5 Der Brief an die Gemeinde in Thyatira: 2,18-29
„Der längste und schwierigste der sieben Briefe geht in die Stadt, die am wenigsten bekannt, am unwichtigsten und unauffälligsten war.“ (C. J. Hemer)
Thyatira war am Kreuzungspunkt zweier wichtiger Handelsstraßen gelegen. Die Bedeutung der Stadt lag nicht in der politischen oder religiösen Stellung, sondern im Gewerbe. Durch Inschriften sind viele Berufsgruppen nachweisbar, die zu Zünften oder Gilden zusammengeschlossen waren: Woll- und Leinenproduzenten, Schneider, Färber, Gerber, Kupferschmiede. Aus Apg 16 kennen wir eine Purpur-Produzentin namens Lydia, die eben aus dieser Stadt kam.
Diese Berufsgenossenschaften hatten immer dann etwas mit römischer Religion zu tun, wenn sie zu Treffen zusammenkamen, z. B. in Tempelrestaurants. Dann wurden bei den Mahlzeiten die Götter angerufen. Der Gott Tyrimnos war sowohl Schutzpatron der Berufsgenossenschaften als auch der ganzen Stadt Thyatira.
5.1 Wer redet zur Gemeinde – wie zeigt sich Christus?
Christus stellt sich hier mit dem höchsten denkbaren Titel vor: Sohn Gottes. Damit bekommt der Brief sofort eine thematische Klammer: Am Ende zitiert der erhöhte Herr aus Psalm 2 – aus eben dem Psalm, wo der Gesalbte als Sohn Gottes bezeichnet wird.
Die weitere Beschreibung (Augen wie Feuer, Füße wie Gold- oder Kupfererz) ist aus dem Danielbuch entlehnt und will zeigen, dass Christus als Richter auftritt. Zumindest die Kupferschmiede er Stadt hatten eine plastische Vorstellung von diesem Bild.
5.2 Was der Gemeinde gut gelungen war
Das Lob für diese Gemeinde ist bemerkenswert ausführlich. Die „Werke“ werden vierfach beschrieben: Liebe, Glauben, Dienen, Ausharren. Vielleicht sind die Werke nach dem Muster a-b-a-b angeordnet: Aus der Liebe folgte der Dienst und aus dem Glauben die standhafte Geduld.
Diese Gemeinde war im Blick auf ihre innere Substanz eine wachsende Gemeinde: ihre „Werke“ waren nun zahlreicher als zu Beginn. Damit ist sie das Gegenbild zur Gemeinde Ephesus, die stark nachgelassen hatte (2,4+5).
5.3 Was in der Gemeinde schief lief
Der Gemeinde war vorzuwerfen, dass sie unwidersprochen freie Bahn ließ für eine Frau, die beanspruchte, Prophetin zu sein. Urchristliche Propheten wirkten damals in so gut wie jeder Gemeinde; dieser Dienste gehörte zur Grundausstattung. Wenn nun eine Falschlehrerin gerade als Prophetin wirkte, dann heißt das: sie tat das aus der Mitte der Gemeinde heraus. Der erhöhte Herr bestreitet ihr zwar den Anspruch auf echte Prophetie – aber in der Gemeinde Thyatira zweifelten offenbar viele nicht an ihrem Wort.
Sie wird mit der atl. Königin Isebel verglichen: „Diese Frau – eine Isebel“. Die Irrlehre dieser Frau ist uns schon zuvor begegnet in Ephesus und Pergamon. Doch hier in Thyatira hat sich die Lage verschärft:
> In Ephesus wurden die Falschlehrer ausgegrenzt – hier bekamen sie Raum.
>Im Pergamon wurden die Irrlehrer nach Bileam benannt, einem Ausländer. Hier wurden sie benannt nach einer Frau aus dem Königshaus Israels – eben ein Zeichen, dass sie aus der Mitte der Gemeinde wirkte
> Hier in Thyatira ist die Reihenfolge der falschen Lehren verschärfend umgekehrt im Vergleich zu Pergamon: hier kommt unverblümt die Nutzung der Prostitution vor dem Götzendienst.
> In Pergamon hatte sich bei einigen das Falsche zu einer Lehre verdichtet (2,15); hier ist diese Lehre fest installiert.
> In Thyatira waren die treuen Glaubenden womöglich schon in der Minderheit.
