das Urteil zu. Der gegenwärtige Richter verhängt gegen seine Gemeinden kein Strafgericht, sondern ein Buß-Urteil, ein Warn-Urteil.
Wie könnte eine heutige Gemeinde den richtenden Christus erfahren? Wie könnte er sich ihr heute zeigen? An welchen Beobachtungen (im Gemeindeleben; in der Verkündigung; in äußeren Umständen vielleicht?) könnte sie ihn erkennen?
1.3 Der die Sterne in seiner Hand hält
Der Herr hält sieben Sterne in seiner Hand (V. 16). Was löste dieses Bild in den Menschen damals aus?
Damals erkannte man am Himmel gerne gerade sieben Sterne: Das Siebengestirn, also das Sternzeichen des kleinen oder großen Bären; oder man sah Sonne, Mond und fünf Sterne zusammen.
Auf Münzen wurde nun damals auch der römische Kaiser abgebildet, wie er seine Hand unter die sieben Sterne hält: der Kaiser als Herrscher der Welt. Auch der persische Gott Mithras wurde so abgebildet: mit dem Bärengestirn in der rechten Hand.
Die Vision von Johannes zeigt eine sehr selbstbewusste Gegen-Demonstration: Der Herrscher der Welt ist in Wahrheit unser himmlischer Herr! Denken wir wieder an die angstmachende Bedrohungslage der Gemeinden. Das römische Reich hatte seine Verwaltungen und Beamte überall, besonders auch in den Städten, an die dann die sieben Briefe gehen. Aber das ganze römische Reich und die Welt darüber hinaus ist in der Hand des Herrn!
Das bedeutet nicht einfach nur Geborgenheit. Es ist ja der Richter, der diese Sterne hält. Aber damit ist eben auch der unter dem Gericht, der die Gemeinde Jesu bedroht! Im Bild des Sterne-Halters wird letztlich ein Machtkampf angezeigt. Das Bild sagt nicht: Die Macht des römischen Reiches ist gar nicht so schlimm. Sondern: Sie ist groß, aber angemaßt, denn Herr ist Jesus. Auch hier gilt: Zwischen den kämpfenden Mächten lebt es sich nicht gemütlich-geborgen. Aber die Glaubenden sind hinübergezogen zur mächtigeren Seite.
Im Folgenden wird nun „der Herr“ für den Propheten näher erkennbar: Es ist der, der tot war und auferweckt wurde (V. 18). Nun erst, an dieser Stelle, kann Johannes sicher sein: Jesus Christus ist es, der mit mir spricht. Die Schlussfolgerung daraus ist wiederum tröstlich: Der aus dem Tod auferweckt wurde, hat den Schlüssel zum Totenreich; er kann zu- und aufschließen! Alle macht ist in seiner Hand.
1.4 Leuchter und Sterne – himmlisches und irdisches Bild der Gemeinde
Am Ende der Vision steht ein Doppelbild: Leuchter und Sterne (V. 20).
Das Bild der Leuchter ist recht klar: Jeder Leuchter steht für eine der sieben konkreten Gemeinden. Sie sind ja der Ort, an dem der Herr ist.
Die Sterne sind etwas schwerer zu deuten. Zunächst werden sie mit den jeweiligen „Engeln“ der Gemeinde gleichgesetzt. Wer sind die Engel der Gemeinden? Jeder der sieben Briefe in Kap. 2 und 3 geht ja an den „Engel“ der Gemeinde. Jeder der Briefe zeigt ganz klar: Angeredet ist die ganze Gemeinde. Und zwar die irdische Ortsgemeinde.
Zwar hat man vermutet, „Engel“ könnte einfach „Bote“ bedeuten. Also der Verkündiger der Gemeinde wäre angesprochen. Aber das kann nicht zutreffen weil eben jeweils immer die ganze Gemeinde gelobt oder getadelt wird und zur Umkehr aufgerufen wird. Der einzelne aus der Gemeinde soll jeweils hören, was der Geist „den Gemeinden“ sagt, nicht dem Gemeindeleiter (2,7 und öfter). Die „Du“-Anrede der sieben Briefe zielt sachlich auf das „ihr“ der Gemeinde. So sieht man es z. B. in 3,10 („was du erleiden musst ... –> [nämlich:] –> von euch werden welche ins Gefängnis kommen) oder in 2,5 (wenn du nicht umkehrst, wird der Leuchter [= die irdische Ortsgemeinde] umgestoßen werden). Es ist ja nicht der „Leuchter des Gemeindeleiters“, der zu Fall kommt. Die Auslegung „Engel = Bote = Gemeindeleiter“ muss also ausscheiden. Dies um so mehr, als im Sprachgebrauch der Offenbarung „Engel“ sonst niemals ein menschliches Wesen meint.
Gewichtig ist auch folgende Tatsache: die Gemeinden und die Gemeindelehre des Neuen Testaments kennt vielerlei Amtsträger wie Älteste, Aufseher, Diakone. Niemals aber ist im NT ein einzelner der Gemeinde gegenübergestellt oder vorangestellt. Immer ist es eine kleine Gruppe von Ältesten, Diakonen, Aufsehern. Auch von daher ist es biblisch-theologisch nicht haltbar, einen einzelnen Gemeindeleiter („Bote“) als Alleinverantwortlichen für die Gemeinde zu sehen.
