Mittwoch, 10. Februar 2010

Bibelstudie "Bestandsaufnahme" 2: Ephesus

2 Der Brief an die Gemeinde Ephesus: Offb 2,1-7
Der erste Brief von Christus geht an die erste Stadt in der Provinz. Ephesus war Haupt-Verwaltungssitz. Hier trat der Prokonsul (Statthalter) sein Amt an. Die religiöse Kaiserverehrung war hier stark ausgeprägt. Auch aus christlicher Sicht war Ephesus wichtig. Paulus schrieb einen grundlegenden „Kirchenbrief“ hierhin, und man nimmt an, das der ein Rundschreiben in die ganze Gegend war. Ephesus wäre demnach aus Paulus’ Sicht das regionale Zentrum gewesen. Auch als Bischof Ignatius 110 n. Chr. Briefe an einzelne Gemeinde schrieb, stand sein Epheser-Brief am Beginn (zumindest ist er in heutigen Textausgaben der erste).

2.1 Wer redet zur Gemeinde – wie zeigt sich Christus?
Am Anfang jedes Briefes stellt Christus sich selber vor. Hier als der Sternenhalter und der, der seinen Ort mitten unter den Leuchtern hat. Wir haben gesehen, dass beides Bilder für die Gemeinden sind (§ 1.4). Die Gemeinde hat den Auftrag (nämlich nach außen zu leuchten) und die Beziehung zu Christus hin (nämlich in seiner Nähe zu sein). Beides ruft Christus in Erinnerung. Beides soll in Balance stehen, die Ausrichtung nach innen und nach außen.

Der Ort von Christus, zwischen den Leuchtern, ist jetzt aber noch etwas genauer angegeben als vorher in 1,13: Jetzt geht Christus zwischen den Leuchtern einher, er „wandelt“ zwischen ihnen. Nach A. Pohl ist das ein Hinweis auf die Urgeschichte in 1Mose 3,8 wo Gott im Paradies „einhergeht“. Zu dieser Urgeschichte wird das Ephesus-Schreiben noch mehr Bezüge zeigen. Wir stoßen später darauf. Jetzt schon ist festzuhalten: Christus stellt sich als der vor, der ursprüngliche, „paradiesische“ Gemeinschaft andeutet.

2.2 Was die Gemeinde gut gemacht hat
Die prophetischen Gemeindebrief haben eine klare Doppelausrichtung: Lob und Tadel. (Ausnahmen: Laodizea, Smyrna, Philadelphia.) Selbst eine nur angeklagte Gemeinde hat doch die Möglichkeit zur Umkehr, also zum Besseren. Das zeigt: Christus fällt nie ein Pauschalurteil. Er schaut immer genau hin und unterscheidet, „differenziert“. Er macht nie kurzen Prozess. Sein Urteil ist ausgewogen, in Balance. Jede heutige Beurteilung einer Gemeinde, die es sich zu einfach macht und nur mit einer knappen Formel auskommt, ist nicht auf dem Niveau Christi.

Gut sind zunächst allgemein die „Werke“ der Epheser. „Werke meinen nicht nur einzelne Taten, auch nicht allgemein Wirksamkeit, sondern überhaupt die Lebensfrucht der Gemeinden. Unter ‚Werken‘ erscheinen z. B. auch der Glaube (2,19), das Harren und Ertragen (2,2), die Schläfrigkeit (3,2) und verschiedene geistliche Verfassungen (3,8.15).“ (Pohl)
Welche gut gelungenen Werke sind hier gemeint?

2.2.1 Ausdauer ohne Erschöpfung
Mühe und Geduld (2,2). Die Gemeinde hat Energie eingesetzt und Ausdauer für die lange Strecke aufgebacht. Später (2,3) wird wiederholt: Geduld, Tragkraft und dabei nicht müde geworden. Der Gemeinde Ephesus ist es gelungen, den Weg zu gehen, auch wenn der „Erfolg“ nicht sofort sichtbar war, wenn sich nicht sogleich gezeigt hat, was es bringt. Sie war nicht nach jedem Handschlag auf ein sofortiges Zuckerstückchen angewiesen.

Christus spricht der Gemeinde zu, dass sie in einer ersten guten Balance ist: zwischen Mühe und Wachheit. Beides wird im Grundtext mit demselben Wortstamm angedeutet: „kópos“. Die Gemeinde hat Mühe, Arbeit, Plage gehabt (kópos), aber ist dabei nicht völlig erschöpft, abgeplagt, abgequält geworden (kopiân). Die Mühe hat nicht zum Zusammenbruch geführt. Die Epheser konnten brennen, ohne auszubrennen. Sie konnten geben, aber nicht so, dass sie irgendwann aufgeben mussten (nach dem Spruch: „Wer immer nur gibt, gibt bald auf“). Bloße Arbeit allein war nicht das einseitige Ideal. Sie waren in Balance.