Inhaltlich ist die Lehre dieser Frau nichts Neues. Sie lehrte den möglichen Kompromiss für Mitglieder der Berufsgenossenschaften: Man dürfe ruhig an Banketten teilnehmen und dabei alle Begleitumstände mitnehmen: Prostitution und den Götzen gewidmete Gänge der Mahlzeit. „Sich abseits von diesen Klubs zu halten brandmarkte den Betreffenden als Außenseiter, als Feind der bestehenden Gesellschaft.“ (Ramsay). Das wollte man vermeiden.
Hier erfahren wir zusätzlich, wie die Falschlehrer diesen Weg nannten: „die Tiefen des Satans ergründen“ (2,24). Der Ausdruck ist nicht ganz klar. In späteren Zeiten gab es Geistesströmungen, die meinten: Zur echten Reife gehört, dass man auch das Böse, das Teuflische durchprobiert hat und als Erfahrener daraus hervorgegangen ist. Wenn diese Haltung schon für diese Gemeinde zutrifft, dann hätte Isebel und ihr Gefolge eingeräumt: ‚Ja, wir bekommen Kontakt mit Satanischem bei den Banketten. Aber das gehört dazu und lässt uns reifen.‘
Wohlgemerkt: all das geschah in einer Gemeinde, die liebte und glaubte und (einander und anderen) diente und Geduld zeigte (2,19) – die sich also jederzeit ein glänzendes Zeugnis ausstellen konnte!
Heutige fromme Gemeinden können sich schnell vom Vorwurf der geduldeten Prostitution und des Götzendienstes freisprechen. Unsere Gefahr, uns anzupassen, liegt woanders:
>> Vielleicht im angepassten materialistischen Lebensstil. Im Eintauchen ins Konsumdenken, das zu Lasten der Armen der Welt geht.
5.4 Die Reaktion von Christus
Christus reagiert „differenziert“, d.h. jeweils abgemessen für unterschiedliche Personengruppen.
5.4.1 Gegenüber der vermeintlichen Prophetin
Christus hatte dieser Frau Zeit zur Umkehr gegeben, aber eine befristete Zeit. Diese Zeit ist nun abgelaufen. Er „wirft sie aufs Bett“ – er verwandelt den Ort der Sünde in den Ort des Unglücks, das Hurenbett ins Krankenbett. Für diese Frau ist die Zeit abgelaufen.
Wir leben heute mit dem Wissen, dass Gottes Geschichte jahrtausendelang gelaufen ist. Wir wissen, dass Menschen heute immer wieder das Angebot der Gnade bekommen. Der Gedanke ist uns fremd, dass schon innerhalb dieser Zeit (lange vor dem Letzten Gericht) für einzelne die Zeit der Umkehr abgelaufen sein kann.
Wie könnte jemand merken, dass er nicht mehr viel Zeit zum Umkehren hat – was wären für ihn Erkennungszeichen?
Wiederholte Predigt der Umkehr kann die Hörenden stumpf machen. Aber wenn die Gefahr droht, die Zeit zu verpassen? Wie schützen wir uns davor, stumpf oder immun zu werden?
5.4.2 Gegenüber den Anhängern, den Verführten
Die Anhänger der Prophetin haben noch Zeit zur Umkehr, aber sie müssen nun auch umkehren (2,22), denn sicher ist diese Zeit auch bei ihnen befristet. Andernfalls bringt Christus sie in Bedrängnis – in gerade den Zustand, den sie durch ihren ethischen Kompromiss vermeiden wollten (Bedrängnis durch die Gesellschaft). Eine Spielart der „Bedrängnis“ wird noch konkret genannt: sie werden „mit dem Tod geschlagen“; ein alter biblischer Ausdruck für Pest (vgl. Ez 14,21; 33,27; 2Sam 12,14 in der griechischen Übersetzung des AT). Ihnen droht also schwerste Krankheit.
Straft Gott auch heute noch, z. B. durch Krankheit?
In der Gemeinde Korinth stellt Paulus fest: Wegen der Missachtung der Armen beim Abendmahl sind schon viele in der Gemeinde krank und einige schon gestorben (1Kor 11,30). Diese Situation ist anders als die in Thyatira:
>> In Korinth sind die Kranken nicht notwendig dieselben, die sich falsch verhalten haben. Sondern weil in der Gemeinde welche falsch lebten, sind in der Gemeinde einige krank.
>> Diese Fälle in Korinth sind nicht Strafe für versäumte Umkehr, sondern Warnung, damit man erst recht umkehrt.