Die Frage von Adolf Pohl kann also klar mit einem Nein beantwortet werden: „Kann wirklich einem Glied der Gemeinde allein alles aufgetragen werden: Verkündigung, diakonischer Dienst, Prüfen der Geister, Buße tun, Gemeindezucht, Treubleiben?“ Das wäre unbiblisch.
Deshalb ist sowohl Stern als auch Engel wohl ein Symbol für die Gemeinde, wie sie sich aus Gottes Welt darstellt. Der Prophet ist ja „vom Geist ergriffen“ (V. 10) und sieht deshalb mehr als nur die irdische Ortsgemeinde; er sieht sie so wie der Herr sie sieht. Dafür steht das Symbol „Engel“. Die Gemeindeengel sind „die himmlischen Doppelgänger bzw. Gegenüber der Sieben Gemeinden, die so also mit den Gemeinden selbst identisch sind.“ (R. H. Charles) „Sie sind die als Engel gedachten Repräsentanten der irdischen Gemeinde.“ (T. Holtz) „Die ‚Engel‘ sind reine Symbolfiguren; wie ja auch die Leuchter in der Christusschau [...] oder wie die Tiere, Gegenstände und Gestalten in anderen Visionen.“ (A. Pohl) Der Engel ist die himmlische Seite der Gemeinde – also gerade nicht der irdische Gemeindeleiter, die kirchliche Autoritätsperson!
Warum dieses Symbol? Wenn man nach der Bedeutung des Gemeindeengels fragt, kann man wie der Ausleger U. B. Müller sagen: „Johannes schreibt an die Gemeinden als ganze, und zwar so, dass er sich an die himmlischen Repräsentanten [= Engel] richtet. Möglicherweise wollte er vermeiden, sich an die faktisch existierenden irdischen Vertreter, den Presbyter oder den Bischof, zu wenden. Diese wird es schon gegeben haben [...]. Johannes wollte diese ignorieren.“
(Biblisch-theologisch richtiger hätte U. B. Müller schreiben müssen: „irdische Vertreter: die Presbyter oder Bischöfe“.)
Beide Bilder, Leuchter und Engel, bedeuten letztlich dasselbe, nur mit anderer Betonung: die ganze Gemeinde.
Bei „Leuchter“ ist betont: die Gemeinde in ihrer Gemeinschaft mit Christus. Ihm ist sie zugewandt. Der bewegt sich ja zwischen den Leuchtern (vgl. auch 2,1). Er sorgt für sie (1,5-6). „Leuchter“ heißt: die Gemeinde, die Jesu Zuspruch erfährt.
Bei „Stern“ ist betont: die Gemeinde, die der Welt zugewandt ist und in der Welt lebt. Im der Welt sollen ja Christen leuchten wie die Sterne (Philipper 2,14; Eph 5,8ff.). Die Sterne sind in Jesu „Hand“ – er „handelt“ also durch sie an der Welt. Das ist die Aufgabe der Gemeinde. „Stern“ heißt: die Gemeinde, die Jesu Anspruch erfährt.
Daraus müssen wir als Gemeinde drei Schlussfolgerungen ziehen.
a) Gemeinde Jesu steht nie nur unter einem Zuspruch. Ebenso nie nur unter einem Anspruch. Sie bekommt nie nur Gaben und nie nur Aufgabe, sondern beides gemeinsam. Auch eine angefochtete Gemeinde braucht wirklich beides. Die Gabe, den Zuspruch, weil viele wunde Stellen und viele Ermüdungen erst wieder heil werden müssen. Aber auch den Anspruch, die Aufgabe, damit der erhöhte Herr wieder neu durch sie handeln kann.
b) Wenn die Botschaft des erhöhten Herrn bewusst nicht durch den „Briefkasten“ der Gemeindeleiter geht, sondern direkt an die ganze Gemeinde, dann heißt das: Vor Christus kann eine Gemeinde sich nicht vertreten lassen, auch nicht durch den Pastor oder den Ältesten. Vor Christus ist die ganze Gemeinde gestellt. Wenn der Herr und der Richter spricht, muss jede und jeder eine eigene Antwort geben.
c) Gemeinde ist durch Christus beschützt und bedroht zugleich. Als Stern / Engel ist sie in seiner Hand – geschützt. Als Leuchter steht sie in der Nähe Christi – und dann auch ihm gegenüber. Der Ausleger B. H. Forck schrieb (1964):
Die sieben Engel hält der Herr fest in seiner Hand. Die Leuchter können umgestoßen werden [siehe 2,5]. Mit anderen Worten: Jesus sorgt dafür, dass seine Gemeinde bestehen bleibt, auch wenn die Einzelgemeinde, weil sie sich trotz aller Warnung dem Wort und Zuspruch Christi nicht beugt, als Gemeinde Jesu Christi untergeht oder aufhört zu existieren. (B. H. Forck)
Was hilft einer angefochtenen Gemeinde, die Jesu Zuspruch braucht, dass sie dabei nicht taub wird für Jesu Anspruch? Wie können wir uns die Ohren weiter offen halten?