Du hast einen jungen Christen zum Mittagessen, der gerade zum Leiter des Schülerbibelkreises gewählt worden ist. Du willst ihn ermutigen, ausdauernd zu sein, aber machst dir auch Sorgen, ob er irgendwann erschöpft aufgeben könnte. Was sagst du ihm?

Die zweite gute Balance wird ebenfalls in einem Wortspiel ausgedrückt: Die Gemeinde hatte Tragkraft, sie konnte vieles „ertragen“ (bastázein) (2,3), aber nicht jeden „ertragen“ (wieder bastázein): Böse nämlich nicht.

2.2.2 Abgrenzung von den Lügnern
„Böse“, nämlich üble Menschen, hat man scharf geprüft und sie dann ausgegrenzt. Und zwar waren das wandernde Apostel, die sich zu Unrecht so nannten, die in Wahrheit nicht von Christus gesandt worden waren. Schon Paulus und noch später viele andere Gemeinde mussten sich mit solchen Hochstaplern auseinandersetzen. Die Gemeinde war in der Lage zu beurteilen und zu unterscheiden. Das war Aufgabe und Kompetenz der gesamten Gemeinde, nicht nur der Vorsteher: „du hast geprüft“, dieses „du“ ist die Gemeinde (2,7).
Die Auseinandersetzung liegt weitgehend in der Vergangenheit.

Später (2,6) werden die „Bösen“ noch näher gekennzeichnet: als Sekte der „Nikolaïten“.
Das war eine bestimmte Strömung, die noch anderen Gemeinde zu schaffen machte (Pergamon, vielleicht Thyatira; hier war anders als in Ephesus das Prüfen und Ausgrenzen wohl noch nicht abgeschlossen). Sie bestand nicht aus gelegentlichen Irrtümern oder Halbwahrheiten, sondern es war eine regelrechte „Lehre“ (2,6). Nach 2,14 nahmen sie an heidnischen Opfermahlzeiten teil, die den römischen Göttern gewidmet waren, und lebten zudem sexuell ausschweifend. Als Lehre werden sie verbreitet haben, dass das in Ordnung sei. Damit hatten sie eine spezielle Antwort gefunden auf ein drängendes Problem der Christen: Wie kann ich am öffentlichen Leben teilnehmen, auch wenn dort heidnische Götter gefeiert werden? Antwort der Nikolaïten: Das ist kein Problem.
„Besonderes akut war dieses Problem deshalb, weil der Verzicht auf das Essen von Götzenopferfleisch etwa den Bruch mit der heidnischen Gesellschaft bedeutete, aus der man stammte und mit der man durch Berufsausübung oder Mitgliedschaft in Vereinen immer noch verbunden war. Bei jedem städtischen Fest oder jeder geselligen Vereinsfeier, bei der man Fleisch verzehrte, konnte eine kritische Situation auftreten. [...] Jedenfalls erlaubten die Nikolaiten den Kompromiss zwischen christlicher Lehre und alltäglicher Lebensführung, die einen Bruch mit der heidnischen Umwelt vermied.“ (U. B. Müller)

Für die Nikolaïten war der ständig drohende Gewissenskonflikt nicht zum aushalten. Die Gemeinde in Ephesus dagegen hielt ihn aus („ich kenne dein Ausharren“, sagt Jesus). Aber diejenigen waren nicht zum Aushalten, die den Kompromiss lehrten. Das war die Balance der Epheser. Sie hielten diese Balance durch, denn auch später noch bescheinigt Bischof Ignatius ihnen, sie hätten Wanderprediger mit schlechter Lehre abgewehrt (IgnEph 9,1: „Ich habe gewisse Leute kennen gelernt, die von dort her auf der Durchreise waren, mit einer schlechten Lehre. Sie habt ihr unter sich nicht Aussaat halten lassen, sondern die Ohren verstopft, um das von ihnen Ausgesäte nicht aufnehmen zu müssen.“).

Welchen täglich drohenden Konflikt hast du schon einmal erleben müssen? Z. B. im Beruf? Wie stark hat dich das gequält? Wahrscheinlich hast du bereits selbst gewusst, wo die Linie verläuft, die ein guter Christ „eigentlich“ nicht überschreiten soll. Hast du Unterstützung gefunden, um im Konflikt zu bestehen? Wer oder was hat dir geholfen?

In dieser Abwehrbewegung zeigte die Gemeinde noch eine dritte gute Balance: Sie grenzten die Personen aus, die Lügen und Falsches verbreiteten (2,2). Aber sie hassen diese Menschen nicht. Gehasst werden vielmehr ihre „Werke“ (2,6)! Eine Balance, die Jesus selbst immer einhielt: die Sünde hassen und die Sünder lieben. Wer in seiner Gemeinde Menschen sieht, deren Einfluss er höchst bedenklich findet, der achte darauf, diese Menschen dennoch zu lieben. (Ein bewährtes Handwerkszeug dafür ist das Gebet: Für wen ich bete, den kann ich nur noch schlecht hassen.)