Die „Bedrängnis“ für die Sünder müsste noch notwendig der Untergang sein. Und wenn der Ausdruck „töten“ in 2,23 in biblischer Sprache bedeutet: „mit schwerster Krankheit schlagen“, dann wäre auch in Thyatira noch Raum zur Umkehr. Dann würde der Satz von Paulus an die Korinther auch hier gelten: „Wenn wir uns selber das Urteil sprechen würden, so würden wir nicht [von Gott] verurteilt.“ (1Kor 11,31)
Ist es bei uns denkbar, dass harte Schicksalsschläge einzelne oder eine ganze Gemeinde zur Umkehr antreibt? Kam das schon mal vor?
5.4.3 Gegenüber allen Gemeinden
Alle Gemeinde, über Thyatira hinaus, werden an Christi Reaktion erkennen, dass Christus eben (auch) der Richter ist. (2,23) Was in dieser einen Gemeinde passiert, kann auch anderswo passieren, wenn jemand die gesetzte Frist zur Umkehr verstreichen lässt.
5.4.4 Gegenüber den (wenigen) Treuen
Denen, die sich nicht verführen ließen, gibt Christus keine neuen Gebote („Last“), sondern eben nur die bereits bekannten: nicht fremdgehen und sich nicht mit Prostituierten einlassen; keine Speisen essen und Mahlzeiten mitmachen, die den Götzen gewidmet sind. Diese „Lasten“ waren in allen Gemeinden längst bekannt (Apg 15,28-19).
5.5 Die Versprechen
In der Abschluss-„Formel“ dieses Briefes wird eine doppelte Bedingung genannt, damit Jesu Versprechen sich erfüllt: Man muss siegen und auch an den werken Christi festhalten.
Versprochen wird dann „Macht über die Völker“. Die bedrängte Gemeinde wird also nicht ewig in der Minderheit bleiben. Die Bedränger werden entmachtet werden. Die Gemeinde soll also keine Angst haben vor einer Gesellschaft, in der sie untergehen würden, wenn sie kompromisslos wären – sie gehen nicht unter!
Die Macht der jetzt Bedrängten wird formuliert mit einem Zitat aus Ps. 2. „Der standhafte Gläubige wird Funktionen übernehmen, die an anderen Stellen nur von Christus ausgesagt werden (Offb 12,5; 19,15).“ (U. B. Müller) Schon im Brief an Pergamon war zu sehen, dass Christus einem treuen Zeugen denselben Ehrennamen gibt, der eigentlich ihm, Christus, gehört.
Das Herrschen der Standhaften bedeutet nicht sofort die Vernichtung der Gegner. So klingt war die Formulierung vom „Zerschlagen wir Geschirr“. Im Hintergrund steht aber das Bild ägyptischer Krönungsrituale: Der König zerschlägt symbolisch Geschirr als Machtdemonstration über fremde Völker. Die Vernichtung wird mit dieser Geste also angekündigt, nicht schon real vollzogen. Das Ziel ist die Entmachtung der Feinde, nicht deren Auslöschung.
Die Standhaften bekommen außerdem „den Morgenstern“: Ist das Christus (wie in Offb 22,16)? Aber sollte Christus sich hier selbst in die hand der Standhaften geben – Christus, der doch die sieben Sterne in seiner Hand hält? Vielleicht ist es Bild für die Überwindung der feindlichen Macht.
>> Im 4. Mosebuch kündigt Bileam einen „aufgehenden Stern aus Jakob“ an (24,17). Der wird mit einem Zepter (= Herrscherstab) gleichgesetzt und die Gegner zerschmettern (wie in Ps 2!). Hier ist es zwar nicht der 2Morgenstern“ – aber die Symbolsprache ist ansonsten ähnlich.
>> In Jesaja 14 wird geschildert , wie derFeind des Volkes Gottes (der „König von Babel“) zunächst Gottes Volk mit einem Herrscherstab und -stock schlug (vgl. Ps 2), dann aber zu Fall gebracht wird. Der fallende Herrscher wird dann mit dem Morgenstern verglichen (14,12). Das Ziel dieser Entmachtung: „Sie [das Volk Gottes] werden herrschen über ihre Bedränger“ (14,2).
Von diesem Hintergrund her scheint es: Wenn die Überwinder den „Morgenstern“ bekommen, dann also nichts anderes als die Gabe von Ps 2: Entmachtung der Feindmächte. Fazit: Keine Angst!