All diese Balancen sind wichtig und es ist bewundernswert, wie diese Gemeinde das Gleichgewicht zu wahren schaffte. Aber eine noch wichtigere, eine ganz übergeordnete Balance haben sie nicht gewahrt: Hier sind sie abgekippt.

2.3 Was der Gemeinde nicht gelungen ist
Sie haben ihre erste Liebe verlassen. Damit ist die Liebe gemeint, die sie von Gott empfangen haben.

Exkurs: Die erste Liebe als Liebe Gottes
Diese erste Liebe ist nicht die vorbildlich glühende Nächstenliebe der ersten Stunde, sondern die Liebe Gottes zu ihnen. Das wird klar, wenn wir die „Hintergrundkulisse“ des Epheser-Schreibens erkennen. Diese Kulisse ist die Urgeschichte vom Sündenfall in 1Mose 3. Sie klang schon in der Selbstvorstellung Christi an. A. Pohl hat gezeigt, dass das Epheser-Schreiben „fast Vers für Vers in verborgener Beziehung zu jenen Kapiteln aus dem AT steht“. Und zwar gibt es einige deutliche Verknüpfungen und einige weitere verborgene Anspielungen.
(Zum Vergrößern der Grafik sie einfach anklicken.)

Christus verspricht am Ende, den paradiesischen Zustand wiederzuschenken. Wer siegreich ist, wird neu erleben, wie ungebrochen das Verhältnis zu Gott ist, als er im Paradies sich frei unter den Menschen bewegte. Das schreiben ist umklammert von deutlichen Hinweisen auf diesen ungetrübten Urzustand, die enge Gemeinschaft mit Gott. Das macht es wahrscheinlich, dass mit der „ersten Liebe“ die Liebe Gottes gemeint ist.

Der Vorwurf von Christus zeichnet ein erschütterndes, ein dramatisches Bild der Gemeinde: Sie macht alles richtig. Sie kann zwischen Gut und Böse unterscheiden. Sie trennt sich von Lügnern und Irrlehrern. Sie kann sich rein erhalten. Sie schließt keine Kompromisse mit der heidnischen Umwelt. Ihre Lehre ist korrekt. Aber sie erfährt Gottes Liebe nicht mehr! Sie hat sich abgeschnitten vom Lebensstrom. Alles Richtige, Korrekte, Geprüfte, Reine kann daher nur lieblos, frostig oder sogar eiskalt sein. Sie „hasst die Werke“ der Lügner – aber kann sie wie Christus die Sünder auch lieben, wenn sie selbst aus der Liebe Gottes herausgefallen ist?

Der Mangel an Liebeserfahrung wiegt so schwer, dass die ganze Existenz der Gemeinde auf dem Spiel steht! Christus droht, ihren Leuchter fortzurücken, d.h. die Gemeinde aus seiner Nähe auszustoßen. Eine Gemeinde, die viel Mühe ertragen konnte, die aber die Lügner nicht ertragen konnte, eine Gemeinde, die also alles richtig machte, aber ohne Liebe – die kann Christus nicht ertragen. Die wird er erlöschen lassen.
Im Gemeindelied „Herr Jesus, Grundstein der Gemeinde“ (Karl Eisele, 1939) heißt es: „Die Kirche steht auf dir allein und wird drum unzerstörbar sein.“ Allerdings: „Die“ Kirche kann niemand zerstören, die weltweite Gemeinde Jesu. Aber weil die Ortsgemeinde Ephesus die erste Liebe verlassen hatte, also den lebendigen Christuskontakt, konnte sie nicht mehr guten Gewissens sagen: „Wir stehen auf dir allein.“ Es wäre ein Lippenbekenntnis gewesen, innerlich ausgehöhlt, weil Gottesliebe abwesend war. Weiter im Liedtext: „Wohl mögen Stürme drübergehn, es wird dies alles überstehn.“ In der Tat: Durch noch so starke Stürme von außen, „drüber“, kann eine Gemeinde nicht weggefegt werden. Aber wenn sie von innen her leer ist, wo Liebe sein sollte, dann kann sie wohl weggefegt werden: von ihrem Herrn selbst, der den Leuchter wegrückt. Das Lied vom Grundstein der Gemeinde zu singen, darf kein Anlass zu falscher Selbstsicherheit oder Selbstgerechtigkeit sein.

Die Existenz der Gemeinde ist hier also nicht gefährdet durch Irrlehre oder Kompromisse. (Auch das kann tödlich bedrohlich sein.) Die Existenz der Gemeinde ist gefährdet, weil sie nicht mehr in der Liebe lebt.

2.4 Die Rettung
Christus zeigt dreifach die Rettung der von innen her ausgehöhlten Gemeinde: Erinnerung, Umkehr, Rückkehr.

Erinnerung: Die Gemeinde soll nicht einfach analysieren, was momentan falsch ist. Sondern sich besinnen, aus welcher Grunderfahrung sie kommt. Das war eine Grunderfahrung auf einer großen Höhe gewesen. Von dort ist sie gefallen: „Bedenke, aus welcher Höhe du gefallen bist.“ (2,5)
„Damals, als die Gemeinde durch die großen Schöpfungstaten Gottes in Jesus Christus ins Leben trat, geboren aus der gekreuzigten und auferstandenen Liebe und erweckt zur Widerliebe [...] – das war ‚Paradies‘.“ (Pohl)
Diese ursprüngliche Höhe ist – wohlgemerkt – nicht die Zeit des großen Engagements, des begeisternden Gemeindewachstums, der starken Verbundenheit: „Was für eine Aufbruchsstimmung damals: wir gehörten zusammen wie eine Familie und jeder packte freiwillig mit an.“ Nein, der Ursprung war nicht die Aktion, sondern die Erfahrung von Gottes Gegenwart und seiner Liebe.

Welche Erinnerungen an Gottes Gegenwart und seine Liebe von früher haben wir noch? Wo hatte sich Gott als der Lebendige gezeigt? Was hat dich damals am meisten berührt oder begeistert?
Was fällt uns eher ein, wenn wir an den Anfang unserer Gemeinde denken: Die Aktionen: Die praktizierte Gemeinschaft? Oder die Begegnungen mit Gott? Woran liegt es, wenn uns eher die Aktionen und die menschliche Verbindung einfällt?

Umkehr: dazu kann gelegentlich erst mal ein „heiliges Erschrecken“ gehören. An Laodizea heißt es: „Eifere!“ – „Empöre dich, kehre um!“ (3,19, Zürcher Übersetzung). Jakobus ruft so zur Umkehr: „Naht euch Gott, und er wird sich euch nahen! Reinigt eure Hände, ihr Sünder, und läutert eure Herzen, ihr Zweifler! Wehklagt nur und trauert und weint! Euer Lachen verwandle sich in Klage und eure Freude in Kummer! Erniedrigt euch vor dem Herrn, und er wird euch erhöhen.“ (Jak 4,8-10) Manchmal kommt vor der Umkehr Klage. Mancher Patient muss erst über eine Diagnose erschrecken, bevor er bereit wird zur Behandlung und bereit wird, gesünder zu leben.

Rückkehr: die ursprüngliche Werke tun. „Werke“ ist das Gesamtverhalten, die gemeindliche Verfassung (s.o.). Auf dem Hintergrund von 1Mose 3 also die ursprünglich von Gott gemeinte Gemeinschaft. „Tue die ersten Werke, d. h. setze dich Gottes Gegenwart aus. Suche den Ort, wo du ihn erfährst, und versteck dich nicht. Lass dich lieben.“

2.5 Das Versprechen
„Wer den Sieg erringt“ – das kann auch eine Gemeinde, die von so großer Höhe gefallen ist und aus der wichtigsten Balance gekippt ist. Den Sieg erringen kann sogar noch die Gemeinde, die nur noch getadelt wird. Diese Aussicht darf den Blick für die Gefahr nicht trüben. Es besteht wohl die Gefahr, dass der Leuchter umgestoßen wird! Aber das ist nicht zwangsläufig! „Jede Gemeinde bekommt also einen Siegerspruch und kann siegen. Das ist Paragraph 1 der christlichen Seelsorge. Für jeden gibt es Zuversicht. Jeder kann ‚weit überwinden durch den, der uns geliebt hat‘ (Röm 8,37).“ (Pohl)

Christus wird der Gemeinde Ephesus vom Baum des Lebens zu essen geben. (Es erfüllt sich eine Sehnsucht, die frühjüdische Schriften im Blick auf den Messi-as hatten: „Er selber macht des Paradieses Tore auf, entfernt das Schwert, das gegen Adam drohte, und gibt den Heiligen vom Lebensbaum zu essen; dann ruht der Geist der Heiligkeit auf ihnen.“ [Testament Levis 18,10f.])

Was die ersten Menschen sich nehmen wollten und daran das Paradies verloren, das wird Christus nun einfach geben. Eine Gemeinde, die nicht selbst für ihr Durchkommen sorgt und sich nicht selbst alles nimmt, was sie zum Leben zu brauchen meint, die wird das Leben gerade empfangen – mehr als sie sich je hätte selbst verschaffen können.